Efeu - Die Kulturrundschau

Die Magie der Paste bleibt behauptet

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15.05.2015. Cannes beginnt! Emmanuelle Bercots Eröffnungsfilm überzeugt die Kritiker lediglich als Debattenbeitrag zur Rolle von Frauen im Festival. Die SZ besichtigt chinesische Kunst in acht Ruhrgebietsstädten. Die Berliner Zeitung diagnostiziert dem Berliner Theatertreffen Überlebensgefahr. Angesichts des Romans "Venus siegt" sorgt sich der Freitag um Dietmar Daths rapide schrumpfende Zielgruppe. Die Antilopen Gang berichtet in der taz von ihren Erfahrungen mit dem Aluhut-Milieu. Und B. B. King ist gestorben.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.05.2015 finden Sie hier

Film



Los geht"s in Cannes. Von einem ersten Highlight weiß Cristina Nord zu berichten: Bei Philippe Garrels in der Quinzaine gezeigtem "L"Ombre Des Femmes" (siehe auch critic.de) gerät die taz-Filmkritikerin ins Seufzen angesichts von Momenten, in denen "zwei Zeitebenen zugleich im Spiel [sind]: die der Gegenwart, des Schmerzes, und die einer noch nicht eingetretenen Zukunft, in der man mit Gelassenheit auf den Schmerz vergangener Tage blicken wird." Emmanuelle Bercots als betont unglamouröser Festivaleinstieg positionierter Eröffnungsfilm "La Tête Haute" mit Catherine Deneuve in der Rolle einer Sozialarbeiterin, die sich an einem jugendlichen Delinquenten die Zähne ausbeißt, ist ihr allerdings nur wenige Zeilen wert, da dieser keine "Scheu vor dem Niveau eines mäßigen Fernsehspiels" zeige. Charlie Hebdo würdigt die Deneuve mit einem wenig schmeichelhaften Titelblatt (Verdächtiges Paket an der Croisette! - "Fehlalarm! Es ist Catherine Deneuve!")

Frédéric Jaeger (critic.de) hält den Eröffnungsfilm für "kaum greifbar", auch wenn sich dessen offene Form immerhin als "Angebot" deuten lassen könnte. Enttäuschung auch bei Joachim Kurz (kino-zeit.de): Der hätte sich den Film lieber gleich von den Brüdern Dardenne inszeniert gewünscht, die auf ähnliche Stoffe abonniert sind. Auch Daniel Kothenschulte (FR) hält den Film für "formelhaft" den Dardennes nachgeeifert. Wenke Husmann (ZeitOnline) feiert immerhin den 13-jährigen Rod Paradot als "Entdeckung". "Grundgut gemeint", aber eben doch "lau" sei dieser Einstieg ins Festival gewesen, beschwert sich auch Jan-Schulz Ojala im Tagesspiegel, der sich gar nicht vorstellen kann, wie dieser Film auf diese prominente Position im Festival geraten ist. Oder handelt es sich am Ende um eine Finte von Festivalchef Thierry Frémaux, der sich "mit einem französischen Regisseurinnenfilm die französischen Regisseurinnenklagen über zu wenige (französische) Regisseurinnenfilme ein für alle mal vom Leib halten" will? Hanns-Georg Rodek hat in der Welt indes eine andere Theorie: "Cannes wäre nicht Cannes, hätte nicht auch ein Sponsor seine gepflegten Hände im Spiel. Dem Luxusgüterkonzern Kering gehören Gucci, Saint Laurent, Brioni, Stella McCartney und Puma (um nur einige zu nennen), der Vorstandsvorsitzende heißt François Henri Pinault und die Frau des Vorstandsvorsitzenden Salma Hayek. Und der neueste Film mit Salma Hayek läuft im Wettbewerb. So läuft Frauenförderung!"

Dabei bezieht er sich auf Matteo Garrones prächtig-effektreiche Märchenverfilmung "Tale of Tales", die vom Regisseur des harten Mafiafilms "Gomorrah" (unsere Kritik) nicht zu erwarten stand und ebenfalls viel diskutiert wird. Gedreht auf Englisch und mit besonders viel italienischem Filmförder-Geld auf dem Konto, ist dabei "eine Art "Game of Thrones" für die ganz Perversen" herausgekommen, stöhnt David Steinitz in der SZ, der sich auch darüber mokiert, dass "Salma Hayek in diesem italienischen Film eine Märchenkönigin [spielt], die Englisch mit mexikanischem Akzent spricht - schöner kann man die Globalisierung der Filmindustrie gar nicht auf den Punkt bringen." Ein Punkt, den auch Daniel Kasman (Notebook), der mit diesem Film das Ende der Glanzzeiten des Kinos als Märchenillustrationsmaschine gekommen sieht, aufgreift, da eine ganze Reihe europäischer und asiatischer Festivalbeiträge in diesem Jahr auf Englisch gedreht sind: "If only this signaled something akin to the exodus of directors to Hollywood in the 1920s and "30s, coaxed with promises of studio resources. Based on "Tale of Tales" (...) it"s less about jumping ship to America and more about a reverse courtship, international filmmakers culling foreign talent to broaden their own reach around the world." Trotz "pompöser und fantastischer Farben" verlor Beatrice Behn (kino-zeit.de) rasch jegliches Interesse an dem Film. Lukas Stern (critic.de) hält den Film, seiner Künstlichkeit zum Trotz, für "im Herzen kunstfeindlich". Verena Lueken von der FAZ berichtet unterdessen von den bukolisch prallen Freuden, die dieser Film biete.

