Efeu - Die Kulturrundschau

Wie zwei weiße Tauben

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07.03.2023. Die Zeit verortet Steven Spielbergs Film "Die Fabelmans" in der amerikanischen Mytho-Poetik zwischen John Ford und David Lynch ein. Die FR warnt heiter vor der kulturellen Aneignung, die Salman Rushdie in seinem neuen Roman "Victory City" durchexerziert. FAZ und Standard erliegen der humanistisch-pazifistischen Prokofjew-Inszenierung von "Krieg und Frieden" in München. Die NZZ begrüßt, dass die Sammlung Bührle jetzt auch auf Fluchtgut hin untersucht wird. Der SZ graut vor der Büroarchitektur aus den Neunzigern, die mit der Erweiterung des Kanzleramts in der Berliner Mitte droht.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.03.2023 finden Sie hier

Film

Widersprüchliche Erfahrungen von Glück und Schmerz: Steven Spielbergs "Die Fabelmans"

Für Filmmythen-Surfer Georg Seeßlen ist Steven Spielbergs "Die Fabelmans" - die deutlich autobiografisch gefärbte Geschichte der Familie Fabelman, deren Sohn erst Filme liebt und dann selber welche dreht - ein gefundenes Fressen: Ganz tief dringt Spielberg hier ins Gewebe der eigenen Familienerfahrung vor. "In jeder Familiengeschichte stecken Geborgenheit und Albtraum, große Zuwendung und schlimmer Verrat, Inspiration und Trauma", schreibt er in der Zeit. "Und manchmal bleibt einem zur Bewältigung dieses Widerspruchs nichts anderes als die Kunst. Genau davon handelt Steven Spielbergs 'Die Fabelmans'. Von einem jüdischen Jungen aus Ohio, der unbedingt Filmemacher werden musste, um mit der Kamera die widerstrebenden Erfahrungen und Erinnerungen von Glück und Schmerz zu kontrollieren. Und davon, dass dieses magische Selbstbild, bevor es selbst wieder zum Klischee wird, erst buchstäblich ver-rückt werden muss, um richtig interessant zu sein." Auch "ist der Film ein Vorschlag, das mittlerweile doch recht umfangreiche Filmwerk des Steven Spielberg noch einmal ganz anders zu lesen. Zum Beispiel als ver-rückte Soziologie der amerikanischen Mittelschicht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Oder als Mittelstück einer Mytho-Poetik der Angst und der Sehnsucht, die ein John Ford begründete und ein David Lynch dann wieder zerlegte."

Außerdem: Für ZeitOnline befasst sich Julian Dörr mit Geschichte, anhaltender Beliebtheit und Wandel der romantischen Komödie.
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Literatur

Sehr gerne las FR-Kritiker Arno Widmann Salman Rushdies neuen Roman "Victory City", der auf Deutsch erst Ende April erscheint. Der Schriftsteller erzählt darin die Geschichte des hinduistischen Königreichs von Vijayanagara, allerdings mit den Mitteln der Fantastik und Mythologie. "Inmitten einer frei erfundenen Traumzeit stehen wir in jedem Satz der Erzählung immer auch mitten in unserer von Identitätskämpfen bestimmten Gegenwart. 'Die Dichter lügen' war einer der Einwände der antiken Philosophie gegen die Poesie. In fast all seinen Büchern hat sich Salman Rushdie mit dem vertrackten Verhältnis von 'Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne' beschäftigt. ... Wer 'kulturelle Aneignung' nur als Schimpfwort kennt und nicht als Lust aufs Unbekannte, der wird mit Salman Rushdie nichts anfangen können. Und mit 'Victory City' schon gar nicht." Dieser Roman "ist ein Spiel mit Traditionen und Überlieferungen der unterschiedlichsten Kulturen. Sie werden aufgesaugt und eingespeist in eine in New York ausgesponnene Mythologie vom Aufstieg und Untergang eines südindischen Reiches, von Männern und Frauen, von Geschichte und Geschichten, von Wahrheit und Lüge, Kaskaden von Einfällen und Reflexionen."

