Efeu - Die Kulturrundschau

Für den Kulturkreis gesprochen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.02.2014. Lothar Müller fordert in der SZ: Weniger Debatte über die Herkunft von Schriftstellern, mehr Debatte über den Satzbau. Die Welt freut sich auf die HBO-Miniserie "True Detective" mit ihrer drastischen Dekonstruktion von Religion, Familie, Freundschaft. Die Berliner Zeitung zieht Kraft aus den von Armin Petras gepflegten Widersprüchen des Realen. Die Welt meint nach Leander Haußmanns "Möwe"-Inszenierung: kreativer ohne die Kumpel. Pitchfork feiert das neue Album von St. Vincent: King Crimson rewritten by Le Corbusier.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.02.2014 finden Sie hier

Literatur

In der Literaturdebatte pickt sich SZ-Autor Lothar Müller den einen Gedanken aus Maxim Billers Tirade heraus, den er für produktiv hält: die Kritik am "Präsensstil" heutiger Autoren. Dazu fällt Müller Gottfried Benn ein: ""Alle haben den Himmel, die Liebe und das Grab, / damit wollen wir uns nicht befassen, / das ist für den Kulturkreis gesprochen und durchgearbeitet. / Was aber neu ist, ist die Frage nach dem Satzbau ...". Zugegeben: Bei Benn, der das Satzbau-Gedicht schrieb, hätte Billers Ahnenforschung viel zu tun. Aber sein Rat, über den großen Stoffen, den Debatten über den "Kulturkreis" - heute: die Finanzkrise, NSA, Alzheimer etc. - schlichte Fragen wie die nach dem Satzbau nicht zu vergessen, ist nicht schlecht."

Ah, der Lohn harter Arbeit! NZZ-Rezensent Roman Bucheli erntet ihn am Ende der Lektüre von Martin Mosebachs Roman "Das Blutbuchenfest": "Da denkt man sich also während vierhundert Seiten: Warum erzählt er uns das alles? Was soll das gestelzte Getue mit dieser Frau Markies? Schon wie das Buch beginnt! "Die Markies verließ um fünf das Haus ..." Und was kümmert uns Dr. Glück mit seiner schönen teuren Wohnung und dem großen Garten mit der Blutbuche? So und ähnlich wundert man sich über vierhundert lange Seiten und ist vielleicht mehrmals versucht, das Buch zur Seite zu legen und die Frau Markies und den Herrn Glück und alle die anderen eher unglücklichen als glücklichen Herrschaften ihrem schönen traurigen Schicksal zu überlassen. Doch dann. Die letzten vierzig Seiten. Eine Eruption."

Außerdem: Ein friedlich geläuterter Mike Tyson spricht im Interview mit der Welt über seine gerade erschienenen Memoiren. Tilman Spreckelsen reist für die FAZ zum Buchmessengast Finnland und besucht die Samen.

Besprochen werden neue Comics von Li Kunwu (Welt), Haruki Murakamis Roman "Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki" (den NZZ-Rezensent Karl-Markus Gauß "staunenswert schlecht geschrieben" findet) und Mathias Enards "Straße der Diebe" (NZZ). Mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr.
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Kunst



Im Smithsonian Mag stellt Elaine Glusac das Ergebnis eines Wettbewerbs für Rasthäuschen in Winnipeg/Minnesota vor. Dort ist es im Winter lausig kalt. "The competition, currently in its fifth year, drew over 190 entries from around the world, resulting in five winners, coincidentally all from Canada this year. But if you"re picturing a cozy series of log cabins with open hearths within, you"re thinking inside the box. This year"s set of winners include a series of red drapes suspended from a bridge overpass that skaters can bundle into; "Red Blanket" was designed by Workshop Architecture in Toronto. Winnipeg-based Etienne Gaboury designed a two-stack hut that resembles an upside down pair of pants worn by colonial French traders known as "voyageurs." Students at the University of Manitoba created "Skybox," a ceiling-less room walled completely inside in mirrors to reflect the sky." Uns gefällt am besten "Nuzzles", die Schaumstoffnudelhütte von Raw Design aus Toronto (Bild).

