Efeu - Die Kulturrundschau

Die unerträgliche Seichtigkeit des Scheins

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29.02.2020. Die SZ bewundert den Mix aus Stunt, Trash, Zirkusakrobatik und Tanz der Choreografin Florentina Holzinger. Die FAZ fragt, warum das Goethe-Institut in Indonesien teure Stücke produziert, die jede Kritik am Land vermeiden. In der Welt erklärt Ingo Schulze, wie auch ein Büchermensch nach rechts abdriften kann.  Zeit online  wünscht sich einen hermeneutischen Blick auf Roman Polanski statt einen moralisierenden. Der Standard wütet gegen die zahnlosen Langweiler im Pop.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.02.2020 finden Sie hier

Bühne

Szene aus Florentina Holzingers "Étude for an Emergency. Composition for Ten Bodies and a Car". Foto © Nicole Marianna Wytyczak


Egbert Tholl porträtiert in der SZ die Choreografin Florentina Holzinger, deren Arbeit "Étude for an Emergency. Composition for Ten Bodies and a Car" - wie all ihre Arbeiten für Tholl ein bewundernswerter Mix aus "Stunt, Trash, Zirkus, Akrobatik mit Tanz-Derivaten" - am Sonntag an den Münchner Kammerspielen Premiere hat. "In 'Tanz' gibt die Grande Dame des Tanzes, Beatrice Cordua, nackt Ballettunterricht und die Elevinnen, darunter Holzinger, fliegen nackt durch die Luft, knallen auch mal gegen die Wand, wenn ein Stunt misslingt. Holzinger turnt in luftiger Höhe auf einem Motorrad herum, mit dem sie sich gut auskennt, eine Kollegin hängt an Fleischerhaken. 'Tanz' bezieht sich auf das Ballett 'La Sylphide' aus dem Jahr 1832, worin Luftgeister vorkommen", immer noch eine Attraktion, aber "eine krasse, hohnlachend über den männlichen Blick auf den Leib".

In der FAZ zeigt sich Marco Stahlhut mehr als enttäuscht von einer ziemlich teuren und aufwendigen Theaterproduktion der deutschen Künstlerin Claudia Bosse für das Goethe-Institut in Jakarta, die fast jeden Bezug auf Indonesien und die immer stärkere religiöse Radikalisierung dort vermeidet. "Eine der indonesischen Mitarbeiterinnen der Produktion erzählt, sie habe es als eine ihrer Hauptaufgaben verstanden, davor zu warnen, wenn verwendete Textpassagen als Werbung für westliche Werte aufgefasst werden könnten." Die Frau ruft Stahlhut dann noch einmal an, weil sie anonym bleiben möchte. Die Tatsache, dass sie einen muslimischen Vater und eine christliche Mutter hat, könnte "im fundamentalistischen Klima der Gegenwart als Konversion aufgefasst werden und damit als strafbarer Abfall vom islamischen Glauben, ungeachtet ihrer christlichen Mutter. Auch von solchen Dingen findet sich keine Spur im indonesischen 'Last Ideal Paradise'".

In einem langen Interview mit der FR stellt Barrie Kosky seine neue "Salome" für die Oper Frankfurt vor: "Sie werden noch nie eine so streng reduzierte Salome gesehen haben", verspricht er.

Besprochen werden außerdem Stephanie Mohrs Inszenierung von Florian Zellers Stück "Der Sohn" am Theater in der Josefstadt Wien (nachtkritik, Standard), die Uraufführung von Wilke Weermanns neuem Stück "Angstbeißer" in der Inszenierung von Anna Marboe am Schauspielhaus Wien (nachtkritik), Giacomo Meyerbeers Oper "Les Huguenots" am Grand Théâtre de Genève (nmz), Pinar Karabuluts Inszenierung von Tom Lanoyes "Mamma Medea" an der Volksbühne Berlin (Berliner Zeitung), Milo Raus Stück "Family" im Frankfurter Mousonturm (FR) und Kevin Rittbergers Projekt "The Männy" am Schauspiel Hannover (taz),
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Literatur

Richard Kämmerlings hat sich für die Literarische Welt mit Ingo Schulze zum Gespräch über dessen neuen Roman "Die rechtschaffenen Mörder" getroffen, in dem sich , für den Leser zunächst unbemerkt, ein Büchermensch als Rechtsaußen entpuppt. "Ich möchte ja in einem Winkel meines Herzens wider besseres Wissen immer wieder glauben, dass einer, der liest, gegen bestimmte Versuchungen resistent ist", sagt Schulze. Wenn so ein Büchermensch abdriftet, ist das für mich sehr schwer nachvollziehbar. ... Ich wollte zugleich zeigen, dass etwas so Stilisiertes  wie die Welt der Bücher schnell einen doppelten Boden bekommen kann. Es waren immer Intellektuelle, die Kriege vorbereitet oder vorgedacht haben."

Wenn man schon zuhause sitzt, weil man sich wegen Corona nicht mehr auf die Straße traut, kann man auch in der Geschichte blättern, wie die Literaturen früherer Zeiten mit Epidemien umgegangen sind. Das hat Gerrit Bartels für den Tagesspiegel getan und wird gleich mehrfach fündig: Denn im Grunde stellt Boccaccios unter Quarantäne entstandenes Novellenwerk "Decamerone" den Startschuss für die europäische Erzähltradition dar. "Seitdem spielen die Seuchen, die die Menschen heimsuchen (...) stets eine Rolle in der Literatur. In der Genre-Literatur sowieso, meist als Dystopien, als Horrorszenarios, genau wie in der hohen, der schönen Literatur. Hier werden Seuchen mal allegorisch verwandt, basieren aber auch auf Erfahrungen der Autoren" - und nennt unter anderem Thomas Mann, Albert Camus und Philip Roth.

