Efeu - Die Kulturrundschau

Bloß nicht verrückt werden

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.11.2020. In der FAZ erklärt Frank Stella, dass die USA längst nicht so gespalten sind, wie Europa das von Zeit zu Zeit war. Die Welt feiert von solchen Einwürfen unberührt mit Johann Gottfried Schadow die preußische Lässigkeit. In der Berliner Zeitung pochen die beiden geschassten Leiter der Staatlichen Ballettschule Berlin darauf, dass die Vorwürfe gegen sie konkret gemacht werden. Und die taz fragt, ob die angesagten Chunky Boots noch Punk sind oder schon Corona. NZZ und DlfKultur streiten über Systemrelevanz und Selbstgefälligkeit der Kultur.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.11.2020 finden Sie hier

Kunst

Preußische Lässigkeit: Schadows "Prinzessinnen" in der Friedrichwerderschen Kirch. Bild: Wikipedia.

Taumelnd vor Glück und Gloria kommt Welt-Kritiker Tilman Krause aus der Friedrichwerderschen Kirche, in der er die preußische Klassik als reinsten Zaubertraum erlebte. So geschmackssicher und lässig! Und dann erst Schadows Skulpturen: "Schadow ist es und kein anderer, der dem preußischen Klassizismus jenes Air der Entspanntheit verlieh, die diesen Stil aus dem Korsett von edler Einfalt, stiller Größe befreite. Vor diesem schon zu Lebzeiten als Legende verehrten Bildhauer, dem König Friedrich Wilhelm IV. respektvoll einen Stuhl anbot, wenn der 84-Jährige zu Hofe ging ('Setzen Sie sich, Papa!'), hatte keiner gewagt, einen Heerführer Friedrichs des Großen wie Zieten mit elegant gekreuzten Beinen darzustellen, das Kinn nachdenklich in die Hand geschmiegt. Tja, in Preußen konnte man auch einen Reitergeneral zum Intellektuellen stempeln!"

Jasper Johns: Flag, 1955
Vor den Präsidentschaftswahlen in den USA befragt Georg Imdahl für die FAZ zwei amerikanische Kunsttitanen, den 90-jährigen Jasper Johns und den 84-jährigen Frank Stella. Zu Donald Trumps irrlichternder Politik in der Pandemie sagt Johns: "Jeder sagt sich: Bloß nicht verrückt werden! Ich kann ein bis zwei Tage in der Woche ins Atelier gehen, wenn ich zu Hause bin, mache ich eine Menge Collagen. 'A collage a day keeps the virus away.' Künstler sind sehr individualistisch. Sie denken: Es dreht sich alles um mich. Jetzt dreht sich aber alles um 'uns'. Wir hätten die Fähigkeit, damit umzugehen. Die Politisierung der Pandemie ist aber kontraproduktiv geworden, so kann man das nicht machen."
Stella dagegen reagiert eher kühl auf Fragen nach der Spaltung des Landes durch Donald Trump und die Bedeutung der Wahlen: "Die Vietnam-Wahlen 1968 waren noch wichtiger. Das ist meine Erfahrung... Wir werden nicht auseinanderbrechen - wie das im zwanzigsten Jahrhundert in Europa gelegentlich geschehen ist, das sehr darunter gelitten hat. Wir sind auch durch zwei Weltkriege nicht geteilt worden."

Weiteres: Für, ähem, leichte Irritationen hat Töpferkünstler Grayson Perrys Bemerkung geführt, Corona würde die Galerien zwingen, totes Holz loszuwerden, berichtet Oliver Basiano. Oder in anderer Variante: "Dem Arts Society Magazine sagt Perry: Ich glaube, alles im Leben setzt ein bisschen Speck an, der runter muss."
Archiv: Kunst

Bühne

Birgit Walter unterhält sich für die Berliner Zeitung mit den beiden geschassten Leitern der Staatlichen Ballettschule Berlin Ralf Stabel und Gregor Seyffert. Die beiden weisen alle Vorwürfe von sich und sind besonders empört darüber, dass keiner der Anklagepunkte Ross und Reiter benennt: "Schon die Begrifflichkeiten machen uns sprachlos. Sexuelle Übergriffe! Was ist gemeint? Ich habe in 17 Jahren nicht einen Schüler oder Lehrer erlebt, der so etwas behauptet hätte. Wäre uns das bekannt gewesen, hätten wir sofort die Polizei gerufen. Wir brauchen den konkreten Fall: Was ist wem passiert? Aber sämtliche Vorwürfe bleiben anonym, nur zwei Namen sind konkret - unsere", kritisiert Seyffert. Außerdem erklären beide, Vorwürfe gegen Lehrer an Schulaufsicht und Bildungsverwaltung weitergeleitet zu haben, die als einzige abmahnen oder gar kündigen darf. Es gab "Gespräche, es wurde der Verwaltung gemeldet, daraus folgte - nichts. Beide Lehrer sind weiter beschäftigt. Und wir haben Hausverbot."