Ferner liefen an der Croisette Hirokazu Kore-Edas "Umimachi Diary" (kino-zeit.de, critic.de, ZeitOnline) und Naomi Kawases "An", der Till Kadritzke von critic.de den schönsten Satz der ganzen heutigen Festivalberichterstattung schreiben lässt: "Die Magie der Paste bleibt behauptet." Und Filmkritikerin Katrin Doerksen bringt auf ihrem Tumblr fotografische Eindrücke.

Außerdem: Vor dem großen "Mad Men"-Finale am Sonntag rät Matt Zoller Seitz auf Vulture allen, sich nochmals die allererste Episode der 60s-Serie anzusehen. Denn: "Almost every recent, climactic development was in some sense predicted there, as was every significant plot point throughout all seven seasons, for every major character." Im Freitag erinnert sich Rudolf Walther an die Genese des Italowesterns vor 50 Jahren. Der SWR hat ein ausführliches Gespräch mit Marcel Ophüls geführt. Besprochen werden außerdem George Millers neuer "Mad Max"-Film (NZZ, FR, critic.de, Artechock, kino-zeit.de, Standard, Kurier), Anja Marquardts in den USA produzierter Debütfilm "She"s Lost Control" ("Es geschieht der deutschen Filmwelt recht, dass sie sich mit diesem Meisterwerk nicht schmücken kann", findet Daniel Kothenschulte in der FR), Susanne Biers "Die zweite Chance" (Welt) und die Nicholas-Sparks-Verfilmung "Kein Ort ohne Dich" (Freitag).
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Kunst

"Wer nach Systemkritischem sucht, wird hier nicht enttäuscht sein", meint Tim Neshitov (SZ) nach der großen, in acht Ruhrgebietsstädten ausgerichteten Ausstellung "China 8", die Werke von 120 chinesischen Künstlern präsentiert. Problematisch findet er die Ausstellung höchstens ihres Umfangs wegen, meint er: "So viel sehenswerte Kunst gibt es auch in China nicht. Diese Ausstellung zeigt denn auch viel fröhlichen Quatsch und viel schwierige Selbstsuche. Walter Smerling betont, er hege keinen enzyklopädischen Anspruch, er wolle den individuellen Blick der Kuratoren auf Chinas Gegenwartskunst präsentieren. Diesem Blick fehlt aber jeglicher Fokus."

Der armenische Pavillon wurde mit dem Goldenen Löwen der Biennale in Venedig ausgezeichnet: Der türkische Genozid an den Armeniern bilde dessen thematischen Schwerpunkt, berichtet Clemens Bomsdorf auf ZeitOnline, doch "die Künstler schlagen einen versöhnlichen Ton an". Für den Freitag durchschreitet Sarah Alberti den Deutschen Pavillon auf der Biennale. In der SZ berichtet Peter Richter von der ersten Ausgabe des neuen Kunstfestivals Soluna in Dallas.
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Musik

Christian Jakob (taz) befragt die Antilopen Gang, die sich mit ihrem Song "Beate Zschäpe hört U2" eindeutig gegen "Verschwörungsheinis" und Querfront-Strategen positioniert, nach ihren Shitstorm-Erfahrungen aus dem Aluhut-Milieu: "Das sind Leute, die sich für wissend halten, aber nicht tiefer in die Materie eindringen. Die kriegen simple Lösungsansätze von jemandem wie Jebsen und fühlen sich kritisch. Wenn wir dann sagen, das ist eine konformistische Rebellion, da fühlen sich die Leute auf den Schlips getreten." Hier noch einmal das sehr sehenswerte Video:



In einem Skug-Essay erdenkt sich Frank Jödicke das "heute noch mögliche Glück" aus den Schiebern und Reglern und deren Einfluss auf die elektronische Musik, wie er von Karlheinz Stockhausen in die Welt gesetzt wurde: Dieser "suchte einen letztlich sogar transzendenten, gnostischen Weg der Lebenssteigerung mittels und durch den Apparat. Die Kunst sollte sich nicht der maschinenhaften Umgestaltung der Welt entgegenstellen und nach leise säuselnden Fluchten suchen, sondern mitten hinein in den Lärm der Apparate. Denn dieser war gestaltbar, komponierbar, mithin in einem friedlichen ästhetischen Sinn beherrschbar."