Weiteres: In der taz spricht Anna Kaleri über die von ihr gegründete Initiative "Literatur statt Brandsätze" in Sachsen. Für die Literarische Welt hat sich Holger Kreitling nach San Francisco auf die von Dashiell Hammett in seinen Kriminlaromanen gelegten Spuren begeben. Philipp Haibach erinnert in der Literarischen Welt an die Visionen und Psychosen des Science-Fiction-Schriftstellers Philip K. Dick.

Besprochen werden unter anderem Paula Irmschlers "Superbusen" (taz), Nava Ebrahimis "Das Paradies meines Nachbarn" (FR), Jasmin Schreibes "Marianengraben" (Presse), Valerie Fritschs "Herzklappen von Johnson & Johnson" (Literarische Welt) und die gesammelten Gedichte in der neuen Jörg-Fauser-Werkausgabe (FAZ).
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Film

Gestern Abend wurden in Frankreich die Césars verliehen. Im Vorfeld war die Leitung zurückgetreten. Während der Verleihung gab es Proteste gegen Roman Polanski, der für "Intrige" als bester Regisseur ausgezeichnet wurde. Schon im Vorfeld gab es zahlreiche Proteste, denen sich auf ZeitOnline Magnus Klaue - in einem noch vor der Verleihung veröffentlichen Text - entgegen stellt: "Die Perspektive, Polańskis widersprüchliche Erfahrungen als jüdischer Emigrant und erfolgreicher Filmemacher als Auslöser von Sehnsuchts- wie Hassfantasien zusammenzuführen, um seine Filme besser zu verstehen, scheint gegenüber der Moralisierung des Ästhetischen kaum eine Chance mehr zu haben. Dabei ist der hermeneutische Blick, der biografische Erfahrungen, deren Ausdruck in der ästhetischen Form und die Wahrnehmung von Künstler und Werk durch das Publikum voneinander unterscheidet, ohne sie zu trennen, ursprünglich in Europa entstanden in der Auseinandersetzung mit dem, was in Amerika 'europäischer Kunstfilm' genannt wurde. Gerade ein solcher Blick wäre für die Einschätzung von Leben und Werk Polańskis heute unabdingbar. "

Neues von der Berlinale: Auf der Zielgeraden hält der Bärenfavorit Einzug im Wettbewerb: Mohammad Rasoulofs "There Is No Evil" ist eine wütende Anklage der Verhältnisse im Iran - und erobert die Kritik im Sturm. Ebenfalls wuchtig, aber problematisch:  "Irradiés",  Rithy Panhs Meditation über die Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts - all dies und mehr: in unserer aktuellen Presseschau in unserem Berlinale-Blog.

Außerdem: Cargo dokumentiert Jutta Brückners und Max Linz' Laudationes auf die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch, die auf der Berlinale mit dem Ehrenpreis der deutschen Filmkritik ausgezeichnet wurde. Harry Nutt schreibt in der FR einen Nachruf auf den Schauspieler Burkhard Driest.

Besprochen werden das rassismuskritische Justizdrama "Just Mercy" mit Michael B. Jordan und Jamie Foxx (Welt, Filmdienst) und Leigh Whannells Remake des Horrorklassikers "Der Unsichtbare" mit Elisabeth Moss (Standard, Filmbulletin).
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Kunst

Besprochen werden Filme von John Akomfrah in der Wiener Secession (Standard), eine Ausstellung des Fotografen Umbo in der Berlinischen Galerie (taz), eine Ausstellung mit Zara Pfeifers Fotos von der Wiener Großsiedlung Alt-Erlaa in der BDA Hamburg Galerie (taz), die Ausstellung "Instant theory. Die M-Fotoserie des Merve Verlags" in der NGBK Berlin (taz), die Ausstellung "Vision Code" in der Kommunalen Galerie in Berlin-Wilmersdorf mit junger Kunst aus China (taz), die Ausstellung "Raffael in Berlin" im Kupferstichkabinett (Berliner Zeitung), die Carlos-Amorales-Retrospektive "The Factory" im Stedelijk Museum Amsterdam (FAZ) und die Monet-Ausstellung im Potsdamer Museum Barberini (Peter Richter porträtiert in der SZ den Künstler mit seinen seriell gemalten Bildern als Kapitalisten der ersten Stunde).
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Musik

Überall nur noch Schlappis und Schluffis: Standard-Kritiker Karl Fluch hat vom Trend zum Café-Latte-Pop den Hals ziemlich gestrichen voll. Aktueller "zahnlosen Langweiler", nachdem Fluch zuletzt schon bei Tame Impala die Füße eingeschlafen sind: Dan Snaith alias Caribou. Zu hören gibt es "hübsch belanglose Musik. Elektronische Lulu-Musik mit Nichtstimme. Anlässlich des eben erschienenen Albums 'Suddenly' und Songs wie 'Ravi' muss man an singende Streifenhörnchen denken. ... Auszuhalten ist sie in ihrer unerträglichen Seichtigkeit des Scheins nur schwer. Blutleere Melodien, eunuchenhaftes Gewinsel, elektronisch betupft. Lähmende Harmlosigkeit und Schablonen-Disco. Wie viel ergibt eigentlich 08/15 zum Quadrat?" Immerhin das Stück "Home" gefällt Fluch - was aber auch nur an der darin gesampelten Gloria Branes liegt.



Weiteres: In der FAZ gratuliert Jan Wiele dem Gitarristen Ralph Towner zum 80. Geburtstag. Besprochen werden ein Mahler-Abend mit Yannick Nézet-Séguin bei den Berliner Philharmonikern (Brugs Klassiker).
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