Efeu - Die Kulturrundschau

Was ist ein Ton?

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13.09.2018. SZ und Tagesspiegel erleben mit Alice Rohrwachers "Glücklich wie Lazzaro" ein italienisches Kinowunder. Die SZ durfte einen Schritt in die Retrodiktatur des Dau-Projekts setzten. Die Welt fragt: Worin steckt mehr DDR - im Wiederaufbau der Mauer oder im Verbot eines Kunstprojekts? Die taz bemerkt schockiert, dass sich selbst die All-Time-Favourites ihrer Playlist der BDS-Kampagne gegen den European Song Contest in Israel angeschlossen haben. Und der Guardian läuft noch einmal im Begräbniszug für Prinzessin Diana mit.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.09.2018 finden Sie hier

Film

Adriano Tardiolo und Alba Rohrwacher in Alice Rohrwachers "Glücklich wie Lazzaro"

Als reinstes Kinowunder preist Andreas Busche Alice Rohwachser Sozialmärchen "Glücklich wie Lazzaro", der von einem guten Menschen inmitten von Armut und Ungerechtigkeit erzählt: "Lazzaro ist eine Art Heiligenfigur, entstammt jedoch einer vorreligiösen Epoche. Er vollbringt Wunder nicht durch Handauflegung, sondern durch Präsenz. Rohrwacher: 'Mein Film handelt nicht von Lazzaros Blick auf die Welt, sondern davon, wie wir Lazzaro sehen.' Der Junge ist kein Revolutionär, doch sein Impuls, Gutes zu tun, hat im System gegenseitiger Ausbeutung etwas bedrohlich Subversives. Rohrwacher nennt ihren Film ein 'politisches Manifest', aber man muss diesen Begriff wohl eher im humanistischen Verständnis des Marxisten Pier Paolo Pasolini lesen: als eine märchenhafte Intervention in die gesellschaftliche Ordnung zwischen Religion und (faschistischem) Staat." In der SZ sieht Philipp Stadelmeier eher den Vergleich mit Vittorio De Sica: "Aber Rohrwachers Film ist viel bitterer als De Sicas sozialromantische Vision. Eher noch ist ihr Film ein Gleichnis auf eine lange Geschichte der Unterdrückung und der sozialen Ungleichheit in Italien und der Welt überhaupt, im Geiste Pier Paolo Pasolinis." Im taz-Interview mit Carolin Weidner spricht Regisseurin Rohrwacher über ihren Film, das Gute im Menschen und die Schwierigkeit, mit YouTube-Stars zu arbeiten: "Eher interessiert sich die Welt des Kinos für die Welt der YouTuber, als umgekehrt."

Weiteres: Die FR bringt jetzt auch online die bewegte Dankesrede der Regisseurin Margarethe von Trotta zum Frankfurter Adorno-Preis: "Alle zwei Jahre stand ich in einer Schlange von Menschen auf dem Ausländeramt in Düsseldorf, um meine Aufenthaltserlaubnis verlängern zu lassen und dafür zu bezahlen, dass ich eine Fremde war. In Frankreich hätte ich fünf Jahre lang wohnen müssen, um Französin zu werden. In Deutschland musste ich auf einen Mann warten. 'Ich will verstehen', sagte Hannah Arendt." Auf Artechock schreibt Josef Schnelle einen Nachruf auf den verstorbenen Regisseur Helmut Merker.

Besprochen werden Anja Kofmels Film "Chris the Swiss" über ihren Cousin Christian Würtenberg, der sich bei einer rechsextremen Söldnertruppe im Jugoslawienkrieg verdingte (NZZ), Terry Gilliams Cervantes-Films "The Man Who Killed Don Quixote" (NZZ), Volker Koepps "Seestück" (taz), Wolfgang Fischers "Styx" (Artechock) und Frieder Schlaichs Gerichtsdrama "Naomis Reise" (Critic).
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Musik

Dass die BDS-Kampagne jetzt zum Boykott des ESC in Israel aufruft, hat taz-Autor Jan Feddersen erwartet, aber die lange Liste der UnterstützerInnen dieses Aufrufs schockiert ihn dann doch: Roger Waters ist natürlich dabei, aber auch Brian Eno, Ken Loach und Mike Leigh. "Verstörend ist eher, dass Musikerinnen wie Mari Boine, Mary Coughlan und Mary Black das Papier mittragen: Sie sind alle auf der persönlichen All-time-favourites-Playlist vieler Menschen - und auch auf der des Autors. Eher melancholisch gesinnte Frauen, allesamt kulturell eher im Liederklampferinnen-Sektor beheimatete Künstlerinnen. Und solche, die viel auf Echtheit und Wahrhaftigkeit setzen - und immer schon zu den Kritiker*innen von blankem Pop gehörten... Sie haben sich als politische Naivlinge, bei allen eventuell guten Gründen, die sie anführen mögen, selbst disqualifiziert. Coughlan, Boine und Black fehlten jedenfalls als prominentere Proteststimmen, als der ESC 2009 in Moskau Station machte oder 2012 in Baku."

