Efeu - Die Kulturrundschau

Koketterie mit belasteten Zeichen

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27.04.2022. Tagesspiegel und ZeitOnline nehmen David Simons neue Baltimore-Serie "Mini-Serie "We Own This City" so begeistert wie deprimiert auf: Was in "The Wire" schon schlimm war, ist jetzt noch schlimmer. Die SZ reißt sich im Prado die Maske vom Gesicht und atmet tief durch vor Bruegels Allegorie des Geruchssinns. In der FAZ beobachtet Thomas Oberender, wie jetzt auch in der Theaterwelt NFT-Glaubensgemeinschaften ihre Messen abhalten. Der Standard lauscht mit Rammstein dem Wind im Wald.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.04.2022 finden Sie hier

Film

Baltimore, 14 Jahre nach "The Wire": "We Own This City" (HBO)

David Simon ist wieder da und wieder in Baltimore, wo der Journalist und Autor bereits seinen Polizeiserien-Klassiker "The Wire" ansiedelte. Nun wirft er mit der Mini-Serie "We Own This City" erneut einen Blick auf die Polizei von Baltimore, genauer: auf einen realen Fall von Polizeikorruption. Dabei geht es nicht ums Nacherzählen dessen, was geschehen ist, sondern "um eine Suche nach den Ursachen eines systemischen Versagens", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel: "dem Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Polizei; den Fehlern eines Systems, das kriminelle Polizisten fast zehn Jahre ohne Rechenschaftspflicht gewähren ließ; und die Folgen einer Zero-Tolerance-Politik, die ganze Nachbarschaften zerstört." Dabei entwirft er "ein komplexes Mosaik, das die Versäumnisse auf allen Ebenen durchleuchtet, von der Polizei bis in die Judikative." Für ZeitOnline-Kritiker Daniel Gerhardt ist es "ein deprimierendes Wiedersehen", denn er muss feststellen: "Alles, was in The Wire schon schlimm war, ist jetzt also noch schlimmer" - womit er nicht die Serie, sondern die Realität meint.

Weitere Artikel: Der österreichische Film sieht einem Annus horribilis entgegen, fürchtet Valerie Dirk im Standard: Nicht nur schließen sich gerade die Corona-Töpfe der letzten zwei Jahre, auch die gängigen Fördertöpfe sind fürs laufende Jahr schon fast ausgeschöpft. Ebenfalls im Standard führt Dominik Kamalzadeh durchs Programm des Linzer Festivals "Crossing Europe". Isabella Caldart von der taz fällt auf, dass die Zeit des Bingens zu Ende geht: Immer mehr Streaminganbieter schalten - wohl auch, weil sie auf den wiederkehrenden Turnus von Social-Media-Hypes setzen - wieder zurück auf den wöchentlichen Auslieferungsmodus von Serien. Robert Eggers spricht in der taz über seinen Wikingerfilm "The Northman" (unsere Kritik) und erklärt, warum er trotz seiner Abneigung gegenüber Macho-Stoffen einen solchen Testosteron-Film gedreht hat: Ihn interessierten "Poesie, Naturalismus, die Emotionen großer Familiensagen".  In der FAZ gratuliert Andreas Kilb Anouk Aimée zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden Daniel Rohers BBC-Film über Nawalny (NZZ, mehr dazu bereits hier), Gaspar Noés Sterbedrama "Vortex" mit Dario Argento (TA), die Serie "Gaslit" mit Julia Roberts (Presse), Andreas Dresens "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush" (Zeit), Florence Miailhes Animationsfilm "Die Odyssee" (Welt, Tsp) und Simon Curtis' "Downton Abbey 2" (SZ).
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Literatur

Den Dresdner Schriftsteller Renatus Deckert befällt bei der Vorstellung, dass in seinen Kindertagen Putin als KGB-Agent seinem Vater vors Auto gelaufen sein und einem Unfall nur knapp entronnen sein könnte, der kalte Schauer der Geschichte: "Immer wieder betrachte ich das Foto auf Putins Stasi-Ausweis, und immer wieder bleibt mein Blick an den kalten Augen hängen. Und was, wenn er es war? Ich schiebe den Gedanken beiseite, schüttele den Kopf über mich selber. Hirngespinste. Aber die Frage verfolgt mich bis in den Schlaf. Was wäre gewesen, was würde sein, hätte mein Vater den Mann über den Haufen gefahren?"

