Efeu - Die Kulturrundschau

Die kleinen Schirme

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.05.2020. Die Musikkritiker trauern um Florian Schneider, der in den Siebzigern den neuen, coolen deutschen Schlagersound von Kraftwerk erfand. Die taz stöbert mit Begeisterung in den Online-Archiven der Kinematheken. Artforum staunt, wie frisch die Kunst von Donald Judd immer noch wirkt. Die SZ lässt sich erklären, wie man in Corona-Zeiten wieder Theater spielen kann. Monopol kann das Stöhnen über Kunst im Netz nicht mehr hören.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.05.2020 finden Sie hier

Musik

Mensch (links), Maschine (rechts): Florian Schneider 2005 bei einem Auftritt in Italien.  (Bild: Daniele Dalledonne, CC BY-SA 2.0)

Florian Schneider ist im Alter von 73 Jahren gestorben. Gemeinsam mit Ralf Hütter, mit dem er Kraftwerk gründete, gelang es ihm, "Popmusik als Rechnermusik in die Zukunft zu befördern. Er erfand dabei auch einen neuen, coolen deutschen Schlagersound", schreibt Jan Kedves in der SZ. Ein Sound, mit dem die Band Hip-Hop, Funk, Techno und Synth-Pop maßgeblich beeinflussten, wie Christoph Schachinger im Standard erwähnt und dabei auch darauf hinweist, dass David Bowie 1977 seinen Song "V2 Schneider" dem Verstorbenen gewidmet hatte. Mit Kraftwerk schwammen Schneider und Hütter seinerzeit "gegen den Strom", witzelt Christoph Wagner in der NZZ: "Als in den 1970er Jahren die Anti-Atomkraft- und Ökologiebewegung aufkam, zogen sie sich den technikkritischen Schuh erst gar nicht an. Im Gegenteil: Sie berauschten sich an der Technik! Wie wiedergeborene Futuristen am Ende des 20. Jahrhunderts erkoren sie die synthetischen Sounds des elektronischen Zeitalters zum Klangideal."



Somit ist mit diesem Tod auch das 20. Jahrhundert, dem Kraftwerk im letzten Viertel seines aktiven Verlaufs ihre klangliche Signatur verpassten, endgültig Geschichte, schreibt Markus Schneider in der Berliner Zeitung: Kraftwerk "feierten die Künstlichkeit bis zur Selbststilisierung als Roboter, deren Stimmen wesentlich aus der Klangforschung Florian Schneiders kamen. Wo die Züge und Straßen in Blues und Rock zu individueller Erlösung und Freiheit führen, verstanden Kraftwerk sie als moderne Kommunikationswege." Völlig modern waren Kraftwerks Anfänge allerdings nicht, schreibt Tobias Rüther auf FAZ.net: Die ersten Fotos zeigen Schneider, im übrigen der Sohn des Nachkriegsarchitekten Paul Schneider-Esleben, noch beim romantisch versonnenen Spielen der Querflöte: "Aufrecht sitzt er da, wie es sein Instrument erfordert, eine elegante Erscheinung aus gutem Haus." Von der experimentellen Krautrock-Szene sagten sich Kraftwerk spätestens mit "Autobahn" los, erklärt Jens Balzer auf ZeitOnline: Sie wollten "nicht in psychedelischer Hitze verbrennen. Sie suchen gerade nicht nach einer Entfesselung der musikalischen Mittel und einer Entgrenzung der künstlerischen Subjektivität in den endlosen Jams der erweiterten Kollektivbewusstseine - vielmehr wollen sie ihre Musik immer kälter werden lassen und immer weniger individualistisch."

Dass Kraftwerk sich immer wieder aus dem ästhetischen Fundus der Avantgarde bedienten, sei maßgeblich Schneider zu verdanken gewesen, schreibt Christoph Schröder im Tagesspiegel: Das Konzept des image-prägenden Albums "Die Mensch-Maschine" gehe auf ihn zurück. "Später entwickelte er eine elektronische Flöte, spielte Synthesizer, produzierte, entwarf Sounds, arbeitete an Effekten und den künstlichen Robovox-Stimmen. Seine Rolle ähnelt der von Brian Eno bei Roxy Music." Weitere Nachrufe im Guardian und in der New York Times.

