Efeu - Die Kulturrundschau

Intensiv spukhaft

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09.09.2022. "Der Krieg ist ein großer Gleichmacher", lernt der Tagesspiegel in Jewgeni Afinejewskis Film "Freedom on Fire", der beim ukrainischen Tag in Venedig gezeigt wurde. Die SZ blickt in Düsseldorf ins Frühwerk von Christo und erkennt Parallelen zu Yves Klein. Beim Internationalen Literaturfestival Berlin klagt die amerikanische Autorin Angeline Boulley über die Ausgrenzung der indigenen Bevölkerung in der Literatur. Ergriffen lauschen SZ und nachtkritik Thomas Köcks wütendem Klagelied über die Klimakrise beim Kunstfest Weimar. ZeitOnline überlegt indes, wie die Klassik klimaschonender werden kann: "Nicht jedes mittelklassige Orchester sollte ständig über den Teich fliegen."
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.09.2022 finden Sie hier

Film

Erzählt im Querschnitt: "Atlantide"

Auf "Atlantide" des italienischen Regisseurs und Videokünstlers Yuri Ancarani hatten wir gestern schon verwiesen, im Perlentaucher bespricht nun Sebastian Markt den Film, der sich mit hochschießenden Stilisierungen dem Treiben junger Leute in den Lagunen um Venedig widmet: "Die meiste Zeit nimmt sich der Film, um von nichts zu handeln und stattdessen unter einem hypnotischen, Hip-Hop, Techno und Symphonischeres amalgamierenden Soundtrack Momente auszubreiten, die im Querschnitt erzählen. Gegen Ende spitzt 'Atlantide' sich zu einer Art Geschichte zu, die ein tragisches Ausrufezeichen unter ein schillerndes Bild setzt, das halb aus der Zeit gehoben scheint. 'Atlantide' ist ein hybrides Werk: ohne Drehbuch, und ohne echten Plot, über lange Zeit hinweg gemeinsam mit den Laiendarstellern entwickelt, aus deren Leben schöpfend, und zugleich von einer ausgestellten Künstlichkeit, die dem Ansinnen, aus einer Lebenswelt zu berichten weniger entgegensteht, als sie dessen Mittel der Wahl ist: ein fantasierendes Durchdringen einer spezifischen Jugendlichkeit." Auch Rüdiger Suchsland jubelt auf Artechock: "Schillernde Unsicherheit, aufregendes Kino."

Die Wahrheit des Kriegsalltags: "Freedom on Fire"

In Venedig selbst gehen derweil die Filmfestspiele weiter: Mit einem Panel "Filmmakers under attack" und zahlreichen Premieren hat das Festival einen ukrainischen Tag eingelegt. Gezeigt wurde etwa Jewgeni Afinejewskis "Freedom on Fire", der die Aufnahmen von 43 Kameraleuten, die das Kriegsgeschehen dokumentieren, zusammenstellt, berichtet Christiane Peitz im Tagesspiegel. "Der Krieg ist ein großer Gleichmacher. Die verwackelten Aufnahmen von bombardierten  Wohnblocks und erschöpften, verzweifelten Menschen, ähneln einander, in welcher Stadt sie auch immer entstanden. Die Kinder, die seit Wochen in Bunkern und Kellern leben und kein Tageslicht gesehen haben, malen Ostereier-Bilder für die ukrainischen Soldaten. ... Während Yaroslav Melnyk, der ukrainische Botschafter in Italien, auf dem Podium darauf hinweist, dass Russland auch gegen die Kultur seines Lands Krieg führt, spricht Regisseur Afinejewski über die moralische Verpflichtung, die Wahrheit des Kriegsalltags zu zeigen. Die Ignoranz wie bei der Krim-Annexion 2014 dürfe sich nicht wiederholen, auch deshalb hatte er es eilig mit 'Freedom on Fire'."

Das Festivalprogramm wirkt wie ein für die Nachwelt zusammengestellter Katalog der globalen und gesellschaftlichen Problemstellungen des Jahres 2022, resümiert Hanns-Georg Rodek in der Welt. Aus dem Programm am Lido werden außerdem Luca Guadagninos Kannibalen-Romanze "Bones and All" (Artechock), Andrew Dominiks Marilyn-Monroe-Biopic "Blonde" (FR, FAZ), Florian Zellers "The Son" mit Vanessa Kirby (Tsp, SZ) und Alice Diops "Saint Omer" (taz) besprochen.