Außerdem: Vom deutschen PEN-Zentrum hört man derzeit nichts als "öde Vereinsinterna", ärgert sich Miryam Schellbach in der SZ. Dabei sei die Arbeit des PEN-Zentrums doch eine durch und durch wertvolle, etwa das "Writers in Exile"-Programm, das verfolgte Autoren nach Deutschland holt. Die NZZ bringt die 50. Folge von Sergei Gerasimows Kriegstagebuch aus Charkiw. Im Tagesspiegel erinnert Steffen Damm an T.S. Eliots vor 100 Jahren veröffentlichtes Versepos "Das wüste Land".

Besprochen werden unter anderem Deborah Nelsons "Denken ohne Trost" (Tsp), Tanja Raichs Anthologie "Das Paradies ist weiblich" (Tsp), Urs Allemanns Lyriband "Carruthers Variationen" (Tsp), Grete Hartwig-Manschingers "Rendezvous in Manhattan" (Standard), Jürgen Nendzas Lyrikband "Auffliegendes Gras" (SZ), Sascha Machts "Spyderling" (Tsp), Eckhart Nickels "Spitzweg" (NZZ), Carl-Christian Elzes Debütroman "Freudenberg" (Tsp), Jérôme Leroys und Max Annas' Thriller "Terminus Leipzig" (Freitag) sowie Asako Yuzukis "Butter" (FAZ).
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Kunst

Jan Brueghel und Peter Paul Rubens: Der Geruchssinn. Bild: Museo Nacional del Prado

Der Prado in Madrid gönnst sich zum Ende der Maskenpflicht eine Feier des Geruchsinns. Es widmet seine Ausstellung einer jener fünf Sinnesallegorien, die Jan Brueghel der Ältere gemeinsam mit Peter Paul Rubens gemalt hat, wie Karin Janker in der SZ erklärt: "Monatelang waren Wissenschaftler von Spaniens größtem Forschungsinstitut CSIC damit beschäftigt, rund 80 Spezies zu identifizieren, die Brueghel im Garten der spanischen Infantin Isabella Clara Eugenia in Brüssel angeordnet hat. Der Garten der Regentin war seinerzeit berühmt: Sie sammelte exotische Pflanzen und ließ daraus Parfum herstellen. Die Arbeit der Forscher legt nun nahe, dass Brueghel seine Bildkomposition nicht nur nach optischen, sondern auch nach olfaktorischen Kriterien entwickelt hat. Der Maler wollte, dass man sein Werk riecht. Für heutige Betrachter eine glatte Überforderung. Die Ausstellungsmacher wissen natürlich um die verkümmerte synästhetische Vorstellungskraft und machen es den Besuchern daher leichter, das Gemälde tatsächlich mit der Nase zu erleben."

In der FAZ sieht Thomas Oberender, bis vor kurzem Intendant der Berliner Festspiele, die "hyperindividualistische, hyperkapitalistische Marktwelt der Kryptokunst" nun auch auf die Bühne übergreifen: Am Wochenende wurde in Berlin eine NFT-Datei für 76.800 Euro versteigert, die die Uraufführung von Robert Wilsons und Philip Glass' "Einstein on the Beach" 1976 in Avignon. Bemerkenswert findet er nicht nur, wie im Berliner Kraftwerk Mitte aus den vollkommen unsinnlichen Blockchain-Prozessen eine pompöse Inszenierung gemacht wurde: "Der zweite Aspekt dieses NFT-Verkaufs einer Theaterszene ist die Tatsache, dass für diesen Verkauf eine globale Gemeinschaft von Sammlern und Händlern aktiviert wurde, die Kryptowährungen nutzen, die sie selbst herstellen und deren Wert sie selbst mitbestimmen können. Was ungefähr so ist, als würden die Berliner Volksbühne oder das Wiener Burgtheater selber Euros prägen, mit denen man ihre Tickets bezahlen kann. Erfolgreiche Künstler und Galeristinnen wussten immer, dass für den hochpreisigen Verkauf nicht nur erstklassige Präsentationsräume und nobilitierende Ausstellungen der Werke in renommierten Institutionen wichtig sind, sondern vor allem die Schaffung und Pflege einer Glaubensgemeinschaft an diese Werke. Nirgends wird so viel gemeinsam und komfortabel gegessen wie in der Welt der Marktführer-Galerien."