Außerdem: Denkmalpfleger Georg Mörsch warnt in der FAZ dringend davor, die Hedwigskathedrale in Berlin zu verhunzen, deren Innenraum zur Neugestaltung ausgeschrieben wurde.

Besprochen werden eine Ausstellung über die Tscherkessen im Hamburger Völkerkundemuseum (taz), die Karl-Lagerfeld-Ausstellung im Folkwang Museum (FAZ), eine Cartier-Bresson-Ausstellung im Centre Pompidou (SZ), eine Hannoversche Ausstellung von Buschs "Max und Moritz" in der Urfassung (SZ), die Ausstellung "Vintage" im Museum für Gestaltung in Zürich (FAZ).

Und: Eine tolle Strecke mit japanischen Plakaten bei BibliOdyssey.
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Film

Heute läuft auf Sat1 der von Nico Hofmann produzierte Fernsehfilm über die Wulff-Affäre. Dass er sich dabei auf Grundlagen von Bild stützt, die in der Sache maßgeblich Partei gewesen ist, findet er nicht weiter bedenklich, wie er im taz-Gespräch gesteht: "Mit führenden Journalisten des Landes zusammenzuarbeiten, wie es übrigens in England und Amerika gang und gäbe ist, kann doch der Qualität eines Projekts nur nutzen."

Abseits vom deutschen Fernsehfilm-Filz freut sich Richard Kämmerlings (Welt) an der momentan laufenden, zwischen Thriller und Horror changierenden HBO-Miniserie "True Detective" mit Woody Harrelson und Matthew McConaughey, die sich schon nach wenigen Folgen zur Sensation entwickelt hat und in den USA bereits rege diskutiert wird: "Drastischer wurden im Fernsehen die bürgerlichen Werte - Religion, Familie, Freundschaft - selten dekonstruiert. Selbst die ultrarealistische Polizeiserie "The Wire", Mutter aller neueren TV-"Romane", ließ ja noch Glaube, Liebe und Hoffnung walten und, wie in der alten Tragödie, als ewige Werte gerade im Untergang des Einzelnen triumphieren. ... "True Detective" ist eine Geschichte über das Erzählen selbst, eine Meta-Story über Zeit und Wahrheit - auch über die Gefahr, bei der besessenen Suche nach einer Auflösung selbst zum Rätsel zu werden."

Ein paar weiterführende Links: Ein Gespräch mit dem Macher, etwas Hilfestellung zum Dechiffrieren der literarischen Anspielungen (mehr hier), Robert W. Chambers Horrorroman "The King Yellow", der eine maßgebliche Rolle spielt und dank der Serie prächtig verkauft wird, im Volltext und eine feministische Kritik an der Serie. Sowie die tolle Vorspannsequenz:



Außerdem: Der Filmemacher Michael Glawogger ("Megacities", "Workingman"s Death" und "Whores" Glory") schickt dem Standard einen Tagebucheintrag von seiner einjährigen Reise für sein nächstes Filmprojekt, diesmal aus dem Senegal. Besprochen wird Arne Birkenstocks Film über den Kunstfälscher Wolfgang Beltracchi ("so furchtbar langweilig", erklärt Rose-Maria Gropp in der FAZ)
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Bühne



In Stuttgart bringt Armin Petras seine Interpretation des Märchens vom "Kalten Herzen" auf die Bühne. Für die Berliner Zeitung war Tim Schleider vor Ort: "Es wird hier improvisiert und gealbert, parodiert und genervt, dass sich die Fichten biegen. Ständig ist man deshalb kurz davor, das ganze Projekt verloren zu geben. ... Es ist kantig, eckig, sperrig, scharf, so, wie es Petras in seinem Theater will, und wie er es immer bis zum kritischen Punkt ausreizt. Gern auch mal darüber hinaus, weil dieses Theater seine Kraft aus den Widersprüchen des Realen zieht." (Foto: JU_Ostkreuz) Weitere Besprechungen in taz, FAZ und SZ.

