Efeu - Die Kulturrundschau

Kunsttheorie in Holz

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.03.2023. Die Feuilletons trauern um Nobelpreisträger Kenzaburō Ōe, der kritischen Geist mit nahezu fanatischer Bescheidenheit verband. Außerdem verarbeitet die Filmkritik noch die Oscarnacht, zu deren großen Gewinnern das Indie-Label A24 gehört. Der Guardian verfolgt voller Enthusiasmus, wie sich Amerikas indigene Künstler von den Ägyptern inspirieren ließen. Die FR erlebt in Darmstadt, wie sich Alban Bergs Lulu nicht von Männern stören lässt. Und der Bayerische Rundfunk stellt KlickKlack ein, die letzte Klassiksendung der ARD.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.03.2023 finden Sie hier

Literatur

Kenzaburo Oe, 2012 in Paris (Bild: Thesupermat, CC BY-SA 3.0)

Wie erst gestern bekannt wurde, ist der japanische Literaturnobelpreisträger Kenzaburō Ōe bereits am 3. März 2023 verstorben. Ōe war neben Yukio Mishima, zu dem er früh auf Distanz ging, wohl der prägendste japanische Schriftsteller der Nachkriegsjahrzehnte, schreibt Leopold Federmair in der NZZ. Doch "anders als Mishima, der seinem Leben frühzeitig ein Ende setzte, neigte er nicht zum Nationalismus, sondern engagierte sich für ein friedliches, weltoffenes Japan. In seiner Heimat sahen ihn manche als Autor, dessen Werk in westlichen Literaturtraditionen wurzelt ... Vermutlich sind es nicht die literarischen Einflüsse, die Ōes Bücher als 'unjapanisch' erscheinen ließen, sondern der nie nachlassende kritische Geist, den er in Romanen ebenso wie in Essays und Stellungnahmen zum Zeitgeschehen, auch in der Teilnahme an politischen Aktionen entfaltete. Frei heraus Kritik zu üben, ist bis heute in Japan verpönt, doch Oe wollte nie ein Blatt vor den Mund nehmen."

In der FAZ würdigt Hubert Spiegel ihn als einen Schriftsteller, "der das zutiefst Persönliche mit dem allgemein Menschlichen verband, ein Moralist und Bescheidenheitsfanatiker, der Selbstbefragung und Selbstentblößung mit eiserner Konsequenz betrieb. Ironie war ihm lange Zeit fremd, sein Stil erscheint deutschen Lesern oft als schlicht, dabei eher zur Umständlichkeit als zu Eleganz neigend. Auf seine Weise nahm er vorweg, was heute in Europa als Autofiktion ungeheuer erfolgreich ist. In der Tradition des japanischen Ich-Romans, des Shishōsetsu, schrieb Ōe Bücher, in denen die um Realitätstreue bemühte Darstellung von eigenen Erfahrungen und Erlebnissen als Grundlage für ein fiktionales Geschehen diente. Auf diese Weise wurde ihm alles zum Material: eigene Lektüreeindrücke, Begegnungen auf Lesereisen, Telefongespräche, die mitunter langatmig in indirekter Rede wiedergegeben werden, Episoden und Partikel des Familienalltags."

Peter Praschl würdigt ihn in der Welt daher als "sturen Liberalen, der nicht nachließ darin, die Totschweigebedürfnisse einer Gesellschaft zu unterlaufen, die lieber vergessen und neu anfangen wollte als moralische Archäologie und Gewissenserforschung zu betreiben". Entsprechend, schreibt Gustav Seibt in der SZ, blickte Ōe "auf die Geschichte und Politik seines eigenen Landes mit den Augen eines politischen Engagements, dessen Modelle aus der europäischen, zumal der französischen Literatur kommen: der Intellektuelle als öffentliche Figur. Ōe kämpfte leidenschaftlich für das Ende der Atomkraft in seinem von den Kriegsbomben und dem Reaktorunfall von Fukushima versehrten Land. Die Wahrnehmung der leiblich-seelischen Verletzlichkeit des Menschen kommuniziert bei Kenzaburō Ōe unverkennbar mit solchen historischen Erfahrungen. Das Intimste verbindet sich mit dem Allgemeinsten." Weitere Nachrufe schreiben Katharina Borchardt (Dlf Kultur), Gregor Dotzauer (Tsp), Martin Oehlen (FR) und Michael Wurmitzer (Standard).

