Efeu - Die Kulturrundschau

Eine nachgerade bukolische Zeit

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06.04.2023. Tanz den Parsifal mit Eurythmie! Die NZZ ist begeistert wie Jasmin Solfaghari das in ihrer Inszenierung am Goetheanum in Dornach hinkriegt. Die FAZ lässt sich von Peter Weibel im ZKM in die Renaissance 3.0 führen. Ratlosigkeit erlebt die FR im Literaturbetrieb beim Umgang mit Künstlicher Intelligenz. Die NZZ besucht die Künstlerin Miriam Cahn und wird rausgeschmissen. Die Filmkritiker können ein gewisses galliges Lachen nicht unterdrücken in Ben Afflecks Film "Air". Die taz bestaunt die hohe Popsprache Hendrik Otembras.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.04.2023 finden Sie hier

Kunst

"Fluidum", Holger Förterer. Foto: ZKM Karlsruhe.

In eine außergewöhnlich optimistische Zukunftsvision ist FAZ-Kritikerin Ursula Scheer bei der interaktiven Ausstellung "Renaissance 3.0" des kürzlich verstorbenen ZKM-Direktors Peter Weibel eingetaucht. Für Weibel stand fest, dass Kunst und Wissenschaft in diesem Jahrhundert wie schon einmal inspirierende Allianzen eingehen würden. Natur, Medien und Technik verbinden sich in der Ausstellung zu einer produktiven Symbiose, deren Teil auch die Besucher werden können, staunt Scheer, beispielsweise in der Videoinstallation "Fluidum" des Künstlers Holger Förterer: "Wer in den Lichtstrahl vor der Videowand tritt und einen Schatten darauf wirft, formt durch Bewegungen animierte Farbströme und scheint in flüssigem Licht zu schwimmen: Das kollektive Action Painting steht stellvertretend für zahlreiche technische Schnittstellen, durch die wir mit unseren Körpern inzwischen ganz selbstverständlich computerisierte Geräte bedienen, die Außenwelt auf neue Art wahrnehmen und auch verändern."

Birgit Schmid hat für die NZZ die Basler Künstlerin Miriam Cahn besucht, die wegen des Bildes "Fuck abstraction!" in ihrer Ausstellung im Pariser Palais de Tokyo verklagt wurde: darauf sieht man eine kleine Figur mit gefesselten Händen vor einer großen sitzenden Figur mit erigiertem Penis knien. Mit dem Bild wollte Kahn die Vergewaltigungen im Ukrainekrieg anprangern. "Der Aufruhr wurde Anfang März von französischen Kinderschutzgruppen und selbsternannten Kämpfern gegen Pädokriminalität initiiert, die in besagtem Bild Kinderpornografie erkennen wollen", erzählt Schmid. "Es verhöhne Vergewaltigungsopfer, lautet ein Vorwurf. Als sich das Bild in den sozialen Netzwerken verbreitete, waren schnell 16.000 Unterschriften zusammen, die in einer Petition seine Entfernung aus der Ausstellung verlangten. Beim Palais de Tokyo gingen Morddrohungen ein, so dass das Museum sich genötigt sah, in einem Statement Stellung zu nehmen zu dem, was offensichtlich ist: Miriam Cahn geht es in keiner Weise darum, Kinderpornografie zu verherrlichen. Sie wolle nicht schockieren, sagt sie, sondern prangere an, was Kriegsrealität sei." Inzwischen hat ein Pariser Gericht die Klage zurückgewiesen, und Cahn hält fest, dass es Rechte waren, die gegen die Ausstellung klagten. Insgesamt ist mit ihr nicht gut Kirschen essen und sie wirft die Reporterin schließlich raus.

Weitere Artikel: Birgit Rieger freut sich im Tagesspiegel über die bunte Bestrahlung der Exponate des Pergamonmuseums durch den britischen Bildhauer Liam Gillick. Franca Klaproth hat sich für die Berliner Zeitung die digitale Ausstellung des WWF "Climate Realism" angesehen, die uns mit Hilfe von KI zeigt, wie die Landschaften auf Van Goghs Gemälden nach der Klimakatastrophe aussehen würden. Die Welt meldet, dass das Material für viele Benin-Bronzen offensichtlich aus dem Rheinland stammt. Und: Das Humboldt Forum hat jetzt eine Krone, meldet der Tagesspiegel.