Nach seinem Abschied von der Band im Jahr 2008 machte Schneider 2015 noch einmal mit einem solo produzierten Stück auf sich aufmerksam: "Stop Plastic Pollution" zeigt (wie auch dieses, nun ja, "Interview"), dass Schneider einen etwas verqueren Humor pflegte:



Weiteres: Die FAZ unterhält sich mit Tabea Zimmermann, die mit dem Ernst-von-Siemens-Musikpreis ausgezeichnet wurde. Vor zwei Wochen gab sie im Schinkel Pavillon gemeinsam mit Francesco Piemontesi ein Corona-Konzert:



Besprochen werden Ghostpoets Album "I Grow Tired But Dare Not Fall Asleep" (Standard), Lucinda Williams' "Good Souls Better Angels" (Presse) und das neue Album des Wiener Songwriters Nino (Standard).
Archiv: Musik

Literatur

Für die FAZ wirft der Schriftsteller Andrzej Stasiuk in Wołowiec einen Blick aus seinem Fenster und bekommt dabei ozeanische Gefühle: "Die Unveränderlichkeit, die Unbewegtheit der Landschaft wirkt ein wenig wie die irdische Version der Ewigkeit. Die Jahreszeiten wechseln, das Licht und das Wetter. Heute sind in der Nacht einige Zentimeter Schnee gefallen. Der Nordwind treibt weiße Wolken vor sich her. Aber es ist April, die Sonne bricht durch die Wolkendecke, und in wenigen Stunden wird das Weiß verschwunden sein. So ist es das ganze Jahr über."

Weitere Artikel: New-York-Korrespondent Hannes Stein schreibt in der Welt einen Brief an Stephen King, der in den USA gerade eine neue Novellensammlung veröffentlicht hat. Die großen Verlagshäuser planen derzeit noch kaum die Veröffentlichung von Corona-Prosa, hat Gerrit Bartels für den Tagesspiegel in Erfahrung gebracht. In der FAZ erinnert Paul Ingendaay daran, dass vor hundert Jahren Agatha Christies erster Kriminalroman erschien.

Besprochen werden neue Krimis von Sara Paretsky und Lisa Sandlin (Perlentaucher), Klaus Buhlerts große Hörspielbearbeitung von Thomas Pynchons Klassiker "Die Enden der Parabel" (taz), Thorsten Nagelschmidts "Arbeit" (Dlf Kultur), Arno Camenischs "Goldene Jahre" (NZZ), Tanya Tagaqs "Eisfuchs" (SZ), Susanne Kerckhoffs "Berliner Briefe" (Berliner Zeitung), Anne Enrights "Die Schauspielerin" (Tagesspiegel), Angie Kims Debütroman "Miracle Creek" (FR), Kate Weinbergs Thriller "Die Lügner" (Freitag) und Hans Freys Studie "Aufbruch in den Abgrund. Deutsche Science Fiction zwischen Demokratie und Diktatur" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Die New Yorker Zeitschrift Film Comment befindet sich im Winterschlaf, die Cahiers Du Cinema in einer Übergangsphase nach einer schwierigen Übernahme, lediglich das britische Magazin Sight & Sound schlägt sich wacker in der Coronakrise: Die große, international wirkmächtige Filmpublizistik wirkt derzeit fast so angeschlagen wie das Kino, hält Bert Rebhandl in der FAZ fest. Gute Laune macht das nicht: "Vorerst kann man über eine Gegenwartsdiagnose von Nick Pinkerton nachdenken, der in einem Essay unter dem Titel 'Inside Man' über das Gefühl schreibt, dass ihm Filmerlebnisse im Heimkino vorkommen wie Flugzeugfilme. Die kleinen Schirme, auf die man da starrt, sind das Gegenteil dessen, was nicht zuletzt auch die großen Filmzeitschriften nach dem Zweiten Weltkrieg als Kino verfochten."

Schon richtig, pflichtet Fabian Tietke in der taz bei, aber wie sich derzeit in den Archiven der Kinematheken online stöbern lässt, ist einfach sagenhaft - insbesondere das Filmarchiv Austria biete hier viel Material, aber auch das Filmmuseum München, das Filmportal und das dänische Stummfilmarchiv stumfilm.dk streamen kleine Retrospektiven und Angebote. Doch "so sehr man sich wünscht, dass all die Angebote auch nach Ende der Krise bestehen bleiben, weil sie eine Bereicherung sind, weil sie teils Abseitiges weithin sichtbar machen, weil sie Menschen erreichen, die vielleicht erst im dritten Anlauf in die habituell teils etwas herausfordernden Kinematheken und filmhistorischen Kinos gehen - ersetzen können sie den Kinobesuch und die Vorführung analoger Filmkopien nicht." (Wer behauptet denn sowas?)