Außerdem: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Martin Ebel besucht für den Tagesanzeiger Thomas Manns in Zürich ausgestelltes Arbeitszimmer. Besprochen werden unter anderem Bret Easton Ellis' "The Shards" (FR), Andrea Maria Schenkels "Der Erdspiegel" (FR), Douglas Stuarts "Young Mungo" (NZZ), Caroline Fetschers "Tröstliche Tropen" über Albert Schweitzer (SZ) und Stephen Budianskys Biografie des Logikers Kurt Gödel (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Simeon Stilthda: Sphinx, 1874-1878. Foto: British Museum

Das Sainsbury Centre in Norwich zeigt indigene Kunst aus Nordamerika, und Guardian-Kritiker Jonathan Jones ist so überwältigt von der Großartigkeit der Masken, Figuren und Totems, dass er jede Debatte über Besitz und Aneignung über Bord wirft: "Als der Künstler Simeon Stilthda in den 1870er Jahren in einer Missionarsbibel ein Bild der Großen Sphinx in Ägypten sah, schnitzte er seine eigene Version davon. Stilthda gehörte dem Volk der Haida im pazifischen Nordwesten Amerikas an, und seine Schnitzerei war eine Hommage der indigenen Kultur dieser Region an das alte Ägypten, das Tausende von Meilen und Jahren entfernt war. Es handelt sich nicht nur um eine wunderbare Skulptur - die Sphinx hat auf der Rückseite eine Haida-Frisur -, sondern auch um ein Stück Kunsttheorie in Holz. Stilthda zieht augenöffnende Parallelen zwischen der religiösen Kunst seiner Gemeinschaft und jener der Pharaonen. Wie die alten Ägypter, die einen Menschen und einen Löwen miteinander verbanden, um die Sphinx zu erschaffen, haben die indigenen Völker des pazifischen Nordwestens Nordamerikas ein magisches Auge für die Natur. Diese fesselnde Ausstellung entführt uns in weite Nadelwälder und den offenen Ozean, wo sich Mensch und Tier nahe sind. Dieser Stil der Kunst des pazifischen Nordwestens mit seinen blockartigen, geschwungenen Mustern scheint die schwarz-weißen Markierungen eines der beherrschenden Tiere der Region, des Schwertwals, nachzuahmen. Orcas sind nicht nur auf Totempfählen zusammen mit mythischen und realen Vögeln zu sehen, sondern ihre 'abstrakte' Erscheinung spiegelt sich in einem Stil wider, der auf brillante Weise die Realität dehnt und verzerrt."

Amphibienartige Luftbusse und Auto-Helikopter-Hybride lassen Stefan Trinks für die FAZ in der "Fetisch Zukunft"-Ausstellung des Zeppelin-Museums Friedrichshafen reflektieren, wie es um den Nexus Kultur und Technik bestellt ist: "Es kommt, und das ist der packende Ausgangspunkt der vier Kuratoren, einsteils zu vielen Vorwegnahmen zukunftsträchtiger Technikerfindungen in der Kultur; nur wenig überspitzt könnte man mit Schopenhauers 'Die Welt als Wille und Vorstellung' behaupten, alles, was in Literatur und Kunst von Leonardos Flugapparaten bis zu den Raketen jemals als Bild in die Welt kam (in der Schau durch Aby Warburgs Mnemosyne-Tafel von Ikarus bis Zeppelin repräsentiert), wurde - bisweilen erst Jahrhunderte später - auch in die Realität umgesetzt. Andererseits lieferten die Literaten und Künstler prophetisch früh auch oft die desillusionierende Kehrseite der schönen neuen Welt, die sich häufig als Wahrheit entpuppte, etwa wenn ein Karikaturist um 1914 auf einer Postkarte den Himmel über dem sehr beschaulichen österreichischen Städtchen Bruck an der Leitha als von Zeppelinen und anderem Flugapparaten völlig überfüllt und von Beinahekarambolagen bedroht zeigt."

Besprochen werden die Retrospektive des amerikanischen Malers Wayne Thiebaud in der Fondation Beyeler bei Basel (SZ) und die Ausstellung "Dissidentenball" der Fotografen Harald Hauswald & Jindřich Štreit in der Galerie Buchkunst Berlin (Tsp).
Archiv: Kunst

Bühne

Juliana Zara als Lulu am Staatstheater Darmstadt. Foto: Nils Heck

Rundum zufrieden ist Judith von Sternburg in der FR mit Eva Maria Höckmayrs Inszenierung von Alban Bergs "Lulu" am Staatstheater Darmstadt. Die normalerweise durch den männlichen Blick verhandelten Geschlechterrollen dreht sie hier auf anregende Weise um: "Lulu, von Männern angestarrt, ist nicht nur nicht allein, es sind auf einmal auch die Männer, die wiederum von den Frauen gesehen werden. Als würde ein Gleichgewicht wiederhergestellt, mit dessen Hilfe sich die Geschichte jetzt - wie die Musik - natürlich und klassisch entwickeln kann. Innerhalb dieser klassischen Erzählung kann nun Lulu das Rätsel bleiben, das sie ist. Ensemblemitglied Juliana Zara, deren Sopran glasig klar, höhenrein und dabei völlig unangestrengt klingt, spielt das grandios unverbindlich und eben trotzdem mit jener einmalig luluhaften Art hingebungsvoll. Männer stören Lulu nicht."

