Efeu - Die Kulturrundschau

Flirrende Glissandi begleiten die Liebe

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15.03.2023. NZZ und SZ begrüßen den Kurswechel des Kunsthaus Zürich, das jetzt aktiv die Provenienz seiner Sammlung überprüfen möchte. Die FR erlebt in Gordon Kampes Oper "Dogville", dass Gift auch recht dezent auf den Nächsten geträufelt werden kann. Die FAZ verfolgt mit Entsetzen den kulturellen Vandalismus, mit dem ORF und BBC ihre Orchester eindampfen. taz und Tagesspiegel sehen in Marco Bellocchios Serie über die Ermordung Aldo Moros den Beweis, dass historisches Fernsehen auch aufregend und unbieder sein kann.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.03.2023 finden Sie hier

Film

Die bleierne Zeit, als auf den Straßen Gewalt herrschte: Marco Belloccios "Und draußen die Nacht" (Arte)

In seiner von Arte online gestellten Miniserie "Und draußen die Nacht" widmet sich der italienische Regisseur Marco Bellocchio erneut der Entführung und Ermordung Aldo Moros durch die Brigate Rosse. Deutsche RAF-Aufarbeitungen in Film und Fernsehen werden hier in ihrer Biederkeit schlagartig enttarnt, freut sich Jens Müller in der taz: Bellocchio "stiehlt deutschen Produktionen à la 'Todesspiel' und 'Der Baader Meinhof Komplex' in Sachen Kunstfertigkeit und Subtilität und überhaupt spielend die Show." Der Regisseur entfalte, "unterstützt von Stars des italienischen Kinos wie Margherita Buy und Toni Servillo, seine meisterliche Erzählkunst, die den Zuschauer die Tage und Wochen nach Moros Entführung immer wieder aus neuer Perspektive erleben lässt." Etwa aus der des Innenministers Cossiga, "dessen Berater schon nach der Verhängung des Kriegszustandes und der Wiedereinführung der Todesstrafe lechzen. Es ist eine der beeindruckendsten Sequenzen der Serie, wenn die Kamera langsam über die Gesichter der um einen Konferenztisch von Putinschen Ausmaßen versammelten Uniform- und Anzugträger gleitet, während Cossiga sie aus dem Off einsortiert, all diese: 'Ex-Faschisten oder Noch-Faschisten, alte Haudegen. Und sie sollen Aldos Leben retten, dabei hassen sie ihn. Aber ich habe nur sie.'"

Kurt Sagatz vom Tagesspiegel erlebte mit dieser Serie "eine lehrreiche Geschichtsstunde über jene 'Bleiernen Jahre'", eine Zeit, "in der auf den Straßen die Gewalt regierte, und selbst die Ermordung politisch Andersdenkender kein Tabu war". Einigermaßen bizarr ist es allerdings, dass Arte die Serie zwar auf Deutsch, Französisch und im italienischen Originalton anbietet - aber keinerlei deutsche Untertitel bereit stellt. Das schließt nicht nur Hörbeeinträchtigte aus, sondern verprellt auch Cinephile, die natürlich auf den O-Ton Wert legen. Auf Twitter rechtfertigt der Sender dieses unsinnige Vorgehen vollkommen lau: "Umfragen" hätten nun einmal ergeben, dass Deutsche halt Synchros wollen. Die Umfragen würden wir gern mal sehen.