Weiteres: Im Guardian schickt nun auch Adrian Searle aus Venedig seinen Bericht von der Biennale. Besprochen wird Fujiko Nakayas Retrospektive "Nebel Leben" im Haus der Kunst in München (Tsp).
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Bühne

Poetisch gegendert: "Richard drei" am Schauspiel Köln. Foto: Krafft Angerer

Gar nicht aus dem Schwärmen raus kommt SZ-Kritikerin Cornelia Fiedler nach Katja Brunners und Pinar Karabuluts Shakespeare-Überschreibung "Richard drei" am Kölner Schauspiel, in der die Titelrolle nicht nur von einer Frau gespielt wird, Yvon Jansen, sondern eine Frau ist. Nach dem Krieg weigert sie sich, wieder gefällige Dienerin zu werden: "Die Titelheldin lügt, betrügt, verführt, verhöhnt, mordet und lässt morden bis die Machtübernahme gelingt, bis sie Königin wird, oder 'Könixin', wie es bei Brunner poetisch gegendert heißt. 'Richard Drei' ist das Porträt eines Machtmenschen außer Kontrolle. Damit bricht die Zeitgeschichte ins Theater ein, ohne dass irgendjemand 'Putin' sagen müsste. Die Schweizer Autorin Katja Brunner, Jahrgang 1991, kombiniert in ihrem Hochgeschwindigkeitstext analytische Schärfe mit der Lust an der Sprachpiraterie. Das erinnert an Elfriede Jelinek und ist doch ganz eigen. Ebenso ihre Kunst, in Mikro-Abschweifungen aus dem Redeschwall Diagnosen einer Menschheit auf Abwegen abzufeuern."

Besprochen werden außerdem Giacomo Meyerbeers preußisches Singspiel "Ein Feldlager in Schlesien", das die Oper Bonn nach 130 Jahren überhaupt zum ersten Mal wieder auf die Bühne gebracht hat ("heftig staatstragend" findet Manuel Brug in der Welt diesen "Schinken", aber die Inszenierung vor allem auch wegen der dezenten Kommentierung sehr verdienstvoll, NMZ), das Tanzstück "Wonderful World" am Stadttheater St. Gallen, das Zirkus-Choreografie und klassisches Ballett verbindet (NZZ), Adena Jacobs' Euripides-Inszenierung der "Troerinnen" am Wiener Burgtheater (FAZ, Welt) und Kornél Mundruczós Inszenierung von Wagners "Tannhäuser" an der Hamburgischen Staatsoper (FR).
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Musik

Spätestens wenn es auf dem neuen Rammstein-Album "Zeit", das kommenden Freitag erscheint, um "dicke Titten" geht, packt Standard-Kritiker Karl Fluch doch sehr die Langeweile des Alles-Irgendwie-Schon-Mal-Gehörten. "Ihre Koketterie mit belasteten Zeichen und geltenden Tabus, oft ins Groteske überhöht, wirkt länger schon vorhersehbar und bemüht. Und angesichts der Obszönität des russischen Krieges gegen die Ukraine wirkt jede aufwendig mit Theatermitteln angestrengte Provokation doch nur wie ein aufwendiger geborener Wind im Wald." Die Botox-Satire "Zick Zack" ist dann auch eher matt geraten:



Außerdem: In Dresden hat das Sinfonieorchester Kiew mit seiner im Vorfeld bereits vielbeachteten Deutschlandtournee begonnen, bei der SZ-Kritiker Egbert Tholl das krachende Unheil hörte wie traurige bitte Poesie. Lotte Thaler resümiert in der FAZ den Heidelberger Frühling, dem künftig Igor Levit als künstlerischer Co-Leiter voran stehen wird. Welt-Kritiker Jan Küveler schwant Übles: Die 2000er-Jahre kehren im Pop zurück.

Besprochen werden neue Popveröffentlichungen, darunter das Debüt "Uno" der Berliner Musikerin Mascha Juno (SZ), und "Gifted", das Debüt der jamaikanischen Musikerin Koffee (taz).

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