Efeu - Die Kulturrundschau

Das Ende der Seifensekte

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.11.2021. Die Kritiker versinken mit Peter Jacksons achtstündiger Beatles-Doku in "Wolken von grenzenloser Kreativität". Die SZ hebt ab im Raumschiff der Stuttgarter John-Cranko-Ballettschule. In Hamburg verneigt sie sich noch einmal vor Tomi Ungerer, der sich nie korrumpieren ließ. Im Freitag erzählt Gisela von Wisocky, wie sie mit Adorno die verschmähte Kindheit freiließ. Und die nachtkritik fordert "intimitätssensibles" Arbeiten am Theater.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.11.2021 finden Sie hier

Musik

In "Get Back" wird viel palavert. Gelegentlich musizieren die Beatles darauf aber auch.

Völlig umgehauen sind die Kritiker von "Get Back", Peter Jacksons auf Disney+ gezeigter, achtstündiger, aus Dutzenden Stunden Rohmaterial und in vier Jahren Montagearbeit gewonnener Doku über die Beatles am Vorabend ihrer Auflösung und beim stundenlangen Beratschlagen, wie es weitergehen könnte. Die Banalität, mit der am Ende das Ende der größten Popband der Musikgeschichte vonstatten ging, mag melancholisch stimmen, schreibt Daniel Kothenschulte in der FR, "doch wenn man Drama und Kreativität nun in leuchtenden Farben vor sich sieht und nicht nur auf verrauschten Bändern hört, ist es das reine Glück. Diese Bilder und der messerscharfe Ton, kunstvoll aus verschiedenen, sich überlagernden Quellen destilliert, lassen uns zwar durchaus tief in Krisen blicken, aber das Gros der Aufnahmen führt in Wolken von grenzenloser Kreativität. Der Zeitpunkt ihrer Auferstehung hätte nicht besser gewählt werden können. Erst heute gibt es digitale Scanner, die aus dem 16mm-Film eine solche Klarheit destillieren können, dass man beinahe vergisst, überhaupt einen Film zu sehen." Einen Eindruck von der Brillanz des aufbereiten Materials vermittelt dieser Clip:



"Dieser Dreiteiler ist die mit Sicherheit exaltierteste, verstörendste und markerschütternd anrührendste Dokumentation, die je über eine Rock 'n' Roll-Band gemacht wurde", schwärmt auch Joachim Hentschel in der SZ, nicht ohne eine allerdings vielversprechende Warnung abzugeben: "Mit den hübschen, auf schnittige Dramaturgie getrimmten Dokus, für die viele Menschen nach dem Abendessen gern noch die Arte-Mediathek hochfahren", habe dieser Film nämlich nichts zu tun. "Für jede Spektakelszene muss oder darf man dann wieder zehn Minuten lang zusehen, wie die Beatles zum zwanzigsten Mal 'Don't Let Me Down' proben, ihre Gitarrensaiten wechseln, sich zum Lunch verabreden, viel rauchen oder basisdemokratisch diskutieren. ... Jackson behandelt sein Material mit dem Respekt eines Historikers, und in diesem Fall ist das eine exzellente Entscheidung." ZeitOnline-Kritiker Daniel Gerhardt beobachtet fasziniert, wie sich den Fab Four die Ermattung ins Gesicht meißelt. FAZ-Kritiker Peter Kemper hat viel Mühe, den "bisweilen wirren Debatten" der Künstler zu folgen. Dlf Kultur hat mit Jackson gesprochen.

Außerdem: Manuel Brug erzählt in der Welt, warum Lembergs Bevölkerung sich gegen eine Mozart-Statue wehrt. Besprochen werden das Buch "M_Dokumente" über die Frauen der Westberliner Punkszene der 80er und ihre Bands wie Mania D, Matador und Malaria (taz), das neue Album von Lana Del Rey, die darin laut tazlerin Dagmar Leischow "etwas tiefere Einblicke in ein Innenleben gewährt, das ihr eigenes sein könnte", Alicia Walters "I am Alicia" (FR) und das neue Post-Punk-Album der Idles (SZ). Wir hören rein:

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Design

Eine Ausstellung in Stockholm zeichnet den internationalen Siegeszug des skandinavischen Designs nach, der vor allem über den Umweg über die USA an Fahrt aufnahm, berichtet Thomas Steinfeld in der SZ. Denn "diese gemäßigte Form der Moderne gehört zu einer Geschichte der politischen Repräsentation. Und zwar nicht nur weil sich das 'Office of War Information', eine im Zweiten Weltkrieg betriebene Propagandaagentur der Vereinigten Staaten, für die Verbreitung des nordischen Stils einsetzte. Die Organisation ging später in der CIA auf. ... John F. Kennedy und Richard Nixon saßen im September 1960 auf dänischen Stühlen, als die Kandidaten für das Amt des amerikanischen Präsidenten zum ersten Mal im Fernsehen gegeneinander stritten. Sie taten es nicht nur weil Kennedy unter Rückenschmerzen litt oder weil Waren aus den nordischen Ländern als politisch unbelastet gelten durften. In den Sitzgelegenheiten spiegelte sich vielmehr der Geist eines gesellschaftlichen Aufbruchs, in dem die Geschichte einem neuen Sinn entgegenzugehen schien: demokratisch, effizient, naturverbunden und dem Neobarock des Stalinismus unmittelbar entgegengesetzt."
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Kunst