Besprochen werden die Ausstellung der Werke Hugo van der Goes in der Gemäldegalerie Berlin (SZ), die Kabinettausstellung "Heiter bis wolkig" über Wetterphänomene in der holländischen Grafik, ebenfalls in der Gemäldegalerie (Tagesspiegel), die Ausstellung "1,5 Grad. Verflechtungen von Leben, Kosmos, Technik" in der Kunsthalle Mannheim (Tagesspiegel), eine Ausstellung der Fotografin Patricia Morosan in der Berliner Galerie Franzkowiak (taz), die Ausstellung "Schuld" im Jüdischen Museum Wien (Standard) und die Ausstellung "Amazing" mit 200 Werken aus der Würth-Collection im Leopold-Museum Wien (Standard).
Archiv: Kunst

Film

Einmal volle Taschen bitte: Standardsituation des modernen Sportfilms in "Air"

An Ben Afflecks "Air" über den Erfolg von Mike Jordan und den Nike-Air-Sneakers zeigt sich Perlentaucher Jochen Werner exemplarisch, wie sich das Genre des Sportfilms gewandelt hat: Heute sind sie vor allem Businessfilme - es geht nicht mehr um Individuen, die sich durchboxen, sondern um die Tiefe der Taschen, die zu füllen sind. "Die klassische Hollywood-Außenseitergeschichte braucht die Individualisten, die sie im Film verkörpern, inzwischen nur noch als Staffage, de facto werden die Außenseiterrollen längst von den Konzernen, um die diese Narrative arrangiert werden, eingenommen. Die klügsten Erzählungen nutzen diese Verschiebungen für ein komplexes Spiel mit immer ambivalenteren Identifikationsstrukturen", doch "so weit auf selbstreflexives Territorium wagt sich Affleck nicht vor", meint Werner.

Michael Meyns von der taz kam bei dem Film das gallige Lachen: "Eine Geschichte von einem erfolgreichen Unternehmen, das durch einen cleveren Deal noch erfolgreicher wird als Underdog-Geschichte zu erzählen; darauf muss man erst einmal kommen. 'Air' reiht sich damit in eine wachsende Zahl von Filmen ein, die gleichzeitig der grassierenden 80er-Jahre-Nostalgie genügen, aber auch dem Interesse an Geschichten über unternehmerische Erfolge. ... Bunt und lustig ist das, voller Ballonseide und wildwucherndem Haar, vor allem aber einem ausgeprägtem Hang zur Nostalgie. Würde man der Welt von 'Air' Glauben schenken, müsste man die 80er Jahre für eine nachgerade bukolische Zeit halten." Für FAZ-Kritiker Bert Rebhandl schraubt der Film ein bisschen zu sehr am Geniekult rund ums Unternehmertum: Irgendwer hat immer in letzter Sekunde den rettenden Geistesblitz. "Standardsituationen" solcher Art "werden in 'Air' von der Musik unterlegt, die in Ronald Reagans Amerika die Hitparaden dominierte." So blicke der Film "überraschend nostalgisch auf eine Zeit zurück, in der sich die heutigen Konfliktlinien in den Vereinigten Staaten gerade stärker abzuzeichnen begannen".

Besprochen werden außerdem Aaron Horvaths und Michael Jelenics Animationsfilm "Super Mario Bros" (Perlentaucher, Standard), Tarik Salehs Thriller "Die Kairo-Verschwörung" (FR, Tsp, taz), eine DVD-Ausgabe von Shunji Iwais "The Case of Hana und Alice" (taz), die zweite Folge der letzten Staffel der Serie "Succession" (TA), Reiner Holzemers Doku "Sein oder nicht sein" über Lars Eidinger (NZZ), der Horrorfilm "The Pope's Exorcist" mit Russell Crowe (FR), Constanze Grießlers von 3sat online gestellte Doku "Lust oder Qual - Die vielen Seiten des Alleinseins" (FAZ), Ramzi Ben Slimans "Neneh Superstar" über Rassismus im Tanz (SZ) und die auf Sky gezeigte Serie "Tender Hearts" (Freitag). Außerdem verrät uns die SZ, welche Filme sich diese Woche wirklich lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Bühne

"Parsifal" am Goehteanum. Bild: Maik Mühlbrandt.

