Efeu - Die Kulturrundschau

Das ganz Andere der Zeitung

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01.11.2019. "Der Schauprozess läuft auf Hochtouren", erwidert Lothar Struck im Perlentaucher auf Alida Bremers Handke-Text. Man muss Handkes Doppelspiel mitspielen, fordert auch der Freitag. Die Filmkritiker liegen Celine Sciammas "Porträt einer jungen Frau in Flammen zu Füßen: Hier wird die Psychologie ganz neu erfunden, jubelt die Welt.  Die Berliner Zeitung fordert nach der Krise am Theater an der Parkaue: Kontrolliert die Macht von Intendanten! Und die NZZ lernt von dem belgischen Künstler Koen Vanmechelen: In jedem Menschen lebt ein Ur-Huhn.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.11.2019 finden Sie hier

Literatur

Im Perlentaucher antwortet Lothar Struck auf Alida Bremers ebenfalls im Perlentaucher veröffentlichen Essay, der der Debatte über Peter Handke in den letzten Tagen mit der Recherche eines Gesprächs von 2006 breitenwirksam neue Perspektiven eröffnet hat: "Der Schauprozess läuft auf Hochtouren", meint Struck, "lästige Kritiker der Kritiker werden zu Gemeindemitgliedern erklärt", darüber hinaus habe Bremer Handkes Darlegungen im Sinne der eigenen Argumentation zurechtgebogen. "'Spuren eines Irrläufers' betitelt Bremer ihren Text. Aber wer läuft da in die Irre mit ihren rhetorischen Verrenkungen, mit denen man jeden zur Bestie, zum Neurechten oder zu einem 'Relativierer' macht. Es geht inzwischen längst nicht mehr um diesen oder jenen Satz. Es geht um die Diffamierung eines literarischen Werks."

Im Freitag meditiert Mladen Gladic, ebenfalls ausgehend von Bremers Essay, ohne diesen explizit zu erwähnen, sehr ausführlich über Textorte und Textsorten. Es geht um Bücher- und um Zeitungstexte, um literarische und journalistische Verfahren, um Rezeptionsarten und Fragen der Öffentlichkeit und um einen Handke, der hier zwischen allen Kategorien schillert. "Von einem Miss- oder vielleicht Fehlgebrauch eines poetischen Verfahrens auf seine grundsätzliche Poblematik zu schließen", meint Gladic, "ist aber ein Kategorienfehler, der mehr über denjenigen aussagt, der diesen Missgebrauch herausstellt, als über den, der ihn begeht. Man liest, neuerdings wieder, wenn man sie denn liest, auch Handkes Jugoslawientexte wie Texte, die in der Zeitung stehen. Man klopft sie auf Tatsachen ab, auf Beweise für die Schuld oder Unschuld ihres Verfassers, sucht den einen Beweis, der ihn zum 'Täter Handke' macht. Zu einem, der auszog, Jugoslawien zu betrauern, vielleicht auch zu verteidigen, und nun in der rechten, nationalistischen Ecke stehen soll. Es ist ein Dilemma, das sich nur lösen lässt, wenn man Handkes Doppelspiel mitspielt. Seine Texte als das ganz Andere der Zeitung, auch in der Zeitung lesen, ist die Aufgabe."

Unter der Oberfläche der Handke-Debatte rumore die literarische Auflage zur Wahrhaftigkeit, kommentiert Roman Bucheli in der NZZ: "Das Biedermeier der 'eigenen Geschichten', mit denen die große Geschichte konterkariert und korrigiert wird, erlebt gerade eine fröhliche Renaissance. Unter der Pathosformel der Wahrhaftigkeit wird ein Imperativ zum Wahren propagiert, der seine Rückständigkeit mit einem offensiv vertretenen moralischen Anspruch nur schlecht kaschieren kann. Zwischen das Ich des Autors und das Ich eines Romans soll kein Blatt mehr passen, kein innerer Widerstand soll mehr die völlige Identifikation aufheben. ... Es gibt keinen kategoriellen Unterschied mehr zwischen der Welt auf dem Papier und der Wirklichkeit außerhalb des Buches. In unserer Welt voller Widersprüche sollen wenigstens in einem Buch sämtliche Zweifel, Ungewissheiten und Unwägbarkeiten ausgeräumt werden."

