Efeu - Die Kulturrundschau

Fröhlicher Pestwalzer

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29.12.2020. Der Tagesspiegel blickt mit dem Fotografen Anton Laub in die verrauschte und verrätselte Welt Rumäniens unter Nicolae Ceaușescu. Auf Zeit Online hat der Filmemacher Errol Morris wenig Hoffnung, dass Joe Biden die USA aus der Epoche des Irrationalismus führen wird. In der SZ verrät Steffen Kopetzky, wie er die Angst vorm Sterben besiegt. Der Standard lässt mit Lieselott Beschorner Avantgarde-Puppen tanzen. Und Monika Grütters möchte ihr Mitspracherecht bei den Bayreuther Festspielen geltend machen, melden die Zeitungen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.12.2020 finden Sie hier

Kunst

Bild: Anton Laub: "Last Christmas". Quelle: Kehrer Verlag

Am ersten Weihnachtstag des Jahres 1989 wurde Rumäniens Diktator Nicolae Ceaușescu hingerichtet. "Last Christmas" heißt deshalb auch der aus einem Kunstprojekt hervorgegangene Fotoband von Anton Laub, in dem der aus Bukarest stammenden Fotokünstler mit "Röntgenblick" in das "morbide System" schaut, wie Werner Bloch im Tagesspiegel schreibt: "Es ist eine verrauschte und verrätselte Welt, in die uns der Künstler mitnimmt, die achtziger Jahre und die analoge Fotografie, in der alles politische Chiffre wird. Die unscharf gestellte Linse führt uns in ein politisches Universum, in denen es keine Gewissheiten gibt und bei dem das Grauen noch im kleinsten Detail steckt. (…) Anton Laub ist kreuz und quer durch sein Land gereist. Er hat in Bukarest den Palast des Volkes inspiziert und das Privathaus der Ceaușescus. Er hat den provinziellen Protz und Prunk abgelichtet, Schränke voller Pelze, Bronzelöwen als kitschige Machtsymbole. Auch das berühmte goldene Badezimmer, von dem in ganz Rumänien geraunt wurde."

Lieselott Beschorner, aus der Serie "Puppas", 1975/80 © Wien Museum-MUSA

Im Standard freut sich Katharina Rustler über die Wiederentdeckung der Nachkriegsavantgardistin Lieselott Beschorner, der die Landesgalerie Niederösterreich in Krems nun eine große Retrospektive widmet: "Eine ihrer zentralsten Werkgruppen stellen (…) ihre 'Puppas' dar, die ab den 1970er-Jahren entstanden. Es sind selbstgenähte Puppen aus Wolle, Stoffresten und Perlen, die ans Grotesken- und Fratzenhafte grenzen. Jede ist ein Unikat, manche tragen Namen, alles sind Frauen. Beschorner fertigte über 50 von ihnen an und lebt mit ihnen in ihrem Haus. 'Die Puppen - das sind meine Kinder', erklärt die Künstlerin. 'Mir ist egal, ob schön oder schiach.' Sie sind beseeltes Objekt und fetischhafte Skulptur zugleich."

Weiteres: Im monopol-Magazin blickt Elke Buhr auf ein krisenreiches Jahr 2020 in amerikanischen Museen zurück: "Nach einer Umfrage des amerikanischen Museumsbundes haben 53 Prozent der amerikanischen Museen aufgrund der Corona-Krise Angestellte entlassen müssen. Der durchschnittliche Rückgang ihrer Budgets beträgt 35 Prozent. Allein das Metropolitan Museum in New York schätzt, dass ihm rund 150 Millionen US-Dollar in der Kasse fehlen." Im Tagesspiegel empfiehlt Rolf Brockschmidt, sich den Lockdown mit einer Reise durch das virtuelle Museum With Nof Frontiers zu verkürzen, das derzeit mit der Ausstellung "Sharing History" islamische Kunst aus 445 Orten in elf Ländern zeigt.
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Literatur

Steffen Kopetzky hat im Pandemiejahr das morgendliche Bad in der Eiswassertonne als Antidot gegen die eigene, latente Hypochondrie für sich entdeckt, schwärmt der Schriftsteller in der SZ-Reihe über Kulturschaffende im Krisenjahr: Die Angst vor dem kalten Wasser schlägt die Angst vorm Sterben. Nach dem ersten Hallowach-Schock "lässt das leichte Brennen auf der Haut nach und wird von einer inneren Gespanntheit abgelöst." Bald "stellt sich ein Wärmegefühl ein, man empfindet den eigenen Körper als Öfchen, angeheizt und gesteuert vom Atem. Der Stress, dem der Körper ausgesetzt ist, brennt ihn zu einer lebenden Skulptur herunter, aufgebaut entlang der Atemsäule, die vom Unterbauch bis in die Stirnhöhlen reicht. Es ist, als ob man einem scheuenden Tier Zügel anlegte. Der Körper fühlt sich nun geordnet und leicht an. ... Nach drei bis vier Minuten - jedes Mal bin ich mir sicher, dass ich es noch ein wenig länger aushalten könnte - erhebe ich mich aus dem Eiswasser. Meine Haut ist krebsrot. Meine Stimmung ist erhaben."