Weitere Artikel: Der Münchner Kinobetreiber Thomas Kuchenreuther ärgert sich auf Artechock unter anderem über das "obsolete, völlig veraltete Filmförderungsgesetz von 1976, das den veränderten jetzigen Gegebenheiten überhaupt nicht mehr entspricht". Im Berliner Kino Arsenal beginnt heute Abend eine Filmreihe zum Thema "Women Make Film", deren Eröffnungsfilm - Tang Shu Shuens Debütfilm "Dong Fu Ren" von 1970 - uns Nikolaus Perneczky im Perlentaucher besonders ans Herz legt: In diesem historischen Melodram aus dem China des 17. Jahrhunderts geht es um die "Witwe eines Lehrers im ländlichen China des 17. Jahrhunderts, in deren Herzen ein stiller Kampf mit den herrschenden Sitten tobt".

Besprochen werden Cédric Klapischs Ballettfilm "Das Leben ein Tanz" (Artechock, FAZ), Blerta Bashollis Kosovokriegsdrama "Hive" (critic.de, ZeitOnline), der auf Arte gezeigte Brandenburg-Krimi "Lauchhammer" (FAZ) und Teresa Fritzi Hoerls Teeniefilm "Alle für Ella" (Artechock, Welt).
Archiv: Film

Kunst

Natürlich sieht SZ-Kritiker Alexander Menden in der ersten posthumen Christo und Jeanne-Claude-Retrospektive mit dem Untertitel "Paris. New York. Grenzenlos" im Düsseldorfer Museum Kunstpalast vor allem Fotografien der Werke der beiden Verpackungskünstler. Und doch erhält er auch einen überraschenden Einblick ins Pariser Frühwerk Christos: "Neben einem Drip-Painting, das offenkundig von Jackson Pollock beeinflusst ist, ist eine Art Kraterlandschaft auf Leinwand zu sehen. Die Gegenüberstellung mit Arbeiten von Yves Klein und Lucio Fontana mit ihrer Oberflächenmanipulation lässt Christo viel weniger als künstlerischen Solitär erscheinen." Und schon früh "beginnt Christo mit ersten Verpackungsobjekten. Der Akt der Verhüllung ist dabei entscheidender als der Gegenstand, sei es die Bild-Zeitung oder ein Fahrrad. 1968, nach dem Umzug des Paares nach New York, wickelte er für das Institute of Contemporary Art eine nackte Frau ein. Der fetischistische Aspekt dieser Praxis wurde wohl nirgends sonst so deutlich."
Joanna Piotrowska: Sleeping Throat, Bitter Thirst, Ausstellungsansicht, Foto: Raimund Zakowski / Kestner Gesellschaft

Ein Glück, dass die Arbeiten der polnischen Fotografin Joanna Piotrowska nun in der Ausstellung "Sleeping Throat, Bitter Thirst" in der Hannoveraner Kestnergesellschaft gezeigt werden, freut sich Till Briegleb ebenfalls in der SZ. Denn ihre "stillen Beobachtungen" zu "merkwürdiger Nähe und absonderlicher Intimität", derzeit auch auf der Biennale in Venedig zu sehen, gehen dort fast unter, meint er: "In den Räumen der Kestnergesellschaft wirken die gleichen Motive durch die Gefangenschaft in einer Zelle aus Haut plötzlich intensiv spukhaft und irritierend. Das Doppelporträt einer Frau mit einem Männerarm, der zur einen Seite mit einer merkwürdigen Fingerspreizung an ihren Busen greift, zur anderen Hälfte den Zeigefinger als Schweigegebot auf ihre Lippen legt, mag eine Geschichte des Missbrauchs erzählen, aber vielleicht auch ein Spiel der Verliebtheit darstellen, wofür die Entspanntheit der Frau spricht. (...) All diese Porträts bleiben in der Schwebe zwischen Spiel und Gewalt, Bedrohlichkeit und Einverständnis."