Mit dem Literaturnobelpreis für Handke hat die Schwedische Akademie dem Schriftsteller einen Bärendienst erwiesen, glossiert der Filmemacher Volker Heise in der FR: "Es war doch gerade eine ganze Wildblumenwiese über die Serbien-Sache gewachsen und kaum einer erinnerte sich noch an die Jugoslawien-Kriege und Handkes irrlichternden Einlassungen dazu." Im Tagesspiegel prognostiziert Gerrit Bartels, dass es bei der Preisverleihung am 10. Dezember Proteste geben wird.

Weiteres: Paul Jandl freut sich in der NZZ auf Marion Poschmanns Zürcher Poetikvorlesungen. Im Logbuch Suhrkamp notiert Deniz Utlu, wie es sich anfühlt, einen Roman nach Fertigstellung eingereicht zu haben. Von einem Berliner Abend über Imre Kertesz berichtet Paul Ingendaay in der FAZ. Besprochen werden unter anderem Tommy Oranges Debütroman "Dort Dort" (Intellectures) Rachel Cusks Essay "Lebenswerk - über das Mutterwerden" (NZZ).
Archiv: Literatur

Film

Existenzielle Tragödie: Céline Sciammas "Porträt einer jungen Frau in Flammen"

Die Begeisterung für Céline Sciammas "Porträt einer jungen Frau in Flammen" (mehr dazu bereits hier) hält an: "Wie Céline Sciamma in ihrem Film Blicke dirigiert und so die oberste Deutungshoheit über die Gefühle ihrer Figuren behält, erinnert an 'Vertigo'", schreibt Katrin Doerksen im Perlentaucher. "Wie sie das Dilemma zwischen ihnen auflöst, an 'Orpheus und Eurydike'. Schlussendlich entlädt sich die aufgebaute Spannung zum letzten entflammten Satz aus Antonio Vivaldis 'Sommer'. Man muss nicht erst suchen, um im Subtext von 'Porträt einer jungen Frau in Flammen' einen Kanon männlicher Meisterschaft auszumachen, der seine Inspiration aus dem Blick auf das Weibliche schöpft." Doch scheint "Sciammas eigener Blick auf die Perspektiven der Kunst, die sie referenziert, nicht von Bitterkeit geprägt. Sie fügt dieser lediglich ihre eigenen Sichtweisen hinzu. Macht Blickwinkel sichtbar, die zuvor nicht sichtbar waren."

In ihrer online nachgereichten Welt-Kritik verortet Hannah Lühmann den Film in einem neuen Zusammenhang queeren Erzählens, das im Kino gerade seinen Platz sucht, findet und behauptet: "Es ist, als würde, wenn man Frauenfiguren im Mainstreamkino einmal von der Pflicht entbindet, Frauenfiguren für Männerfiguren oder zumindest neben Männerfiguren zu sein, die Psychologie neu erfunden. Da ist so viel unbearbeitet, dass urknallhaft ein ganzes neues erzählerisches Universum zu entstehen beginnt. Dann sind Frauen eben nicht mehr 'stark' oder 'fesselnd' oder 'unabhängig', sondern sie sind einfach." Sciammas Film ist damit keine lesbische Romanze, "sondern eine existenzielle Tragödie, die den Kampf des Subjekts gegen die es fesselnde gesellschaftliche Ordnung unter den Vorzeichen der Unterdrückung der Frau erzählt." Für ZeitOnline hat Wenke Husmann mit der Hauptdarstellerin Adèle Haenel gesprochen.

Weiteres: Dominique Ott-Despoix empfiehlt im Tagesspiegel eine Reihe mit den Filmen des kambodschanischen Regisseurs Rithy Panh im Berliner Kino Arsenal. Die Berliner Akademie der Künste hat das Archiv Peter Lilienthal eröffnet, berichtet Hannah Bethke in der FAZ.