Georg Rudiger erkennt beim Lucerne-Festival Anzeichen für eine Stockhausen-Renaissance: "Das zweite Wochenende, das in Luzern den 'Kosmos Stockhausen' ergründet, beschäftigt sich mit Schlüsselwerken aus den 1950er Jahren, in denen der deutsche Komponist fast mit jedem Stück eine neue Tür innerhalb der zeitgenössischen Musik aufstieß. 'Als ich Stockhausen in Köln begegnete, fing für mich alles erst an: Was ist ein Ton? Wie entsteht ein Ton? Was ist Lautstärke? Was ist Dauer?', berichtet Péter Eötvös in einem Interview. In den 'Klavierstücken' kann man jene Klang-Suche hörend nachvollziehen, wenn Pierre-Laurent Aimard im Luzerner Maihof diese Welt erforscht."

Weiteres: Jan Brachmann berichtet in der FAZ vom Jerusalem Chamber Music Festival. Im Standard präsentiert Christian Schachinger die 23-jährige Australierin Tash Sultana als neues Pop-Wunderkind.
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Literatur

Deutsche Gegenwart spielt in der Shortlist zum diesjährigen Deutschen Buchpreis keine Rolle, seufzt Iris Radisch in der Zeit: "Die Bücher, für die die Jury stattdessen entbrennt, kreisen um Ereignisse, die sich vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten in sicherer Entfernung zutrugen - in China, in Tschetschenien, auf Teneriffa oder in Argentinien."

Weiteres: Auf ZeitOnline mokiert sich Heike-Melba Fendel über die neue Lust am Geplapper: "Wenn das Internet ein Mensch wäre, dann tränke, dächte und spräche es Kölsch: Viel Mühe gegeben, aber am Ende ein bisschen dünn." Im FR-Interview mit Daniel Majic quittiert Frankfurts Buchmessen-Chef Juergen Boos nur halb erleichtert, dass sich bisher die rechtsextremen Verlage nicht angemeldet haben: "Das eigentliche Problem sind ja nicht die Aussteller. Das Problem ist, was in unserer Gesellschaft gerade los ist." NZZ-Kritiker Paul Jandl trifft die isländische Autorin Steinunn Sigurdardottir. Daniel Kehlmann erinnert in seiner Rede zur Eröffnung des Internationalen Brucknerfestes in Linz (auch in der Zeit abdruckt) an seinen Vater, der im Dritten Reich als "Halbjude" in einem Nebenlager von Mauthausen inhaftiert war.

Besprochen werden Charles Coustilles Ideengeschichte der gescheierten Doktorarbeiten "Antithèses" (SZ), Eduard von Keyserlings Erzählungsband "Landpartie" (FAZ) und Philipp Weiss' tausendseitiges Romandebüt "Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen" (FAZ).
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Bühne

Die Berliner Schaubühne muss ihre China-Tournee abbrechen, nachdem ihre Inszenierung von Ibsens "Volksfeind" unerwartet heftigen Zuspruch fand, berichtet Finn Mayer-Kukuk in der Berliner Zeitung. Aber immerhin, meint Kai Strittmatter in der SZ: "Dass sie überhaupt mit dem Stück in China auf der Bühne stehen durften, noch dazu im Nationaltheater von Peking. Dass sie dort Zuschauer elektrisierten mit diesem Stück über Lüge, Vertuschung, Korruption, eine vergiftete Gesellschaft und den Kampf eines Aufrechten gegen die unterdrückerische Macht. Dass diese Zuschauer darin einen Spiegel erkannten, in dem sie ihr eigenes Leben sahen, und dass sie nicht zögerten, ihre Empfindung und ihren Frust dann auch laut in den Saal zu rufen. Der Dialog mit dem Publikum ist bei Ostermeier sogar ins Stück eingebaut, er hat damit bereits in Istanbul und Moskau, in New York und Minsk die Gemüter erregt. In Peking hatten die Zensoren das wohl irgendwie übersehen".