Weitere Artikel: Am Oscarerfolg für Edward Bergers "Im Westen nichts Neues" lässt sich eigentlich nur die Kluft ablesen, die in Deutschland bei der Filmförderung zwischen Absicht und Erfolg klafft, meint Christiane Peitz im Tagesspiegel. Der Oscarregen für "Everything Everywhere All at Once" ist auch ein Triumph für die im US-Kino häufig nur als Witzfiguren dargestellte asiatische Community in den USA, schreibt Susanne Gottlieb im Standard. Matthias Kalle fragt sich auf ZeitOnline, warum die Serienfigur Ted Lasso so populär ist. In der FAZ gratuliert Dietmar Dath dem Regisseur David Cronenberg zum 80. Geburtstag.
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Literatur

Mohamedou Ould Slahi Houbeini wird nun doch NICHT das African Book Festival Berlin kuratieren. Dies teilte der Trägerverein InterKontinental e.V. in einer Pressemitteilung mit (hier die Meldung in der FAZ). Man wolle verhindern, "dass durch die anhaltenden Diskussionen um den Kurator das Festival Schaden nimmt". Auf die Idee, dass die Berufung eines früheren Al-Qaida-Kämpfers das Festival von vornherein beschädigen würde, scheint man nicht zu kommen. Slahi, der sich bislang bedeckt hielt, spricht von "Cancel Culture", berichtet Sonja Zekri in der SZ. Außerdem "habe die Festival-Direktorin Stefanie Hirsbrunner ihm in den vergangenen Tagen mehrfach nahegelegt, das Amt selbst niederzulegen, so Slahi: 'Aber das wäre ein Geständnis gewesen, das konnte ich nicht machen.'" Auch sei nun "nicht ausgeschlossen, dass afrikanische Autorinnen und Autoren, die sich ohnehin jedes Jahr mit der erratischen und kulturfeindlichen deutschen Visa-Politik herumschlagen, Slahis Absetzung als Herabsetzung begreifen. Proteste, sogar ein Boykott der Autorinnen und Autoren seien in Vorbereitung, heißt es."

Der rumänischdeutsche Schriftsteller Richard Wagner ist gestorben. In den Achtzigern kam er mit Herta Müller nach Deutschland. Herbert Wiesner erinnert in der Welt an Wagners Engagement in undogmatisch marxistischen Aktionsgruppe Banat, die er gemeinsam mit Johann Lippet, Anton Sterbling, Gerhard Ortinau, Ernest Wichner, Rolf Bossert, William Totok und anderen im Rumänien der frühen Siebziger gegründet hatte. "Eine Gruppe junger Schriftsteller wollten sie sein, die in der Nachfolge Brechts Literatur ernst und beim Wort nahm. Dieter Schlesak, der ältere Kollege, hat sie als 'Luxusdissidenten' verspottet, doch in der Ceauşescu-Diktatur war die Berufung auf die Wortwörtlichkeit schon ein politisches Vergehen. Der Geheimdienst hat die jungen Männer verhaftet und verhört. William Totok kam ins Gefängnis. Rolf Bossert hat man den Kiefer zerschlagen. Sie hatten die 'Grenzen der Dichtkunst' überschritten; so lautete einer der Vorwürfe. Die Aktionsgruppe Banat wurde 1975 verboten. ... Zornig und witzig und traurig war Wagner schon in jenen Achtzigerjahren. Dann kam eine Wende in sein Leben, von der wir nicht wissen, wie weit Herr Parkinson daran mitgewirkt hat. Richard Wagners Denken driftete ins Konservative, ja rechtslastige ab." Weitere Nachrufe schreiben Cornelia Geißler (FR), Jan Wiele (FAZ) und Gregor Dotzauer (Tsp).

Weitere Artikel: Die in Deutschland lebende Autorin und Dokumentarfilmerin Jelena Jeremejewa meditiert in einem ZeitOnline-Essay über Schuld und Opfer-Sein im Hinblick auf den Ukrainekrieg. Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Für die FAZ (online nachgereicht) wirft Gina Thomas einen Blick darauf, wie das britische Verteidigungsministerium Science-Fiction-Autoren über zukünftige Bedrohungsszenarien nachdenken lässt. Michael Martens schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Schriftsteller Dragoslav Mihailović.