Im CrimeMag bittet Thomas Wörtche bei aller Literaturwerdung der Kriminalliteratur darum, doch bitte nicht die grellen Wurzeln des Krimis aus dem Blick zu verlieren, nämlich "wo sie ihren Ruf und Reputation als 'populäre Kultur" recht eigentlich erworben hat: vom Trash, von der Pulp Fiction, vom Lesestoff für möglichst viele Menschen, ohne Schwellenangst vor Hoher Kultur zu erzeugen." Eine ganze Reihe von Neuerscheinungen zeigt dem Kritiker aber auch, dass es anders geht und sich dabei sogar der eine oder andere Kommentar zum Zeitgeschehen unter die Sensationen hebt: "Insofern scheinen sich Pulp-Strukturen sehr gut zur literarischen Bearbeitung von zeitgenössischen Themen zu eignen. Gerade dann, wenn die Texte sich eben nicht von ihren 'subliterarischen' Wurzeln distanzieren, sondern sie produktiv einsetzen. Die rohen, schmutzigen Elemente des Pulp, die durchaus neuralgisch-unkorrekte Momente enthalten können, bewahren vor der Falle der 'guten Sprache', des 'sauberen Plots' einerseits, und hochgeblasener literarischen Ambitionitis. Mühsam als biedere Kriminalromane getarnte Sozialreportagen oder Betroffenheitsliteratur kann man glücklicherweise so nicht produzieren."

Michal Wurmitzer vom Standard blickt sich in der Kinderbuchverlagswelt um und erblickt eine allseitig verunsicherte Branche - wie ihm das Beispiel des Puffin Verlags zeigt, der Roald Dahl sprachlich erst entschärfte, dann aber nach einem allgemeinen Aufschrei einlenkte und eine parallele Ausgabe der Originalausgabe ankündigte. "Guter Rat ist teuer, schlecht beraten zu sein noch teurer. Man will auf Kunden, woke wie nostalgische, nicht verzichten. ... Die Kinderbuchbranche bemüht sich gerade, vielen Anforderungen gerecht zu werden. Sich ihrer selbst ganz sicher scheint sie dabei nicht. Denn Kinderliteratur ist doch mehr als nur Erziehungshilfe, auch wenn sie oft pädagogische Aufgaben erfüllt." Doch "würden Bücher jetzt aber 'in erster Linie nach ihrem Diskriminierungspotenzial' beurteilt, fiele man in eine Zeit zurück, als sie vor allem 'pädagogische Bedürfnisse' Erwachsener befriedigen sollten. Kinder wollen eben auch Widersetzliches."

Weitere Artikel: In der NZZ schreibt Sergei Gerasimow weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Besprochen werden unter anderem Teresa Präauers "Kochen im falschen Jahrhundert" (Welt), Birgit Birnbachers "Wovon wir leben" (NZZ), Wolfgang Hermanns "Bildnis meiner Mutter" (Standard), Fernanda Trías' "Rosa Schleim" (SZ) und Mariam Kühsel-Hussainis "Emil" (FAZ).
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Bühne