Und die Kunst ist doch systemrelevant, ruft Marco Frei in NZZ, nachdem er noch einmal am Wochenende zwei Aufführungen erleben konnte: Werner Braunfels' Oper "Die Vögel" in München und Elfriede Jelineks "Bienenkönigin". "Mit dem ungerechtfertigten neuerlichen Lockdown für die Live-Kultur, den Kirill Petrenko, der Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, kürzlich treffender einen 'Knockdown' nannte, ist Deutschland dabei, die hohe Qualität seines reichen Kulturlebens jäh zu verspielen." Thorsten Jantschek kann die Rede von der Systemrelevanz dagegen nicht mehr hören, die mit so viel Selbstgefälligkeit und Heuchelei verbunden sei, wie er im DlfKultur kommentiert: "Nicht in den Galerien haben sich Besucher des diesjährigen Gallery Weekends im September in Berlin angesteckt, sondern danach mit dem Prosecco in der Hand. Ich selbst habe erlebt, wie nach einer Vernissage alle dicht gedrängt vor der Galerie stehen, als ob das Virus die Kulturleute nicht befällt."

Weiteres: Falk Schreiber berichtet in der Nachtkritik vom Hamburger Konferenz-Wochenende "Burning Issues" auf Kampnagel.

Besprochen werden Sebastian Baumgartens Inszenierung von Georg Büchners Revolutionsdrama "Dantons Tod" (SZ), Barrie Koskys Inszenierung von Offenbachs "Die Großherzogin von Gerolstein" an der Komischen Oper Berlin (bei der SZ-Kritiker Wolfgang Schreiber "präzise gesetzte Blödelei" genoss), Maren Schäfers Inszenierung von Rossinis "Barbier von Sevilla" in Mannheim (die Judith von Sternburg in der FR "grandios" findet), Omer Meir Wellbers Inszeneirung von Mozarts "Zauberflöte" an der Semperoper (und "mit exzellenten Sändern", wie Clemens Haustein in der FAZ verischert) und Noé Souliers Choreografie "Portrait of Frédéric Tavernini" (FAZ).
Archiv: Bühne

Design

Auch die Mode - oder zumindest ihr glamouröses Drumherum - befindet sich derzeit eher im coronabedingten Dämmerschlaf. Vielleicht wird ja der momentane Trend zu "Chunky Boots", also Schuhe mit reifendicken Sohlen, als "Corona-Style" in die Modegeschichte eingehen, mutmaßt Tania Martini in der taz. Kommt nach Corona "dann die neue Eleganz - eben nur zeitverzögert und womöglich gepaart mit viel Glamour? Virgil Abloh, der als der vielleicht wichtigste Designer der Zeit gilt, hat in einem Gespräch im Rahmen der 'Vogue Global Conversations' etwas ganz anderes prophezeit. Die immer neuen Produkt-Hypes und Warenspektakel der Streetwear passten nicht mehr zu dem neuen Zeitgeist. ... Die Vogue sah kürzlich bereits die Ära des 'sozialverträglichen Kleidens' angebrochen und meinte eben gerade nicht nur nachhaltiges Produzieren. Sozialverträglichkeit in einer Branche, die sich aus der permanenten Behauptung von Individualität konstituiert? Ob das wirklich zusammengehen wird?"

Außerdem bespricht Brigitte Werneburg in der taz die (allerdings derzeit geschlossene) Ausstellung "Fashion?! Was Mode zu Mode macht" in Stuttgart.
Archiv: Design
Stichwörter: Mode, Corona, Vogue, Modegeschichte

Literatur

Gespannt schaut die Krimi-Autorin Simone Buchholz für die Zeit in die Zukunft, wie wohl der Kriminalroman als Krisensachverständiger im Feld der literarischen Genres nach der Corona-Zäsur aussehen könnte: "Das Genre könnte sich angesichts dieser Superkrise einfach mal selbst zerlegen, sich in die Luft jagen, sich dort völlig neu zusammensetzen und als etwas Aufregendes wieder landen ... In dieser Gestalt greift der neue, postpandemische Kriminalroman dann erst mal die deutsche Idylle an."