Fasziniert
ist NZZ-Kritiker Christian Wildhagen von Jasmin Solfagharis Inszenierung des "Parsifal" am Goetheanum in Dornach, dem Sitz der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, deren Gründer Rudolf Steiner ein großer Wagner-Fan war. Steiners anthroposophische Ideen findet der Kritiker in der Inszenierung kaum wieder, dafür die Eurythmie: "Die insgesamt 36 Mitglieder des Stuttgarter Else-Klink- und des Dornacher Eurythmie-Ensembles zeichnen nicht nur die Spannungskurven der Musik mit ihrer fließenden Körpersprache nach, sie begleiten als emotionale Spiegelfiguren auch einzelne Protagonisten. Vor allem aber verkörpern sie, im Wortsinne, die zentralen Requisiten des Stücks, nämlich die Gralsschale und den heiligen Speer, die in modernen Inszenierungen oft zum ästhetischen Problem werden. Hier gibt es diese ideell über und über mit Bedeutung aufgeladenen Gegenstände nur in der symbolischen Darstellung durch die Eurythmisten - ein kluger Schachzug, der zugleich auf Steiners Postulat einer immateriellen Welt hinter allem Materiellen verweist." Tagesspiegel-Kritiker Bernhard Doppler fehlte es an kritischer Distanz zu Wagner, er ließ sich aber gern von der Musik "umfluten".

Ulrich Seidler stellt in der Berliner Zeitung Peter Laudenbachs Buch "Volkstheater" vor, in dem Laudenbach beklagt, dass die meisten Angriffe auf die Kunstfreiheit von Rechts kommen. Er stützt sich dabei auf Vorkommnisse und Daten, die der linke Verein "Die Vielen" gesammelt hat: "Der subventionierte Kulturbetrieb wird als Feindbild markiert, bietet in seiner Offenheit eine Angriffsfläche und gerät zunehmend unter Legitimationsdruck. Das gilt allgemein, richtet sich aber auch gegen konkrete Personen, deren Privatadressen durch die sozialen Medien verbreitet, deren Auftritte gestört, deren Autos abgefackelt werden. Die vielen Akteure bilden laut Laudenbach eine Bedrohungsallianz, die wesentlich besorgniserregender ist als 'die echte oder vermeintliche Beschädigung der Kunstfreiheit durch eine Cancel Culture', die 'die Feuilletons häufig, ausführlich und in vielen Variationen beschäftigt'."

Besprochen werden das Tanzstück "T.I.M.E." des Xiexin Dance Theatre aus Shanghai im Staatstheater Darmstadt (FR), Andreas Dörings Bearbeitung von Bachtyar Alis Roman "Die Stadt der weißen Musiker" für das Theater Celle (taz), Lonny Prices Inszenierung von Leonard Bernsteins "West Side Story" an der Alten Oper Frankfurt (FR), Richard Strauss' "Die Frau ohne Schatten" bei den Osterfestspielen in Baden-Baden (van), Emanuel Gats Tanzstück "Träume" bei den Osterfestspielen in Salzburg (Standard), Karl Barratas Inszenierung von Daniel Wissers Stück "Unter dem Fußboden" in der Theaterarche Wien (Standard) und die Uraufführung von Christian Josts Oper "Reise der Hoffnung" in Genf (van).
Archiv: Bühne

Literatur

Lisa Berins von der FR stößt im Literaturbetrieb auf Unsicherheit und Ratlosigkeit, was den Umgang mit Künstlicher Intelligenz und deren mögliche Rolle beim Verfassen und verlagsseitigem Einschätzen von Büchern betrifft: Große Häuser gaben an, "bei der Sichtung und Überarbeitung von literarischen Texten nicht mit Künstlicher Intelligenz zu arbeiten. Allerdings sei die Neugier groß, wie es bei Kiepenheuer heißt. Andere Verlage tasten sich schon langsam an eine Arbeit mit der KI heran. 'Wir experimentieren mit ChatGPT und überlegen, wo es sinnvoll sein könnte, damit zu arbeiten, im Lektorat etwa, im Korrektorat oder bei der Verschlagwortung von Texten', sagt Friederike Schilbach, Leitende Lektorin im Aufbau Verlag. 'Vielleicht schreibt ChatGPT ja auch bald schon super Klappentexte?' Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln."