In der Welt begeistert sich Stefan Grund sehr für Leander Haußmanns "Möwe"-Inszenierung am Thalia in Hamburg. Allerdings hat dies nicht nur etwas mit der Leistung des erst vor vier Wochen aus Berlin die Produktion eingesprungenen Regisseurs zu tun: "Wer Leute wie Jens Harzer oder Barbara Nüsse zur Verfügung hat, der kann eigentlich über weite Strecken regiemäßig fast auf Autopilot schalten. So war es für Haußmann offenbar eine ungewollte künstlerische Befreiung, mal keinen von seinen Kumpels und Kumpelinnen besetzen zu müssen. Diese "Möwe" ist das beste, das man seit langem von ihm gesehen hat."

Außerdem: Ronald Pohl besucht für den Standard  Stratford-upon-Avon, das im nächsten Jahr Shakespeares 450. Geburtstag feiert.

Besprochen werden Christian Spucks Berliner Inszenierung von Berlioz" Oper "Fausts Verdammnis" (Berliner Zeitung/taz), das in Düsseldorf aufgeführte, parodistische Musical "49 1/2 Shades" (Stefan Keim gibt sich in der Welt ganz erschlagen: "Nach zweieinhalb Stunden Zotenbeschuss ist die Birne so weich, dass man überlegt, ob Mario Barth nicht doch Chancen auf den Literaturnobelpreis haben könnte."), Stefan Bachmanns Inszenierung von Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig" in Köln (NZZ, FAZ), Saul Rubineks in Berlin aufgeführtes Stück "Schlechter Rat" (Welt) und Jean-Philippe Rameaus Oper "Platée" im Theater an der Wien, die Ilija Trojanow im Standard feiert: "Voltaire verdanken wir das Bonmot, Rameau verzaubere die Ohren, Lully hingegen die Seele. Da ich nicht an die Existenz einer Seele glaube, halte ich mich lieber an Rameau. Der schrieb eine handfeste, spöttische Musik, genau das Richtige für unsere unbeseelte Zeit."
Archiv: Bühne

Musik

Diese Platte klingt ganz und gar nicht so, als sei sie hinieden aufgenommen worden, begeistert sich Lindsay Zoladz auf Pitchfork für das neue Album von St. Vincent, dem Projekt der Musikerin Annie Clark. "Its songs sprout with their own strange, squiggly lifeforms and are governed by unfamiliar laws of gravity. ... St. Vincent continues Clark"s run as one of the past decade"s most distinct and innovative guitarists, though she"s never one to showboat. Her harmonic-filled style bears the influence of jazz (...) and prog rock, two genres known to embrace sprawl. But Clark"s freak-outs are tidy, modular and architecturally compact-like King Crimson rewritten by Le Corbusier." Hier kann man sich das Album anhören. Außerdem: Das aktuelle Video.



Außerdem: Der Jazzpianist Brad Mehldau plaudert im Interview mit der SZ über Hardrock, John Coltrane und sein neues Album "Mehliana". Besprochen werden neue Alben von Beck (taz), Neneh Cherry (Standard) und Matula (Zeit).
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Design

Dezeen stellt die sehr eleganten Silo-Lampen von Note Design Studio vor, die erstmals bei der Stockholmer Möbelmesse gezeigt wurden. Steht diese orange Leuchte nicht so lässig da wie ein Filmstar aus den Siebzigern?

In der Berliner Zeitung erklärt Peter Glaser, was der Siegeszug der Miniröcke in den 60ern mit dem zeitgleichen Trend zu "Minicomputern" zu tun hat.
Archiv: Design
Stichwörter: Dezeen, Glaser, Peter, Lampen, Minirock