Die SZ hat sich im Kulturbetrieb nach den persönlichen Büchern des Jahres umgehört und genug Material für drei Seiten Notizen und Empfehlungen bekommen: Unter anderem legt uns Buchpreisgewinnerin Anne Weber Martina Hefters Gedichtband "Es könnte auch schön werden" ans Herz, Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow empfiehlt Dorothee Elmigers "Aus der Zuckerfabrik", Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy hat sehr gerne Judith Schalanskys "Verzeichnis einiger Verluste" gelesen und Schriftsteller Maxim Biller tröstet sich mit Elisabeth Edls Neuübersetzung von Gustave Flauberts "Lehrjahre der Männlichkeit" darüber hinweg, dass er selber keine deutsche Variante der "Éducation sentimentale" schreiben kann.

Außerdem kürt die Jury von Dlf Kultur und FAZ, zu der auch unsere Krimi-Kritikerin Thekla Dannenberg zählt, die besten Krimis des Jahres. Auf den ersten drei Plätzen sind Garry Dishers "Hope Hill Drive", Young-Ha Kims "Aufzeichnungen eines Serienmörders" und Denise Minas "Götter und Tiere".

Weiteres: In Sils Maria dürfte Friedrich Nietzsche wohl das Twittern erfunden haben, glaubt Wilhelm Schmid in der NZZ. Besprochen werden Olga Tokarczuks Geschichtenband "Die grünen Kinder" (NZZ), Arthur Koestlers "Sonnenfinsternis" (Tagesspiegel), Philipp Spreckels' und Dave Scheffels SF-Comic "Yellowstone" (Tagesspiegel), Leanne Shaptons "Gästebuch" (FR) und Jonis Hartmanns Neuübersetzung von Paul Bowles' gesammelten Gedichten (FAZ).
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Film

Dirk Peitz unterhält sich auf ZeitOnline mit Errol Morris ausführlich über die anhaltende Krise der USA, der der Filmemacher mit seinem 2018 entstandenen, aber bis heute nicht vernünftig verliehenen Porträt "American Dharma" über Steve Bannon den passenden Film zur Seite gestellt hat. Mit dem Sieg Joe Bidens ist das Land keineswegs geheilt, sagt Morris: "In der Zeit, die ich mit Steve Bannon für 'American Dharma' verbracht habe, habe ich lediglich verstanden, dass sein Programm keinerlei positive Erzählung enthält. Ihm geht es darum, alles niederzubrennen, nicht darum, etwas aufzubauen. Dieses Denken hat die vergangenen Jahre in den USA bestimmt, es war eine unglaublich destruktive Zeit." Und "das Land ist weiterhin in Gefahr. Es ist eindeutig gespalten. Aber worüber! Über der Frage, ob die Erde sich erwärmt. Oder ob Masken die Übertragung von Covid-19 verhindern. Wir befinden uns in einer Epoche dunklen Irrationalismus."

Besprochen werden die Netflix-Doku "Zimmer 2806" über Dominique Strauss-Kahn (SZ),  der neue Pixar-Animationsfilm "Soul" (ZeitOnline), die Serie "El Cid" (Presse) und Patty Jenkins' neuer "Wonder Woman"-Film (Welt).
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Bühne

Der Bund hält 29 Prozent der Anteile an der Bayreuther Festspiele GmbH. Grund genug für Monika Grütters, sich die Strukturen der Festspiele genauer anzusehen, wie unter anderem die Berliner Zeitung mit dpa meldet: "Aus Sicht von Grütters geht es 'nicht nur darum, wer wie viel Mitspracherecht hat, sondern vor allem darum, wie wir das Publikum erreichen'. Auch die Bayreuther Festspiele würden zu einem Großteil mit Steuergeldern finanziert. 'Da muss man einfach fragen: Wird die Bringschuld eines national und international bedeutsamen Opernfestivals eingelöst? Werden die Erwartungen des Publikums angemessen berücksichtigt? Sind die Strukturen geeignet, damit ein Höchstmaß an künstlerischer Leistung erbracht werden kann? Da hat es in der Vergangenheit manchmal doch Reibungsverluste gegeben', sagte Grütters."