Besprochen werden Candy Flips und Theo Meows beim Pornfilmfest Berlin gezeigter Dokumentarfilm "Die traurigen Mädchen von den Bergen" (Perlentaucher), Denis Gansels Netflix-Serie "Die Welle" (ZeitOnline, Welt, FAZ), die Papst-Doku "Verteidiger des Glaubens" (Tagesspiegel), Mark Jenkins' Küstendrama "Bait" (Tagesspiegel), André Øvredals Horrorfilm "Scary Stories to Tell in the Dark" (Tagesspiegel) und die Apple-Serie "For all Mankind", die sich spekulativ ausmalt, was geschehen wäre, wenn nicht die US-Amerikaner, sondern die Sowjets zuerst auf dem Mond gelandet wären (FAZ).
Archiv: Film

Bühne

55 Prozent der MitarbeiterInnen des deutschsprachigen Theaterbetriebs geben an, an ihrem Arbeitsplatz unmittelbaren Machtmissbrauch erfahren zu haben, meldet Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung und sieht das Problem auch darin, dass sich Intendanten als "von der Politik installierte Machthaber im Namen der Kunstfreiheit auf Kosten anderer verwirklichen" dürfen. Seidel resümiert noch einmal den Fall um die Schauspielerin Maya Alban-Zapata, die dem Theater an der Parkaue und namentlich dem Regisseur Volker Metzler Rassismus und Beleidigung vorwarf. (Unser Resümee). Ende Juni 2019 erfuhr Alban-Zapata Unterstützung durch einen offenen Brief der Parkaue-Belegschaft an Klaus Lederer, in dem dem von Intendant Kay Wuschek geführten Haus ein "Klima der Angst" vorgeworfen wurde. Im September wurde schließlich das Ende des Vertrags von Wuschek bekannt gegeben. Seidler erscheint der Fall symptomatisch, er fordert: "Man muss unabhängige Stellen mit Befugnissen schaffen, die helfen, die Macht des Intendanten zu kontrollieren. Wenigstens Ensemblevertreter und Vertrauensleute sollten darüber hinaus mit festeren Verträgen ausgestattet werden, sodass ihnen kein ganz so prompter Rauswurf droht, wenn sie sich für andere einsetzen. Antirassistische und antidiskriminierende Vertragsklauseln, die jetzt die neue Leitung der Parkaue aufnimmt, sind zwar kaum justiziabel, stärken aber das Problembewusstsein und schaffen Mut für die Auseinandersetzung."

Weiteres: In der taz stellt Inga Dreyer das Stück "4-11-89 Theater der Revolution" vor, für das das Künstlerkollektiv "Panzerkreuzer Rotkäppchen" um Regisseurin Susanne Neuenfeldt am 4. November am Alexanderplatz die friedliche Revolution mit sechzig Frauen und einem Punk wiederaufleben lässt: "Auf den historischen Aufnahmen sähe man viele Männer mit Bärten, sagt Susann Neuenfeldt und erklärt: 'Wir wollen keine männliche Aufbruchstimmung zeigen. Unser Protest heute ist weiblich, körperlich und gewaltig.'"

Besprochen wird Uwe Eric Laufenbergs Inszenierung von Kleists "Der zerbrochene Krug" am Staatstheater Wiesbaden (FR) und Susanne Zauns Stück "Die Mutter aller Fragen oder 25 Rollen, die eine Frau niemals spielen sollte" am Schlosstheater Moers (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Kunst

Bild: Studio Koen Vanmechelen

Nachdem Gabriele Detterer in der NZZ ihre Bewunderung über das von Mario Botta neu entworfene Teatro dell'architettura auf dem Campus der Architekturakademie Mendrisio bekundet hat, kommt sie auch auf die vor Ort gezeigte Ausstellung "The Worth of Life" des belgischen Künstlers Koen Vanmechelen zu sprechen - die sich mit Biodiversität auseinandersetzt und die Detterer nicht minder in Erstaunen versetzt: "Unter dem konischen Dach baumelt eine verzwergte menschliche Skulptur. An die Miniatur klammert sich der ausgestopfte Körper eines weiß gefiederten Huhnes. Gleich einem bizarren Kuriosum einer Wunderkammer schwebt die Skulptur 'The Narrative' (2019) im offenen Rund des Bühnenraums. Biologische Forschung, zoologische Tierhaltung und freie künstlerische Fantasie vereinen sich zu einem metaphorisch aufgeladenen Werk. Vorrangiges Untersuchungsobjekt - wie auch Motiv künstlerischen Schaffens - ist der Gallus domesticus, das Haushuhn also, das als tierische Nahrung Nummer eins der Weltbevölkerung gilt. Dass der Mensch knusprige Grillhähnchen nicht nur gut verdaut, sondern vielmehr auch Huhn, genauer Ur-Huhn, unsichtbar im Genom der Menschheit steckt, enthüllt diese Schau."