Prokofjews "Krieg und Frieden" an der Bayerischen Staatsoper. Foto: W.Hoesl

Am Ende von Dimitri Tcherniakovs Inszenierung von Sergej Prokofjews monumentaler Oper "Krieg und Frieden" an der Bayerischen Staatsoper München treten Olga Kuchynska, die Sängerin der Natascha Rostowa, und Andrei Zhilikhovsky, der Sänger des Andrej Bolkonski in Ukraine-T-Shirts auf die Bühne: Auch sonst ist die heikle Gratwanderung zwischen Kunst und Politik in diesem Stück gelungen, stellt Jan Brachmann in der FAZ fest. Das liegt an bewussten Streichungen, so wurde unter anderem der monumentale russische Schlusschor am Ende des Stücks ausgelassen, zum anderen am Fokus, den Vladimir Jurowski bei der Musik gelegt hat: "Jurowski legt das Schwergewicht auf den Lyrismus, den Pazifismus, den Humanismus in diesem Werk, die das Erbe Tolstois seien, während der stalinistische Hurra-Patriotismus - so Jurowski - aufs Konto der Librettistin, Prokofjews zweiter Ehefrau Mira Mendelson, gehe. Was man dann hört, in der Frühlingsnacht der Eingangsszene, später beim stillen Sterben Bolkonskis, ist ernst, zärtlich, liebevoll, sorgfältig musiziert. Und selbst in den Massenszenen geht es Jurowski im Orchester mehr um Schärfe als um Kraft."

Joachim Lange hebt im Standard die symbolische Bedeutung des Bühnenbildes hervor, das Tcherniakov dem Säulensaal des Moskauer Hauses der Gewerkschaften nachempfunden hat: "Es ist der wohl geschichtsträchtigste Saal Russlands. Es war der Ort von Kongressen, Lenin-Reden, Schauprozessen und Aufbahrungen von berühmten Toten wie Lenin, Stalin und etlichen Nachfolgern bis hin zu Michail Gorbatschow. Dass dieser berühmte Saal auf der Münchener Bühne die Anmutung einer Notunterkunft für Flüchtlinge (oder Bedrängte) von heute hat, ist wohl die zentrale Pointe, mit der Tcherniakov Position bezieht." Ganz bezaubert von den Sängern ist Eleonore Büning im Tagesspiegel: "Wie zwei weiße Tauben tauchen sie auf aus der buntgescheckten Menge. Wie Runen fliegen ihre Parlandoworte aneinander vorbei. Ihr Sopran: sonnig, kokett, stark, seelenvoll. Sein Bariton: samtwarm, rund, hell, verführerisch. Ein Sängertraumpaar." Auch SZ-Kritiker Reinhard Brembeck findet die Inszenierung gelungen.

Im Tagesspiegel kann Rüdiger Schaper verstehen, dass sich das Berliner Staatsballett schwer mit der Choreografie "Petruschka" tut, die es von Choreograf Marco Goecke schon vor Jahren eingekauft hat. Goeckes Hundekot-Attacke auf die FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster bekommt hier eine besondere Resonanz: "Zum Beispiel gab Wiebke Hüster in der FAZ dem designierten Intendanten des Berliner Staatsballetts Christian Spuck keine Chance. Spuck sei 'so geeignet, das Staatsballett Berlin zu führen, wie Justin Bieber, das Amt des Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker auszufüllen'. Der Choreograf werde der Ballett-Tradition nicht gerecht, könne nur 'Fragmente des bildungsbürgerlichen Kanons' schick und postmodern verpacken. Das weiß aber vorher niemand. Wiebke Hüster ist eine gefürchtete, oft überharte Rezensentin. Und die Tanzwelt ist klein. Da heilen Wunden schlecht. Animositäten gedeihen dafür umso besser."

Besprochen werden Andreas Homokis Inszenierung von Wagners "Siegfried" an der Oper Zürich (NZZ), Christopher Rüpings Inszenierung von Sarah Kanes "Gier" in Zürich (die für SZ-Kritiker Egbert Tholl "zum Faszinierendsten" gehört, was er seit Langem im Theater sah), Sven Regeners und Leander Haußmanns "Intervention!" am Thalia-Theater (deren Absurdität FAZ-Kritiker Jan Wiele auch dank Jens Harzer genießen kann),  Sebastian Hartmanns Inszenierung von Schnitzlers "Traumnovelle" in Frankfurt (taz), das Stück "Knast" im Theaterhaus Jena (taz).
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Architektur