Lucian Freud hätte wohl wenig von dieser Ausstellung gehalten, glaubt Gina Thomas in der FAZ: Er mochte seinen Großvater Sigmund, hielt aber wenig von dessen Lehre. Und doch stellt das Londoner Freud-Museum Lucians Werk nun in den Kontext der Familie: "Es sagt viel aus über Lucian Freuds perfiden Humor, dass eines seiner weiblichen Modelle erzählte, welchen Spaß dem Maler die Vorstellung bereitete, dass Kritiker seine Gemälde auf freudsche Einflüsse untersuchten. Auf einem Aktbild, für das sie Modell saß, liegt sie wie Manets Olympia halb aufrecht auf einem Bett. Ihre Füße ruhen auf einem zerfetzten Kissen, während Kirschen sich an ihr Gesäß schmiegen. Freud habe ihr angekündigt, dass er das Kissen so durchstechen wolle, dass Federn in alle Richtungen gestreut würden. Dann sei er in Gelächter ausgebrochen bei dem Gedanken, was wohl sein Großvater von dem aufgespießten Kissen und den Kirschen gehalten hätte."
Archiv: Kunst

Literatur

Der Tagesspiegel dokumentiert den zum Auftakt des Internationalen Literaturfestivals Berlin gehaltenen Vortrag der Bestseller-Autorin Angeline Boulley, die darin, ausgehend von ihren eigenen US-indigenen Wurzeln, über die verkürzte Darstellung oder gar Ausgrenzung der indigenen Bevölkerung aus der Literatur nachdenkt. "Bücher haben große Macht. Wenn es nur die Geschichten einiger weniger gibt, werden die Botschaften der Bücher durch eine schmale Linse gefiltert. Wenn man die Wahrheit nicht lehrt, tritt anderes an ihre Stelle. Wenn die einzigen Geschichten über indigene Völker durch die schmale Linse von 'Unsere kleine Farm' oder anderen ähnlich verzerrten, fehlerhaften, unvollständigen Büchern gefiltert werden, erfährt man über diese Völker nicht die Wahrheit. ... Joyce sagte: 'Im Besonderen ist das Universelle enthalten.' Ich wollte eine spezifische Geschichte erzählen, die in meiner Gemeinschaft, den Ojibwe, angesiedelt ist, und in der viele Zwischentöne, unbequeme Wahrheiten und Augenblicke der Freude enthalten sind."

Für viel Aufsehen beim Auftakt des Internationalen Literaturfestivals Berlin sorgte auch der Historiker David Van Reybrouck mit seiner Rede, in der er vor allem das Artensterben anprangerte und die Umweltzerstörung als neuen Kolonialismus des Nordens am Süden bezeichnete - unser Resümee dazu in unserer Debattenrundschau.

Außerdem: Der Schriftsteller Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Julia Hubernagel berichtet in der taz von einer Berliner Veranstaltung mit dem chinesischen Schriftsteller Wu Ming-Yi. In der SZ verrät die Schriftstellerin Shida Bazyar, was sie gerade liest - nämlich Achim Doerfers "Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen" über jüdische Rache und jüdischen Widerstand. Erhard Schütz räumt für den Freitag Sachbücher vom Nachttisch.

Besprochen werden unter anderem J.K. Rowlings neuer Krimi "Das tiefschwarze Herz" (Standard), Yael Inokais "Der simple Eingriff" (FR), Yves Raveys Thriller "Die Abfindung" (Tsp), neue Ausgaben von Lee Falks Comicklassiker "Phantom" (Tsp), Harald Jähners "Höhenrausch" (FAZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Kristina Andres' "Donnerwetter, nun schlaft mal schön!" (SZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Szene aus: "Solastalgia". Bild: Robert Schittko

Selten war Thomas Köck so "wütend, entsetzt und traurig" wie in seinem Stück "Solastalgia" beim Kunstfest Weimar, schreibt Egbert Tholl in der SZ und staunt, wie Köck den sterbenden deutschen Wald mit einem suizidgefährdeten Familienvater zusammenbringt: "Köck schreibt durchrhythmisiert, musikalisch. Hier, als Regisseur des eigenen Werks, verdichtet er die Uraufführung zu einem langen Schrei. Dafür hat er drei Musikerinnen aus Portugal und Katalonien, die Horn, Oboe und Klarinette spielen, mit ihren Instrumenten kreischen und singen, selten pausieren. Eine von ihnen resümiert die Lage: 'Let's face it: We are fucked.' Sie tragen 'Pussy-Riot'-Strickmasken."