Weiteres: Auch nach dem NSA-Skandal liebt die Laptop-Musikerin Holly Herndon ihren Rechner inniglich, gesteht sie tazler Tim Caspar Boehme, der außerdem die israelische, in Berlin lebende Technoproduzentin Magit Cacoon porträtiert. Auf ZeitOnline stellt Katharina Pfannkuch das muslimische Frauen-HipHop-Duo Poetic Pilgrimage vor. Martin Niewendick vom Tagesspiegel trifft sich mit den HipHoppern Audio88 und Yassin. Auf Electronic Beats bietet Michael Aniser einen Überblick über die zehn wichtigsten deutschen Kassettenlabels. Für The Quietus spricht Emily Schofield mit dem ukrainischen Pianisten und Komponisten Lubomyr Melnyk.

Besprochen werden das neue Album von Prurient ("He"s bigger than Noise", schwärmt Andy O"Connor auf Pitchfork), eine historische Aufarbeitung der Neuen Deutschen Welle (CulturMag), der Berliner Auftritt des Pianisten Marc-André Hamelin (Tagesspiegel), Fort Romeaus Album "Insides" (taz), das neue Album von Hot Chip (Tagesspiegel), das Berliner Mudhoney-Konzert (Berliner Zeitung, Tagesspiegel), das neue Album von Evvol (Spex), Paul Wellers "Saturn"s Pattern" (Spex), diverse Neuerscheinungen aus der Americana-Szene (NZZ) und die ersten Konzerte von Herbert Grönemeyers Tour (Berliner Zeitung, Tagesspiegel, Welt, FAZ).

Und: Der Tages-Anzeiger meldet, dass B. B. King gestorben ist. Hier sehen wir ihn nochmal mit seinem Hit "The Thrill is Gone" im Duett mit der bereits 2011 verstorbenen Blueslegende Gary Moore:

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Bühne

In der Berliner Zeitung resümiert Dirk Pilz das Berliner Theatertreffen: "Das gesamte Festival hindurch (...) stand stets die Donnerfrage: Theater, wie hältst du's mit der Wirklichkeit? Hältst du sie bloß aus oder ihr etwas entgegen? Falls ja, was und warum? So fragt nur, wer Halt und Glauben verloren hat. Das Theatertreffen war immer schon das Fieberthermometer für die Erregungszustände des Bühnentreibens. In diesem Jahr ist es ins Dunkelrote hochgeschnellt: Überlebensgefahr. Soll man es vielleicht ganz lassen?"

Besprochen werden die von Pedro Martins inszenierte Bühnenbearbeitung von Joachim Lottmanns Roman "Endlich Kokain" in Bremen (Freitag), Stefan Puchers Züricher Sartre-Inszenierung "Die schmutzigen Hände" (Nachtkritik), die Uraufführung von Christoph Nußbaumeders "Von Affen und Engeln" bei den Ruhrfestspielen ("Es kommt keine Stimmung auf", beklagt sich Andreas Rossmann in der FAZ), Darius Milhauds im Theater an der Wien gespielte Oper "La mère coupable" (FAZ, Presse, sowie eine Kritik aus der Freitag-Community) und Robert Wilsons Inszenierung von Arvo Pärts "Adam"s Passion" in Tallinn (SZ).


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Literatur

Stefan Mesch bekennt sich im Freitag zu seiner Liebe zu Dietmar Dath - doch angesichts von Daths 18. Roman "Venus siegt" stößt auch diese Liebe an Grenzen: "100 erste Seiten lang wird nur doziert. 100 letzte Seiten lang brennt die Welt, lapidar und lustlos weggequatscht, literarisch, psychologisch, dramaturgisch hohl. Dazwischen liegt ein leidlich interessanter, atmosphärischer Mittelteil von 90 Seiten. Ein Bruchstück, das provokante Fragen stellt - vorausgesetzt, man überspringt das übergenaue Personenregister, die Klappentexte und Inhaltsangaben... "Venus siegt" ist der erste Dath-Roman, bei dem ich fürchte: Was, wenn sich Dath jetzt immer einsamer, tiefer verschrullt? Für eine Handvoll Dorf-Nerds schreibt? Schiefe, kunstlose Ideologietraktate?"

Besprochen werden Heinz Reins wiederaufgelegter Roman "Finale Berlin" (Freitag), John Williams" "Butcher"s Crossing" (FR), Kim Kardashians Autobiografie (Zeit), Leif Randts "Planet Magnon" (FR), Xavier Costes Comic "Untergetaucht" (Tagesspiegel), Anne Webers "Ahnen" (Berliner Zeitung), Ursula Krechels "Stark und leise - Pionierinnen" (FAZ) und die wiederveröffentlichten, autobiografischen Romane von Max Brod (SZ).
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Design

In der Jungle World gratuliert Elke Wittich dem Nylonstrumpf, der vor 75 Jahren auf den Markt kam.


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Stichwörter: Nylon