Als Warnung vor Klimakatastrophe, Erderwärmung und Waldsterben nimmt Barbara Catoir in der FAZ Eva Jospins Ausstellung "Wald(t)-räume" im Kaiserslauterner Museum Pfalzgalerie wahr, für das die französische Künstlerin unter anderem Waldskulpturen aus braunem Karton und Wellpappe drapierte: "Der Rundgang durch die Ausstellung führt in viele Details, die anders als die Panoramen Einblick in die Entstehung eines Werkes geben, das außer den wandfüllenden Waldreliefs auch Modellbauten von Grotten und Ruinen sowie linienbasierte Tuschezeichnungen und Panoramen-Rollbilder zeigt. Es sind die Schritte zum Großen, zur begehbaren Rauminstallation, zur Kulisse, zur Bühne, auf der allein die verwüstete Natur der Akteur ist. Der Mensch als Verursacher steht ihr im Zuschauerraum gegenüber. In den Modellen aber liegt die Gefahr, sie zu sehr als entrückte Bühnenbildentwürfe zu sehen."

Weiteres: "Erlesen" findet Ingeborg Ruthe in der FR die von Van-Gogh-Forscher Michael Philipp kuratierte Schau im Potsdamer Museum Barberini, die erste, die sich ausschließlich den Stillleben Van Goghs widmet: "Noch im düstersten Vogelnest glühen geheimnisvoll alle Farben dieser Welt leidenschaftlich auf." Besprochen wird Henrike Naumanns Schau "Das Reich" im Wiener Belvedere 21, für die die deutsche Künstlerin in einer Installation die Möglichkeit durchspielt, dass sich Österreich dem wiedervereinten und inzwischen von Reichsbürgern regierten Deutschland angeschlossen habe (taz).
Archiv: Kunst

Musik

"Mehr frischer Wind ist am Beginn einer Ära kaum denkbar", jubelt Christian Wildhagen in der NZZ nach den zwei Konzerten, die Paavo Järvi als frischer musikalischer Leiter des Tonhalle-Orchesters gerade dirigiert hat. Gegeben wurde unter anderem Erkki-Sven Tüürs Komposition "Sow the Wind...": "Knapp zwanzig Minuten lang entfacht Tüürs Tongemälde aus anfänglichem Säuseln und Wehen einen veritablen Höllensturm: Da bläst und tost es, dass der Saalboden vibriert; dazwischen aber vernimmt man das Summen von riesigen Bienenschwärmen, ein Glucksen von wilden Bächen, ein Oszillieren des Lichts in zerzausten Baumkronen, wie man es aus den besten Naturmusiken der Romantik kennt. Und prompt ist danach die Atmosphäre im Raum wie ausgewechselt. Hört doch, scheint Järvi dem verdutzten Publikum zuzurufen: So aufregend, so beredt kann zeitgenössische Musik klingen!"

Weiteres: Für die taz porträtiert Christian Broecking den Jazzmusiker Ambrose Akinmusire, der morgen beim Jazzfest Berlin auftreten wird. Juliane Streich plaudert in der taz mit Felix Kummer von Kraftklub, der gerade sein Soloalbum "Kiox" veröffentlicht hat. Gerald Felber berichtet in der FAZ von den Kasseler Musiktagen.

Besprochen werden das neue, nach sich selbst benannte Album von Michael Kiwanuka (Pitchfork), ein Konzert des Geigers Gidon Kremer (Berliner Zeitung), ein Konzert der Jazzmusiker Charles Lloyd und John McLaughlin (NZZ) und Kanye Wests neues Album "Jesus is King" (taz, NZZ, mehr dazu hier).
Archiv: Musik