Besprochen werden außerdem das Festival Radar Ost im Deutschen Theater Berlin (taz), das Dokumentartheaterprojekt "Letzte Station Torgau" im Schauspiel Leipzig (taz) und Sasha Waltz' Choreografie "Beethoven 7" im Berliner Radialsystem (meisterhaft findet FAZ-Kritiker Wiebke Hüster, wie Waltz Beethovens Musik "vom Bildungsbürgertum-Thron" herunterholt und jedem Zuhörer zugänglich macht).
Archiv: Bühne

Film

"Einmal alles auf einmal bitte": Michelle Yeoh im aktuellen Oscar-Abräumer

Die Feuilletons resümieren die Oscarnacht (hier unsere erste Zusammenfassung). Der Großteil der Goldjungs ging an "Everything, Everywhere all at Once" des Regie-Duos Daniels, eine ziemlich durchgeknallte Science-Fiction-Sause, die sich in den Kinos im letzten Jahr als ziemlicher Kulthit erwiesen hat. In der SZ trauert Susan Vahabzadeh aber auch ein wenig den Zeiten nach, als Hollywood, die Oscars und das Kinopublikum noch Komplizen waren. "In den Achtzigern haben Sydney Pollacks 'Out of Africa', Barry Levinsons 'Rain Man' und Oliver Stones 'Platoon' bei den Oscars jeweils die Haupttrophäe bekommen, sie gehörten zu den besucherstärksten Filmen des Jahres. In einer Jahres-Top-Ten von heute kommen Schriftstellerinnen-Porträts, Vietnamkriegsfilme und einfühlsame Brüder-Dramen nicht mehr vor. Im Jahr 2022, das am Sonntagabend prämiert wurde, waren die elf erfolgreichsten amerikanischen Filme ausnahmslos Fortsetzungen oder Teil irgendeines Superhelden-Universums. Das ist nicht gerade ein Beweis holder Inspiration oder bahnbrechender Ideen. Und da ist es eine logische Konsequenz, einen Film auszuzeichnen, der vielleicht kein Meisterwerk ist - aber immerhin anders als alles, was man vorher gesehen hat."

Für ZeitOnline-Kritikerin Carolin Ströbele bleibt diese Verleihung "als ein Abend der Hollywood-Auferstehungen" in Erinnerung: "So viele Darstellerinnen und Darsteller, deren Karriere eigentlich beendet zu sein schienen, hielten plötzlich eine goldene Statuette in Händen." Susanne Gottlieb freut sich im Standard für die Auszeichnung von Michelle Yeoh als bester Schauspielerin: Yeoh kennen Freunde des asiatischen Films seit Jahrzehnten als taffe Fighterin diverser Hongkong-Filme. Nun mit über 60 erhält sie auch von Hollywood endlich Anerkennung - und das mit "einer Rolle, die an ihren langjährigen Co-Star Jackie Chan hätte gehen sollen. Dass sie für sie umgeschrieben wurde, ist für Yeoh ein wichtiges Statement. Denn wo Männer noch bis in ihre 70er die Superhelden spielen, ergibt sich diese Möglichkeit für Frauen seltener." Daniel Haas freut sich auf ZeitOnline über den Oscar als bester Schauspieler für Brendan Fraser, der in den 90ern mit Teenie-Klamauk begonnen hatte, aber bei dem sich seit den Nullern "Genrekalkül mit Autorenkino-Ambitionen zu einer ziemlich stringenten Hollywoodkarriere zusammen" geschlossen haben.