Außerdem: Ilka Piepgras lässt sich im ZeitMagazin von der Schriftstellerin Judith Schalansky über Potenziale und Risiken des Nature Writing aufklären. In den online nachgereichten "Actionszenen der Weltliteratur" weiß Gisela Trahms, dass die Schriftstellerin Patricia Highsmith 1978 sich vor allem wegen eines Liebesabenteuers dazu hat überreden lassen, Teil der Berlinale-Jury zu werden.

Besprochen werden Don DeLillos "Stille" (Freitag, Welt, Dlf Kultur), Zadie Smiths Corona-Essayband "Betrachtungen" (SZ), Neuveröffentlichungen von und über Susan Sontag (Standard), Nancy Cunards "Negro" (online nachgereicht von der FAZ), Christoph Nußbaumeder Debütroman "Die Unverhofften" (Berliner Zeitung), Clemens Setz' "Die Bienen und das Unsichtbare" (Freitag), James Sturms Comic "Ausnahmezustand" (taz) und Benjamin Constants "Adolphe" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Meine Freundin, die Mollukse: "My Octopus Teacher" (Netflix)

Ziemlich skeptisch ist Bernd Graff, was den allseitigen Hype um die Netflix-Doku "My Octopus Teacher" betrifft, in dem der Taucher Craig Foster sein therapeutisch wirkendes Nähe-Verhältnis zu einem Oktopus beschreibt: Wie kann das eigentlich sein, dass Taucher und Oktopus ziemlich beste Freunde werden, wenn die Kontakte schon aus Lufthol- und vor allem Temperaturgründen - beide treffen im eisigen Wasser aufeinander - allenfalls sporadisch sein können und sowieso immer ein Filmteam mit im Wasser ist? So könne es "allenfalls zu einer stroboskopartigen On-Off-Beziehung gekommen sein. Dann aber ist es seltsam, dass sich alle beziehungsrelevanten Episoden dieses tête-à-tentacule - gemeint sind Szenen des Glücks wie des Dramas: ein schwebender Pas de deux unter Wasser, ein Hai-Rodeo des Kraken, die gemeinsame Jagd von Tier und Taucher -, dass diese Paarmomente sich immer dann ereignen, wenn Foster und sein Team gerade mitschnorcheln und mitfilmen können." Hinzu kommen "die für eine Dokumentation peinlichen Beichten zu den Bildern: Foster will herausgefunden haben, dass es zwischen ihm und der Molluske 'intim' zugehe, dass er 'ihr' Vertrauen gewonnen habe, dass er in 'ihre geheime Welt eindringen' durfte."

Weitere Artikel: Dominik Kamalzadeh resümiert im Standard die Viennale. Martina Knoben denkt in der SZ über Naturdokumentationen nach. Besprochen wird die auf Sky gezeigte Mini-Serie "The Comey Rule" über den ehemaligen FBI-Chef James Comey (FAZ, taz).
Archiv: Film

Musik

10 LPs und 10 CDs plus Buch und allen weiteren Schischi umfasst die Box "Dimensioni sonore", die die experimentellen Library-Music-Arbeiten von Ennio Morricone und Bruno Nicolai umfasst. Tazler Olaf Karnik hat sich gerne tief in diese "ebenso expansive wie hermetische Klangwelt" versenkt. "Auffällig ist eine ebenso streng kammermusikalische wie luftig improvisatorische Anmutung der Musik - so, als taste man sich sehr bewusst mit jedem Ton in neue Gefilde vor. Dabei gehorcht sie einer strikt antiexpressiven Ästhetik, setzt stark auf Texturen und lotet das Spektrum von Klangfarbenmalerei voll aus." Es "entsteht der Eindruck eines kaleidoskopisch aufgefächerten Musikmaterials, das jeweils aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlicher Akzentuierung interpretiert wird. Grund dafür ist das von Ennio Morricone Ende der 1960er Jahre entwickelte Prinzip der multiplen bzw. modularen Komposition." Wir hören rein:



Weitere Artikel: Der Lyriker Uwe Grüning berichtet in der FAZ von seinen Herausforderungen dabei, Beethoven möglichst unbeleckt zu hören, also "ohne von der Macht der Überlieferung, des Ruhms, der Bewunderung über Gebühr gelenkt zu werden." Für den Standard wirft Karl Fluch am Vorabend der US-Wahlen einen Blick auf den US-Hiphop, der breite Allianzen gegen Trump bildet.

Besprochen werden der Auftakt und lockdownbedingt auch Schlusspunkt des Festivals Wien Modern (Standard), ein Auftritt von Igor Levit mit der Camerata Salzburg (FR), ein Konzert von Sophie Hunger (Tagesspiegel) und neue Jazzveröffentlichungen, darunter Butcher Browns Album "#Kingbutch" (SZ). Wir hören rein:

Archiv: Musik