Weitere Artikel: Marietta Steinhart erklärt auf ZeitOnline, wie die US-Kinobranche sich auf den Exit aus der Coronakrise vorbereiten will. Zu den großen Highlights des (mit einem Festivalpass für 10 Euro digital zugänglichen) Stuttgarter Trickfilmfestivals zählt Max Hattlers Plattenbau-Kurzfilm "Serial Parallels", verspricht Daniel Kothenschulte in der FR: Hattler hat "der Brutalität in Stein, die sich in den Himmel stapelt, Leben eingehaucht."

Besprochen werden das Netflix-Porträt "Becoming" über Michelle Obama (SZ, ZeitOnline), die Hulu-Serie "Mrs America" mit Cate Blanchett (Welt), die Netflix-Serie "The Eddy" (Presse) und ein von Arte online gestelltes Porträt über Volker Schlöndorff (FR).
Archiv: Film

Kunst

Bei monopol ist Annika Meier bass erstaunt, wie in deutschen Feuilletons über Kunst im Netz gesprochen wird: als wären einige Kritiker zum ersten Mal im Internet unterwegs. "Jetzt also sitzen wir plötzlich alle zu Hause, hängen im Internet ab und besuchen dort Ausstellungen und Galerien. Einige sind das erste Mal mit einer neuen Sprache konfrontiert, weshalb es zu Missverständnissen kommt, die seltsame Auswüchse annehmen. Was man immer wieder liest: Der virtuelle Museumsbesuch kann niemals den realen Museumsbesuch ersetzen, sprich: die Erfahrung vor dem Original. Ja, nein, warum sollte denn das auch so sein? Und wer hat eigentlich in die Welt gesetzt, dass das der geheime Masterplan all derer ist, die jetzt erstmals virtuelle Museums- und Galerierundgänge anbieten? ... Es ist erschreckend, mit welcher Naivität sich diesen Angeboten genähert wird und wie wenig aus der hysterischen Kritik an Neuem in den letzten 150 Jahren gelernt wird."

Donald Judd, untitled, 1964. © Judd Foundation/Artists Rights Society (ARS), New York.


In einer großen Retrospektive im New Yorker MoMA staunt Artforum-Kritiker Hal Foster, wie frisch und lebendig die Arbeiten von Donald Judd nach siebzig Jahren immer noch wirken: "Bei Judd ist es unmöglich, den Künstler vom Kritiker zu trennen, und einige seiner Worte bleiben so eindringlich wie die meisten seiner Objekte. 'Die Hälfte oder mehr der besten Arbeiten der letzten Jahre waren weder Malerei noch Skulptur', erklärte er in den berühmten ersten Zeilen von 'Specific Objects' (1965). 'Ein Großteil der Motivation zu den neuen Werken besteht darin, sich von diesen Formen zu lösen. Die Verwendung von drei Dimensionen ist eine offensichtliche Alternative'. Obwohl Judd die Malerei anscheinend ganz und gar ablehnte - 'Ihr Hauptfehler ist', bemerkte er einmal, "dass es sich um eine rechteckige Fläche handelt, die plan an der Wand anliegt' - waren es Jackson Pollock, Clyfford Still, Mark Rothko, Barnett Newman und Ad Reinhardt, die seinen Wechsel in drei Dimensionen inspirierten. Neben dem Bekenntnis zu Großformat, unmodulierter Farbe und betonter Materialität propagierte ihre Malerei ein 'Gefühl der Einmaligkeit' für Judd. Doch war er der Ansicht, dass diese 'Ganzheit' außerhalb des Mediums Malerei 'eine bessere Zukunft' habe."

Weitere Artikel: Bei Hyperallergic stellt Hakim Bishara das digitale Archiv zur Kunst während der ägyptischen Revolution von 2011 vor. Museen haben bereits angefangen, Corona-Dokumente und Pandemie-Devotionalien zu sammeln, meldet Bernd Graff in der SZ. Banksy ehrt in der Coronakrise das Pflegepersonal als Superhelden mit einem Gemälde, meldet die Presse. Bei monopol stellt Daniel Kothenschulte kurz, aber mit vielen Bildern den Fotografen Jamel Shabazz vor. Und Annika Meier forscht bei Instagramm nach, wie sich Künstler vom Computerspiel "Animal Crossing" inspirieren lassen.