Der Sieger hinter den Kulissen ist A24, schreibt Philipp Bovermann in der SZ. Seit knapp zehn Jahren steht das unter Hipstern gefeierte Indie-Studio für künstlerisch ambitioniertes und/oder verqueres Kino-Material. "Sein Erfolg, zuerst im Netz, dann an den Kinokassen, lässt sich mindestens zum Teil damit erklären, dass A24 die fatalistisch-düstere Hyperironie des Spiels mit Zeichen und Bildern im Netz für die Leinwand ausformuliert - jene Remixkultur, die keine geschlossenen Werke kennt, nur noch Bilder, die man aus dem allgemeinen visuellen Rausch schlägt, um sie, wie eine Trophäe, zum Objekt neu zu schaffender Kulte zu erheben. ... Früher erfolgreiche Indie-Labels wie Miramax waren unter Kennern bekannt und beliebt, A24 aber ist noch mehr: eine Markenwelt, wie man das heute nennt. Darin liegt eine erst auf den zweiten Blick ersichtliche Ähnlichkeit des Indie-Studios mit anderen gegenwärtig erfolgreichen Großprojekte der Branche, etwa den Markenuniversen von Marvel und DC, deren Superheldengeschichten in einem gemeinsamen Filmuniversum spielen. Die Filme von A24 sind selbständig - aber eben doch Teil eines Marken-Multiversums in einer medialen Gegenwart, in der immer alles gleichzeitig passiert, all at once."

Max Florian Kühlem spricht in der Berliner Zeitung mit dem Komponisten Volker Bertelmann alias Hauschka, der für seine Musik zu "Im Westen nichts Neues" ausgezeichnet wurde. Mit dessen Regisseur Edward Berger spricht Michael Maier für die Berliner Zeitung. Weitere Resümees des Abends schreiben Valerie Dirk (Standard) und Jenni Zylka (taz).

Außerdem: Büşra Delikaya ärgert sich im Tagesspiegel, dass Berlin-Neukölln in deutschen Serien immer nur als migrantischer Sündenpfuhl des Verbrechens dargestellt wird. Sandra Kegel (FAZ) und Fritz Göttler (SZ) gratulieren Michael Caine zum 90. Geburtstag. Besprochen werden der Science-Fiction-Film "65" mit Adam Driver (taz), die Amazon-Serie "Luden - Könige der Reeperbahn" (Welt) und die ZDF-Serie "Der Schwarm" (NZZ).
Archiv: Film

Musik

Standard-Popkritiker Karl Fluch schmachtet glücksversonnen, als er sich die eben erschienene Box mit dem gesammelten gemeinsamen Werk von Burt Bacharach und Elvis Costello anhört: Bacharachs eh immer viel zu leichtfertig verschmähte Easy-Listening-Sound wird hier durch Costello noch zusätzlich veredelt. "Costello wusste um die Tiefe von Bacharachs Werk, um die Raffinesse seines so leicht wirkenden Spiels. Mit 'In the Darkest Place' öffnen sie eine Tür zu einer Welt, mit der viele zuvor nicht in Berührung kommen wollten. Costello erweist sich in der Konfiguration als souveräner Guide, dessen Begeisterung für Bacharach sich in prächtigen Gesangsleistungen niederschlägt, während Burt an den Tasten zaubert. Ein geschmackssicher eingesetzter Damenchor würzt da und dort die Songs, sanfte Streicher umsorgen Geschichten von amouröser Unruhe. Diese Lieder erinnern an das alte Hollywood, sie sind so dramatisch wie elegant, versiert in großen Gesten, verliebt in die Details, große kleine Erzählungen."



Axel Brüggemann meldet auf Twitter, dass der Bayerische Rundfunk die Fernsehsendung "KlickKlack" einstellt - es war die letzte verbliebene Klassiksendung in der ARD, die sich bekanntlich gerne mit Kultur schmückt, wenn es um die Rechtfertigung des Gebührenbeitrags geht, dafür aber offenbar immer weniger gern auch tatsächlich Geld in die Hand nimmt. In Brüggemanns Crescendo-Newsletter vom Montag war die Einstellung der Sendung noch ein kursierendes Gerücht. Darin schrieb er treffend: "Radio-Orchester müssen sich nicht wundern, wenn sie immer wieder zur Disposition gestellt werden, wenn es das Fernsehen nicht schafft, der Klassik Räume zu geben."

Weiteres: In der FAZ gratuliert Wolfgang Sandner Quincy Jones zum 90. Geburtstag. Besprochen werden Ulrich Gutmairs Buch "Wir sind die Türken von morgen" über die Neue Deutsche Welle (FAZ), das neue Album von Fever Ray (Standard) und weitere neue Popalben, darunter "UK Grim" der Sleaford Mords ("Schlechte Laune, stur vorgetragen", schreibt Karl Fluch im Standard, "Musik zur Zeit, ein Arschtritt für den Brexit und seine Fürsprecher, die jetzt in leere Gemüseregale starren"). Hier das angenehm angepisste Titelstück:

Archiv: Musik