Besprochen werden unter anderem Nico Bleutges Lyrikband "schlafbaum-variationen" (ZeitOnline), Alphonse Daudets "Jack" (Zeit), Andrzej Stasiuks "Grenzfahrt" (Welt), Judith Hermanns Poetikvorlesung "Wir hätten uns alles gesagt" (SZ, FAZ) und Anne Serres "Im Herzen eines goldenen Sommers" (FAZ).
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Kunst

Georges Simenon: "Images d'un monde en crise". Foto: Grand Curtius Museum Lüttich.

Das Grand Curtius Museum in Lüttich zeigt Fotografien von Georges Simenon, in denen FAZ-Kritiker Tilman Spreckelsen allerdings keinen Bezug zum Maigret-Autor erkennen kann. Simenon als Reisereporter sieht er nur indirekt gespiegelt: "Je länger man durch diese Ausstellung geht, umso weniger findet man den oft mürrischen, angestrengten und bitteren Autor mancher seiner Reisereportagen wieder. In diesen Bildern herrscht meist ein anderer Ton, ein respektvoller und forschender, einer, der das Fremde mit wachen, ruhigen Augen aufnimmt. Das gilt nicht immer, aber sein großes Interesse teilt sich mit und erstreckt sich beispielsweise auch auf die Mannschaft des Schiffes, mit dem Simenon unterwegs ist."

Die neuen Leiter des Kunsthauses Zürich, Ann Demeester und Philipp Hildebrand, haben einen Richtungswechsel im Umgang mit NS-Raubkunst angekündigt: "Proaktiv und transparent" soll das Haus jetzt bei der Provenienzforschung vorgehen. In der NZZ hätte es Philipp Meier vorgezogen, wenn das Kunsthaus nicht nur von "verfolgungbedingtem Entzug", sondern von "verfolgungsbedingtem Verlust" sprechen würde, worunter auch Fluchtgut fiele, aber die Ankündigungen seien eine Erleichterung: "Konkret bedeutet das, dass das Kunsthaus nicht mehr zuwartet, bis Erbgemeinschaften von einstigen Kunstbesitzern an es herantreten. Man will das Gespräch mit Betroffenen von sich aus suchen. 'Wir sind ein Museum von globalem Rang. Daher wollen wir auch entsprechende internationale Standards befolgen, was die Provenienzforschung betrifft', sagt Hildebrand. Und die Direktorin des Kunsthauses versichert: 'Es geht hier nicht um Imagepflege und Symbolik, uns ist es ernst.' Dass dies auch schmerzhaft für das Kunsthaus werden könne, räumt Ann Demeester ein. Restitutionen seien keinesfalls auszuschließen." 

Der Versuch, sich mit der historisch belasteten Sammlung Bührle zu schmücken, ist daneben gegangen, atmet in der SZ Isabel Pfaff auf: "Das uneinsichtige, teils geschichtsblinde Verhalten, das Lavieren der Verantwortlichen in den Monaten nach der Eröffnung des Erweiterungsbaus war bemerkenswert. Ann Demeesters Vorgänger Christoph Becker fiel mit Unwahrheiten auf, und der damalige Direktor der Bührle-Stiftung sagte den einprägsamen Satz 'Es darf nicht sein, dass die Sammlung zu einer Gedenkstätte für NS-Verfolgung wird, das wird den Bildern nicht gerecht.'"

Weiteres: Catrin Lorch schreibt in der SZ zum Tod der britischen Künstlerin Phillida Barlow. Besprochen werden die Ausstellung des syrisch-armenischen Künstlers Hrair Sarkissian im Maastrichter Bonnefanten Museum (die die beeindruckte taz-Kritikerin Alice von Bieberstein die Gewaltgeschichte der Region sehr klug vor Augen führte), die in der Alten Feuerwache in Berlin gezeigten Porträts, die die Fotokünstlerin Victoria Tomaschko von Frauen in Haft angefertigt hat (FR) und die Sonderausstellung "Gegossen für die Ewigkeit" der fürstliche Bronzesammlung in Liechtenstein (Standard).
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Bühne