Außerdem: Niklas Liebetrau porträtiert in der Berliner Zeitung Oliver Zille, Direktor der Leipziger Buchmesse. Thomas Hummitzsch berichtet in seinem Intellectures-Blog von Anna Giens Präsentation ihres neuen Romans "Paris - Rot" im Roten Salon der Berliner Volksbühne. In der FAZ gratuliert Niklas Bender dem Schriftsteller Jean-Marie Rouart zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Karl Ove Knausgårds "Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit" (ZeitOnline), Penelope Mortimers "Bevor der letzte Zug fährt" (NZZ), Shuzo Oshimis Manga-Psychothriller "Blood on the Tracks" (Tsp), Zsigmond Móricz' "Der glückliche Mensch" (NZZ), neue Kinderbücher, darunter Arne Rautenbergs Gedichtband "Dieser Tag ist mein Freund" (SZ), und Tessa Hadleys "Freie Liebe" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Lars Fleischmann staunt in der taz über Hendrik Otremba: Der ist Schriftsteller, seit vielen Jahren Sänger der in Szenekreisen geschätzten Postpunk-Band "Messer", ausgestellter Künstler, Dozent an der Universität - und jetzt mit "Riskantes Manöver" auch Solist mit eigenem Debütalbum. Entstanden ist auf diese Weise längst ein medienübergreifendes Otremba-Verse: Ohne diese "Individualmythologie zu verlassen, wendet sich der Neu-Solist so grundverschiedenen Genres wie dem balladesken Chanson und Industrialsound im Stile der 'Einstürzenden Neubauten' zu. Eine Country-Version des Michael-Holm-Schlagerhits 'Smog in Frankfurt', die Otremba dieser Tage mit 'Die Heiterkeit'-Frontfrau Stella Sommer einsingt, fällt inmitten dieses Genre-Potpourris gar nicht weiter auf. In Otrembas Fingern werden scheinbare Binsen zu großen Wahrheiten; das erinnert nicht selten an so krass unterschiedliche Figuren wie den späten Ronald M. Schernikau. Selbst Tolstoi entdeckt man inmitten dieser 'hohen Pop-Sprache'." Der Podcast "Soundtrack meines Lebens" hat kürzlich ausführlich mit Otremba gesprochen.



Weiteres: Kristoffer Cornils wirft für ZeitOnline einen Blick auf die zusehends prekäre Lage der Indie-Labels, die vom Streaming kaum leben können während ihnen gleichzeitig von den Majors das Vinylgeschäft kaputt gemacht wird. Jetzt stellt sich die Frage, ob sie sich als Humus der Musikkultur vom Staat fördern lassen sollten. Im Tagesspiegel spricht Charlotte Brandi über ihr neues, bewusst ohne Männer aufgenommenes Album "An den Alptraum": "Es war eine fast therapeutische Erfahrung, auf jeden Fall eine philosophische Erfahrung, die ich gemacht habe." Die FAS hat Inge Kloepfers Porträt der Geigerin Midori online nachgereicht. Techno-Fossil Westbam wird heute bei den Salzburger Osterfestspielen Wagner aufmischen, schreibt Christian Schachinger im Standard: "Ein sicherlich interessanter und wohl schon etwas in die Jahre gekommener Versuch, das Festspielpublikum mit Vehemenz aus den Sitzen zu schubsen." In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen widmet sich Arno Lücker diese Woche hier Julia Smith und dort Maria Arndts. Besprochen wird das Abschlusskonzert des Gewandhausorchesters unter Andris Nelsons bei den Salzburger Osterfestspielen (Presse, FAZ).
Archiv: Musik