Ein "zirzensisches, nervenzehrendes, oft Ohren strapazierendes Sprach- und Sprechexperiment" erlebt Nachtkritiker Harald Raub, wenn Köck sein Klagelied über Klimakrise, Waldsterben und Depression anstimmt - und doch, es gelingt: "Immer Tempo, immer Action. Die Schauspielerinnen lassen mit Körpereinsatz und Stimme eine Geschichte entstehen, die das Publikum in ihren Bann zieht - und auch gehörig strapaziert. (...) Inquisitorisches und staatsanwaltschaftliche Plädoyers vor dem moralischen Weltgericht dann im ausufernden Kapitel Wald und Flur: Waldsterben, Baumleichen. (...) Man lernt viel über Waldwirtschaft und deren Geschichte, über Tannen und norwegische Fichten und den Rettungsversuch mit importierten Douglasien aus Nordamerika."

Außerdem: In der SZ porträtiert Christine Dössel den Schauspieler Dominique Horwitz, der aktuell einen Demagogen in Mauricio Kagels Solostück "Der Tribun" beim Kunstfest Weimar gibt. Besprochen wird Anthony Pilavachis Inszenierung des "Lohengrin" am Theater Lübeck (nmz).
Archiv: Bühne

Musik

Thomas Schmoll bietet auf ZeitOnline einen Überblick über die Diskussionen und Initiativen, wie die Klassik klimaschonender werden könnte. Manche - allerdings auch nicht prononciert prestigereiche - Häuser untersagen ihren Gast-Orchestern etwa schon die Anreise per Flugzeug. Raphael von Hoensbroech vom Konzerthaus Dortmund allerdings "meint: 'Wir müssen abwägen, ob es entweder dem kulturellen Austausch dient oder künstlerisch einzigartig ist. Nicht jedes mittelklassige Orchester sollte ständig über den Teich fliegen.' ... Ohnehin raten viele Akteure davon ab, den Blick zu sehr auf Reisen und insbesondere Flüge zu richten. 'Man sollte Maßnahmen mit großem Hebel priorisieren und nicht aktionistisch werden, nur weil es gut aussieht", sagt von Hoensbroech. In der Regel sind es die Konzertsäle selbst, die die höchsten Emissionen erzeugen. 'Bei uns macht das beinahe die Hälfte des CO₂-Ausstoßes aus, etwas mehr als ein Drittel entfällt auf das Publikum, 15 Prozent auf die Künstler, wobei der Anteil der Solisten daran minimal ist', sagt der Intendant unter Berufung auf eine eigene Analyse. Veranstaltungsorte setzen deshalb stark auf die Erhöhung der Energieeffizienz."

Ulf Poschardt hat sich für die Welt den Hoodie übergezogen und feiert die Automobilkultur des schwarzen US-Hiphop, in dem dicke, dickere und allerdickste Karosserien noch widerspruchsfrei fetischisiert werden: Der Enzo von Ferrari ist ein Star am Auto- und damit im Hiphop-Himmel und "Hiphop nutzt diese Starpower, weil die protestantische, gebildete, weiße Mittel- und Oberschicht das Auto aufgegeben hat. Die in diesem Milieu einst weit verbreitete Sportwagen-Kennerschaft löst sich auf und wird durch Yoga-Wissen und vegane Kochkunst substituiert. Einmal mehr ist die Popkultur ein Festspeicher der Gegenwart."

Außerdem: Dass wir auch heute noch etwas von Ozzy Osbourne haben, verdanken wir vor allem der fürsorglichen Pflege, die ihm seine Ehefrau Sharon angedeihen lässt, schreibt Frank Schäfer in der NZZ. In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus dem Popmusiker Dave Stewart zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Panda Bears & Sonic Booms "Reset" (ND), der von Juliane Streich herausgegebene Band "These Girls, too mit "feministischen Musikgeschichten" (taz), ein neues Album vom Julia Hülsmann Quartett (FR), der Auftakt der Arab Music Days in Berlin (Tsp), ein Auftritt von Asmik Grigorian mit dem Pianisten Lukas Geniušas in Frankfurt (FR) und Jockstraps Debütalbum "I Love You Jennifer B" (taz).


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