Schon als die Nachtkritik vor 13 Jahren gegründet wurde, war der Platz für Theaterkritiken in den Zeitungen stark zurückgegangen, sagt Esther Slevogt im taz-Gespräch mit Katrin Bettina Müller. Die Pandemie wird diese Entwicklung langfristig verstärken, meint sie: "Besonders in den Lokalzeitungen. Wir haben dafür einen ganz guten Gradmesser: zu allen besprochenen Inszenierungen machen wir stets eine Kritikerrundschau. Da bröckelt es in den letzten Jahren besonders in den kleineren Städten immer weiter ab, finden wir immer weniger Stimmen, die wir der unseren hinzufügen können. Diese Entwicklung macht Sorge. Wir fühlen uns manchmal wie eine Art Arche Noah des Theaterdiskurses."

Weiteres: Im Freitag-Interview mit Antonia Munding spricht die argentinische Choreografin Constanza Macras über Proben in Zeiten der Pandemie. Besprochen wird die Online-Premiere von Geertje Boedens Inszenierung der "Cinderella" an der Dresdner Staatsoperette. (Nmz)
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Musik

Wiebke Rademacher erkundigt sich für das VAN-Magazin, wie die Musikvermittler im Konzertbetrieb das sich neigende Annus horribilis einschätzen. Vom Runterfahren war keine Spur, der erste Online-Enthusiasmus im März ließ nach den oft eher enttäuschenden Reichweitenzahlen auch rasch nach. Onlinepräsenzen rauffahren, Publika via Webcam bespielen - "der Mehraufwand war enorm: Rechtefragen bei Onlineproduktionen mussten geklärt, Hygieneschutzverordnungen studiert, Videoschnittprogramme gelernt, Postproduktionen betreut und Steuerungsrunden moderiert werden. Und da fast alle Schulen und Spielstätten eine unterschiedliche Linie im Umgang mit der Pandemie fuhren, mussten nicht nur A-, B- und C-Pläne für verschiedene Infektionsgeschehen, sondern auch noch jeweils passgenaue Formate für die unterschiedlichen Zielgruppen entwickelt werden. Und all diese Pläne landeten dann frustrierender Weise doch allzu oft im Papierkorb, weil sich das Infektionsgeschehen negativ entwickelte und eine Durchführung nicht mehr zu verantworten war. 'Wir arbeiten zum Teil 70 statt 30 Wochenstunden - alle hier machen Überstunden', erzählt eine Kollegin." Ziemlich beeindruckend findet Rademacher übrigens, was die Tonhalle Düsseldorf mit kleinem Team in diesem Jahr alles online auf die Beine gestellt hat.

Für die Welt spricht Manuel Brug mit Riccardo Muti, der in diesem Jahr das Wiener Neujahrskonzert wenn auch nur für Videokameras, aber dafür mit Applaus vom Band dirigieren wird. Über Programmänderungen wurde nicht nachgedacht: "Keine Sekunde. Sollen wir jetzt etwa noch nach einem fröhlichen Pestwalzer suchen? ... Das Programm scheint wohlkomponiert. Das bringt auch keine Pandemie durcheinander."

Weitere Artikel: Linus Volkmann plaudert im Freitag mit Tocotronic-Bassist Jan Müller über dessen tollen Podcast Reflektor, für den sich Müller zu großen Gesprächen mit Musikerkollegen aus allen Genres trifft und der seit 2019 ziemlich durch die Decke gegangen ist. In der SZ erzählt Andrian Kreye die Anekdote, wie Marilyn Monroe sich für ihre Freundin Ella Fitzgerald einsetzte, dass diese im legendären Hollywood-Club Mocambo auftreten durfte - wodurch Fitzgerald endgültig zum Star wurde, zum Glück, schließlich "reservierte Ella Fitzgerald der eigentlichen Moderne einen festen Platz in der Popkultur." Stefan Schickhaus gibt in der FR Beethoven- und Streamingtipps. Standard-Musikkritiker Stefan Ender vermisst Konzerte. VAN fragt seine Autorinnen und Autoren nach den Wünschen für 2021. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen befasst sich Arno Lücker diesmal mit Imogen Holst.

Besprochen werden Lunchbox' "After School Special" (FR) und Ana Roxannes Ambientpop-Album "Because of a Flower", mit dem tazlerin Beate Scheder die ruhige Zeit zwischen den Jahren genießt.
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