Reenactment auch in London. Hier hat man Prinzessin Dianas Begräbnis nachgespielt. Komplett mit Trauerzug, Schleierhütchen und Paparazzi. Nur Elton John wurde durch eine Mariachi-Band ersetzt, berichtet im Guardian Dave Simpson, der mitgelaufen ist. Dirigiert wurde der Zug von dem Autor Austin Collings, einem strammen Antiroyalisten, der im Verlauf des Spektakels zum Diana-Fan mutierte: "Sie hatte emotionale Intelligenz. Zu der Zeit sah das ganze schwarze Babies halten und die Sache mit den Landminen wie PR aus. Aber wenn man sich das heute anguckt, dann wurde sie vielleicht eine Frau, die man sie nicht sein lassen wollte. Und die Männer, die sie später wählte - ein indischer Arzt [Hasnet Khan], Dodi [Fayed], a Muslim - waren Siegeszeichen gegen die Royals. Wir erzählen also im wesentlichen eine absurde Geschichte über Klasse, Monarchie, Rassismus und Korruption."

Weitere Artikel: In der NZZ erinnert Daniele Muscionico daran, dass Christoph Marthaler, der in diesem Jahr mit dem höchsten Theaterpreis, dem Ibsen-Preis, ausgezeichnet wird, in Zürich entlassen worden war. Im Aufmacher des Zeit-Feuilletons beugt sich Peter Kümmel bekümmert über den modernen Schauspieler in Deutschland, der die Verwandlung nicht mehr wagt, denn da steht er drüber.

Besprochen werden Joachim Langs Film "Mackie Messer - Brechts Dreigroschenfilm" (taz, nmz), Bastian Krafts Adaption von Klaus Manns Roman "Mephisto" am Wiener Burgtheater (taz, nachtkritik, Presse, Standard), René Polleschs "Cry Baby" am Deutschen Theater (taz), Herbert Fritschs Inszenierung von Mozarts "Così fan tutte" in Hamburg (Spon, Zeit), Wagners "Walküre" an der Oper Magdeburg (nmz) und das Musical "Die Rache der Fledermaus" am Casinotheater in Winterthur (NZZ).
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Kunst

Peter Laudenbach besucht für die SZ die Planer des Berliner Mauerspektakels "Dau". Im Rahmen des Projekts sollen 13 Filme gezeigt werden, die einem offenbar die Erfahrung des Totalitarismus nahe bringen sollen. Danach kann man sich dann in Beichtstühlen bei Schamanen, Naturwissenschaftlern oder Marina Abramovic ausweinen: "Die Härte im Blick auf die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts verleiht den Filmen einen Ernst, der viele von ihnen schwer erträglich macht. Einige Passagen sind bei allem Kunstanspruch von harter Pornografie kaum zu unterscheiden." Die evangelische Kirchengemeinde in der Friedrichstadt, Eigentümerin der Friedrichswerderschen Kirche, protestiert gegen das Dau-Projekt, weil die Kirche praktisch mitummauert würde. Das würde die derzeitigen Renovierungsarbeiten behindern, berichtet Christiane Peitz im Tagesspiegel: "Es kann nicht sein, dass ich mich auf dem Weg zu einer unserer Kirchen ausweisen muss", zitiert sie Pfarrer Stephan Frielinghaus. Dass das "alte Establishment Berlins" gegen die Kunstmauer protestiert hat, weil es darin eine Verunglimpfung der Opfer des Kommunismus sieht, verursacht bei Welt-Kritiker Boris Pofalla Schnappatmung: "Wollen wir demnächst auch Theaterpremieren verhindern, weil uns das Konzept des Stücks nicht passt, Bücher, bevor sie erscheinen? Wenn hier einen etwas an die DDR erinnert, dann das."

Weitere Artikel: Freddy Langer würdigt in der FAZ das Kölner Sammler-Ehepaar Bartenbach, dass seine Fotosammlung dem Kölner Museum Ludwig geschenkt hat. Die Zeit wirft in einer Museums-Beilage einen Blick auf die kommenden Ausstellungen: Im Aufmacher stellt Hanno Rauterberg die Malerin Lotte Laserstein (1898-1993) vor, der das Frankfurter Städel ab 19. September eine Ausstellung widmet.

Besprochen werden die Ausstellung "Robert Delaunay und Paris" im Kunsthaus Zürich (SZ) und die Schau "Imagine 68. Das Spektakel der Revolution" im Landesmuseum Zürich (TagesAnzeiger).
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