Bild: Tomi Ungerer: Zeichnung für Les Trois Brigands, 1961. Sammlung Tomi-Ungerer-Museum - Internationales Zentrum für Illustration © Diogenes Verlag AG, Zürich/Tomi Ungerer Estate Foto: Musées de la Ville de Strasbourg/Mathieu Bertola

Tomi Ungerers "unkorrumpierbaren Willen zur Ungezwungenheit" erlebt Till Briegleb in der SZ noch einmal in der Retrospektive "It's all about freedom", die die Hamburger Deichtorhallen dem Grafiker und Schriftsteller derzeit ausrichtet: "Speziell in Hamburg ist auch Ungerers erotisches Werk ein Pflichtkapitel, schließlich hatte er 1985 einige Monate bei St. Paulis berühmtester Hure Domenica auf der Herbertstraße gelebt, um die Wirklichkeit sadomasochistischer Sex-Arbeit in Wort und Bild zu beschreiben - was dann als 'Die Schutzengel der Hölle' (1986) bei seinem Hausverlag Diogenes erschien. 15 Jahre vorher hatte seine Satire-Serie 'Fornicon' (1970) zu einem Skandal in den USA geführt, der seinen Abschied aus New York 1971 veranlasste. Mit Barbiepuppen als Vorbild hatte er Szenen mechanischer Selbstbefriedigung gezeichnet, die als Liebe zum fetischhaften Sex verstanden werden konnten. Das verziehen amerikanische Eltern dem Wunderkind nicht."

Außerdem: In der FR empfiehlt Sandra Danicke einen Besuch im neuen Showroom des Taschen-Verlags in Köln, in dem derzeit die großformatigen und farbgewaltigen Gemälde von Andre Butzer zu sehen sind. In der FAZ gratuliert Rose-Maria Gropp der Malerin Francoise Gilot zum hundertsten Geburtstag. Besprochen werden die Tomas-Schmit-Ausstellungen "sachen machen" im Berliner  Kupferstichkabinett
 und die "Tomas Schmit Retrospektive" im Neuen Berliner Kunstverein (n.b.k.) (Tell-Review).
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Bühne

Beim Film laut der Theaterregisseurin Magz Barrawasser in der Nachtkritik längst üblich - und beim Theater dringend nötig: Intimitätskoordinatoren, die dafür sorgen, dass "intimitätssensibel" gearbeitet wird. Denn bisher gelte: "Wenn man Glück hat, hat man ein sympathisches Gegenüber für die Kussszene und bespricht in der Garderobe, ob die szenischen Berührungen in Ordnung sind. Wenn man Glück hat, reagiert die Regie offen auf Vorschläge für die körperliche Nähe. Wenn man Glück hat, steht beim Blitzumzug nicht jedes Mal jemand auf der Seitenbühne und guckt zu."

Was gilt denn nun beim Besuch der Berliner Bühnen, fragt Frederik Hanssen im Tagesspiegel. Laut Klaus Lederers Pressesprecher Daniel Bartsch bestehe "für die Häuser die Wahl zwischen drei Optionen: Fordern sie von den Geimpften und Genesenen zusätzlich noch einen tagesaktuellen Schnelltest, entfällt die Maskenpflicht am Platz. Gleiches gilt, wenn die Säle nicht voll belegt sind, sodass ausreichend Abstand gehalten werden kann. Andernfalls ist das Tragen eines medizinischen Mund-Nase- Schutzes während der gesamten Vorstellung obligatorisch."

Außerdem: Im Standard kommentiert Stephan Hilpold die Berufung von Kristina Hammer als neuen Präsidentin der Salzburger Festspiele.
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Film

Schweinerei! "A Pure Place" handelt von einer Sauberkeitssekte.

Nikias Chryssos' auf einer griechischen Insel angesiedelte Sektengroteske "A Pure Place" über einen Hygienefimmel, der zu weit geht, kommt bei critic.de-Kritiker Robert Wagner nicht gut an. Zu sehen ist "eine Farce, die aus Dualismen gespeist wird. Körper und Geist, Kindheit und Erwachsensein, Projektion und Wahrheit, Aufrichtigkeit und Lüge, Schmutz und Reinheit: Die Handlung hat kaum einen anderen Sinn, als diese Kategorien zu setzen und einander felsenfest entgegenzustellen. ... Drastik und (unangenehme) Wildheit such man vergeblich. Weder ist der Film garstig noch sonst irgendwie intensiv. Stattdessen läuft es immer wieder auf dasselbe hinaus, auf einen falschen Prediger in einem täuschenden Weiß." Artechock-Kritiker Gregor Torinus ging anfangs noch gerne mit, doch "je spannender der Film im Prinzip wird, desto vorhersehbarer wird er auch." Irgendwann beschreitet der Film "ausgetretene Genrepfade." Ähnlich geht es Tagesspiegel-Kritiker Simon Rayss: "Das Ende der Seifensekte hätte ruhig ein bisschen schmutziger ausfallen dürfen."