Das klammernde Kanzleramt. Entwurf: Schultes Frank Architekten 

Natürlich wird an einer wahrscheinlich milliardenteuren Erweiterung fürs Kanzleramt herumgemäkelt, weiß auch Peter Richter in der SZ, aber die Gestrigkeit des Entwurfs aus dem Büro von Charlotte Frank und Axel Schultes ärgert auch ihn: "Axel Schultes ist jetzt Ende siebzig, trägt die Hemdkragen aber immer noch so grundsätzlich als Erkennungszeichen hochgeschlagen wie vor dreißig Jahren. Er redet auch noch so. Und die Architektur sieht auch noch genauso aus. Das kann man konsequent nennen. Nach all den Diskussionen über die Klimabilanz von Neubauten im Allgemeinen und Beton im Speziellen, bei der gewachsenen Skepsis gegen große Glasflächen (Vogelschutz!), bei all den Debatten über Bürokratieabbau, Machtgesten, Flächenversiegelung, flexiblere Arbeitsorte und so weiter, ist aber schon erstaunlich, wie umstandslos hier diese Büroarchitektur aus den Neunzigern wieder hereingewinkt wird."
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Stichwörter: Kanzleramt, Bürokratieabbau

Kunst

Die Sammlung Bührle im Kunsthaus Zürich muss ein weiteres Mal auf mögliche Restitutionsfälle untersucht werden, berichtet Philipp Meier in der NZZ. Betroffen sind Werke von Cézanne, Monet, Manet und van Gogh, die von der Sfitung nicht als Raubgut, sondern als Fluchtgut eingeschätzt und deshalb nicht restituiert wurden: "Die Stiftung Bührle vertrat stets die Auffassung, dass Restitution im Fall von Fluchtgut ausgeschlossen sei. Raphael Gross dürfte solche Fälle aber unter dem Gesichtspunkt 'NS-verfolgungsbedingten Verlusts von Kulturgütern', unter den auch Fluchtgut fällt, betrachten. Ein solcher Fall ist Gustave Courbets Porträt des Bildhauers Louis-Joseph Lebœuf von 1863. Lisbeth Malek-Ullstein trennte sich von dem Werk, um sich im Exil eine neue Existenz aufbauen zu können. Es befand sich in Zürich, als sie es 1941 zum Verkauf gab. Die Stiftung Bührle kam zum Schluss, dass das Bild 'unter Wahrung der Interessen' seiner Eigentümerin angekauft wurde. Was Raphael Gross an dem Fall besonders interessieren könnte, ist die Frage, ob Lisbeth Malek-Ullstein das Bild auch verkauft hätte, wäre sie nicht als Jüdin von den Nazis verfolgt gewesen."

Für Monopol unterhält sich Sebastian Frenzel mit Yvette Mutumba über das zehnjährige Bestehen ihres Magazins Contemporary And zu Kunst aus Afrika und der globalen Diaspora. Besprochen werden die Schau "Verdammte Lust" zum Verhältnis von Kirche, Körper und Kunst im Diözesanmuseum Freising (FAZ), eine Ausstellung des iranischen Fotografen Hashem Shakeri im Rahmen des European Month of Photography (Tsp).
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Musik

Edo Reents (FAZ) und Jakob Biazza (SZ) schreiben zum Tod des Lynyrd-Skynyrd-Gitarristen Gary Rossington. Simon Strauß von der FAZ findet nachvollziehbarer Weise äußerst bizarr, dass Donald Trump mit für den Angriff aufs US-Kapitol verurteilten Gefängnisinsassen eine geradezu gespenstische Version der us-amerikanischen Nationalhymne aufgenommen hat.

Besprochen werden eine Aufführung von Georg Schumanns Oratorium "Ruth" durch den Philharmonischen Chor Berlin und das Brandenburgische Staatsorchester (Tsp) und Zelda Webers Debütalbum "Crude" (Standard).
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Stichwörter: Trump, Donald