Szene aus "Dogville" am Aalto-Theater Essen. Foto: Matthias Jung

Vom ersten Moment an gepackt hat FR-Kritikerin Judith von Sternburg Gordon Kampes Opern-Adaption von "Dogville", Lars von Triers minimalistische Film-Parabel, am Aalto-Theater Essen. Die düstere Geschichte vom Niedergang eines Dorfes findet sie überzeugend als Musiktheater inszeniert: "Musikalisch bietet Kampe eine ausgefeilte Polystilistik, flirrende Glissandi begleiten die Liebe, die nie auf festen Füßen stehen wird, finster massiv drohen Schlagwerk und Blech. Aber noch gespenstischer ist das scheinbar so arglose Geploinger und Geplinker, das Kampe dramatisch äußerst versiert immer wieder einbaut, um Dogville zu charakterisieren, Ort des stillen Schreckens und des züchtig auf den Nächsten geträufelten Gifts. Man tanzt auch in Dogville, man feiert mit ein wenig Folklore, man singt Kinderlieder. Es ist entsetzlich."

"Die Wahrheit liegt im Theater auf dem Platz, also auf der Bühne", schreibt Jakob Hayner in der Welt und freut sich, dass Wajdi Mouawads Theaterstück "Die Vögel" in München wieder gespielt wird. En detail geht er dabei noch einmal den Vorwürfen nach, die die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) gegen das Stück erhoben hat und findet sie nicht triftig: "Das Spiel mit den Bedeutungen muss man auf der Bühne sehen können, sonst wird es schwierig, egal ob 'Der Kaufmann von Venedig' oder 'Vögel'." Klar sei, dass sich niemand hinter der Figurenrede wegducke.

Besprochen wird außerdem "Letzte Station Torgau" am Schauspiel Leipzig, inszeniert von Hans-Werner Kroesinger und Regine Dura (SZ).
Archiv: Bühne

Musik

Was der ORF kann, kann auch die BBC: an der Kultur sparen und Orchester eindampfen. Von "kläglich gehandhabten Sparmaßnahmen bei der klassischen Musik" spricht Gina Thomas in der FAZ mit Blick darauf, dass mit den BBC Singers der "einzige professionelle Vollzeit-Chor des Landes" komplett eingestrichen und darüber hinaus die Zahl der fest angestellten Musiker bei den drei BBC-Orchestern um 20 Prozent reduziert werden soll. "Die Auswirkungen sind allein wegen des Vorbildcharakters unermesslich, wie namhafte Komponisten, Dirigenten, Musiker und Fachleute aus aller Welt in ihren Protestschreiben gegen den 'kulturellen Vandalismus' unterstreichen. Im Beamten-Jargon behauptet die BBC mit ihrer neuen 'Strategie', 'Qualität, Agilität und Wirkung' priorisieren und die öffentliche Mission des Senders auf dem Gebiet der klassischen Musik kräftigen zu wollen. Die vage Ankündigung, das gesparte Geld, das sich möglicherweise auf weniger beläuft als Linekers Gage von rund 1,35 Millionen Pfund im Jahr, teilweise in Bildungszwecke zu investieren, wird als hohle Beschwichtigung empfunden. Sie hat im Zusammenhang mit den radikalen Kürzungen der staatlichen Subventionierung des als elitär gebrandmarkten klassischen Musikbetriebs außerdem die Frage aufgeworfen, was diese Ausbildung bezwecken soll, wenn die Möglichkeiten zur Ausführung eines Musikerberufes derart schrumpfen."

Außerdem: Britische Musiker unterstützen Roger Waters, dessen Frankfurter Konzert die Politik verbieten lassen will, meldet die FAZ. Außerdem will Waters gegen Auftrittsverbote klagen, meldet der Tagesspiegel. Besprochen wird eine von Johannes Kalitzke dirigierte Aufführung von Chaya Czernowins "The Fabrication of Light" in Wien (Standard).
Archiv: Musik