Besprochen werden Filme der Land Art- und Konzeptkünstler Nancy Holt und Robert Smithson (hyperallergic), die Ausstellung "Everything That's Alive Moves" von Karyn Olivier im ICA in Philadelphia (hyperallergic)
Archiv: Kunst

Architektur

Die New York Times spaziert mit den Architekten Marion Weiss und Michael Manfredi über die Brooklyn Bridge und durch die anliegenden Viertel: Wir dürfen mit, zumindest in den Fotos von Zack DeZon. In der SZ berichtet Gerhard Matzig von einer Umfrage unter deutschen Architekten, die fürchten, dass nach Corona und einem Urteil des EuGH zu Architektenhonoraren die kleineren Büros nicht überleben werden. In der FAZ plädieren jetzt auch Felix Torkar und Gunnar Klack für den Erhalt des vom Abriss bedrohten Mäusebunkers und des Hygieneinstituts in Berlin (unsere Resümees). Besprochen wird eine Ausstellung der Architekturzeichnungen von Thomas de Thomon - der u.a. die Petersburger Börse baute - im Berliner Museum für Architekturzeichnung (Tsp)
Archiv: Architektur

Bühne

Wie geschmeidig der Wechsel von der linken zur rechten Systemkritik laufen kann, sieht Peter Laudenbach am Beispiel des "Querfrontaktivisten" Anselm Lenz, der heute bei den Hygienedemos vor der Volksbühne mitmischt. Einst gehörte er jedoch zum linken Kunstkollektiv Haus Bartleby. Dem dürfte der ehemalige Mitstreiter heute ziemlich peinlich sein, aber der Wurm steckte schon im Kollektiv, das seine Strategien von den Situationisten abgeguckt hatte, meint Laudenbach in der taz. "Ziel des Geschäftsmodells war es, mittels der Behauptung vermeintlich das System destabilisierender 'Karriereverweigerung' ein eigenes Label, eben Haus Bartleby, zu etablieren und die so akquirierten Aufmerksamkeits-Marktanteile im Kulturbetrieb zu monetarisieren. Dort werden unverbindliche Gesten der Radikalität und Dissidenz immer gern genommen. Das hat eine Zeit lang funktioniert und steht symptomatisch für die Konjunkturen im Radical-Chic-Segment des Kulturbetriebs." (Mehr zu den Hygienedemos vor der Volksbühne in 9punkt)

Jenni Zylka stellt in der taz eine Studie zu Machtverhältnissen und Missbrauch in Kulturbranchen und an Theatern vor, die im Zeichen der #MeToo-Affäre angestoßen wurde. "Der gut 50-seitige Evaluationsbericht (hier als pdf-Dokument), dem 16 Interviews zugrunde liegen, liest sich teilweise wie bewusster Seelenstrip." In der Branche muss sich noch viel verändern, so Zylka: "Auch in Schauspielschulen herrschen oft noch genau diese alten Strukturen, die Hierarchien und missbräuchliche Relationen zwischen älteren Männern auf der Dozentenseite und jungen, unsicheren Frauen auf der Bewerber*innenseite stärken. 'Ich kann dir sagen, von welcher Schule eine Schauspielerin stammt, weil ich die Vorlieben der dortigen männlichen Aufnahmeprüfer kenne', sagt eine Theaterregisseurin."

Christian Stückl, Intendant des städtischen Münchner Volkstheaters, und der Münchner Kulturreferent Anton Biebl haben ein Konzept vorgelegt, wie man in Zeiten von Corona wieder Theater spielen kann, berichten Egbert Tholl und Reinhard J. Brembeck in der SZ. Mit fünf Produktionen soll die Saison Ende Juli eröffnet werden: Mit gut verteilten Zuschauern könnten immerhin 100 von 600 Plätzen vom Publikum besetzt werden. "Ebenso können man sich ein Bespielung des Gartens mit etwa 50 Zuschauern vorstellen. Die Aufführungen werden etwa eine Stunde dauern, keine Pause haben, könnten auch, um mehr Zuschauer zu erfreuen, mehrmals hintereinander gespielt werden. Stückl ruft alle Theaterleute auf, über ähnliche Konzepte nachzudenken. Er will keine Kurzarbeit - die hat er an seinem Haus auch nicht eingeführt -, er will spielen." Küsse auf der Bühne dürfen allerdings nur angedeutet werden, aber das geht ja in Indien auch, denkt sich Stückl: "Dort sei Intimität auf der Bühne verboten und ein Hackbrettsignal zeige an, dass man sich Nähe nun denken müsse."

Weiteres: Im Interview mit der FR plädiert Micha Brumlik dafür, die Städtischen Bühnen in Frankfurt zu renovieren: "Es würde der Stadt nicht guttun, das Gebäude einfach abzureißen. Da besteht eine historisch gewachsene Identität." Die nachtkritik streamt heute "Chinchilla Arschloch, waswas" von Rimini Protokoll.
Archiv: Bühne