Wenig begeistert ist Rüdiger Suchsland auf Artechock darüber, dass das Staatsministerium für Kultur künftig in grüner Hand sein wird (siehe dazu heute auch unsere Debattenrundschau): "Die Filmpolitik wird auf absehbare Zeit grundsätzlich so weiter vor sich hingurken, wie in den Jahren unter Grütters: Verbändeanhörungen, viel Klein-Klein, etwas mehr Privatwirtschaft, etwas mehr Ornamentales wie Frauenförderung und Grünes Drehen, das aber an der kulturellen Substanz, am maroden Gesamtzustand des deutschen Films und an der Ohnmacht gegenüber den großen Playern in den USA und zunehmend in Asien nichts ändern wird." Zu lesen gebe es im Koalitionsvertrag bislang "schöne Worte, wenig Substanz."

Außerdem: Auf Artechock ist Dunja Bialas mächtig angefressen über Söders erneute Kinoeinschränkungen für Bayern. Filmemacherin Corinna Belz spricht auf Artechock über ihren Dokumentarfilm "In den Uffizien".

Besprochen werden Liesl Tommys "Respect" über Aretha Franklin (Zeit, Tagesspiegel, online nachgereicht von der FAZ, mehr dazu bereits hier), Jane Campions "The Power of the Dog" (Artechock, unsere Kritik hier), Maria Sødahl Krebsdrama "Hope" (SZ), Hans Steinbichlers Melodram "Hannes" (Welt), Nora Fingscheidts "The Unforgivable" mit Sandra Bullock (Zeit), Melanie Lischkers "Bilder (m)einer Mutter" (Artechock), Peter Meisters "Das schwarze Quadrat" (Artechock) und Éric Besnards "À la Carte" (taz).
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Literatur

In ihrem neuen Prosaband "Der hingestreckte Sommer" erzählt Gisela von Wysocki unter anderem davon, wie es zu ihrem gefeierten Roman "Wiesengrund" über Theodor W. Adorno gekommen ist. Michael Angele hat für den Freitag mit der Schriftstellerin über das Schreiben gesprochen. "Das Philosophiestudium bei Adorno trennte mich, wie ich glaubte für immer, von den Chansons und Couplets, die bei uns praktizierte Form der Hausmusik. Im Grunde aber verdanke ich es ihr, der Philosophie, ihrem Reichtum, die von mir verschmähte, ausquartierte Kindheit freizulassen. ... Ich kann die Dinge deutlicher sehen, wenn sie in einem meiner Texte auftauchen. Dann stehe ich auf einmal meinem eigenen Leben als Lesende gegenüber. Kann mir anschauen, welche Erfindungen dazu führten, die Konturen zu schärfen. Sie für mich erkennbarer zu machen. Der französische Philosoph Gaston Bachelard nennt so was 'objektive Träume'. Sie spielen, wie er einleuchtend ausgeführt hat, nicht nur für die Dichter eine Rolle. Für alle Menschen. Ohne dieses mitlaufende Imaginarium würde die Welt uns unbeholfen, zerfasert vor die Augen treten." Zudem ist sie auch "vernarrt in den Gedanken, die Lesenden meiner Bücher nicht zu kennen. Dieses Nichtwissen ist eine enorme Triebkraft."

Außerdem: Lars von Törne spricht mit Reinhard Kleist über "Starman", in dem der Comicautor das Leben David Bowies erzählt. Besprochen wird unter anderem Antje Rávik Strubels "Blaue Frau" (NZZ).
Archiv: Literatur

Architektur

Nun ist die Stuttgarter John-Cranko-Ballettschule auch architektonisch ein "Vorzeigeinstitut", freut sich Dorion Weickmann in der SZ nach dem Besuch des vom Münchner Büro Burger Rudacs Architekten entworfenen Baus, der ihm wie eine "Exkursion in extraterrestrische Gefilde" scheint: "Ein cooler, fast raumschiffartiger Look prägt das Gebäude vom Empfang auf Höhe der Werastraße bis hinunter ins Sockelgeschoss, wo die geräumige Bühne mit 199 Plätzen auch dem Stuttgarter Ballett als Nebenspielstätte dient. Das Interieur ist flächendeckend in edlen Weiß-, Schwarz- und Grautönen gehalten, umso belebender ist der Blick ins Freie auf ein paar Gemüsekisten, in denen Tomaten und Gurken dem Winter entgegenschrumpeln. Spektakulär sind die Stadtimpressionen, fällt doch an jeder Ecke ein anderer Ausschnitt des Stuttgarter Weichbilds durch großzügig verglaste Sichtfelder und erinnert die Bewohner der Ballett-Enklave an die urbane Landschaft da draußen. Beim Wandschmuck haben die Architekten ein striktes Veto eingelegt, nichts darf an die kühlen Mauern aus Sichtbeton, was den Verdacht puristischer Prinzipienreiterei erweckt."
Archiv: Architektur