Efeu - Die Kulturrundschau

Mein Gehen ist mein Tanzen

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14.09.2018. Die Nachtkritik berichtet, dass Tänzerinnen nun auch dem Choreografen Jan Fabre sexuelle Übergriffe vorwerfen. Es galt die Devise: Kein Sex, kein Solo.  Euphorisiert von Anne Teresa de Keersmaekers Choreografie zu Bachs Brandenburgischen Konzerten blicken Tagesspiegel und Berliner Zeitung sogar mit Nachsicht auf Chris Dercon. In der SZ huldigt Kat Kaufmann dem Jazz-Giganten Wayne Shorter, von dem sie träumendes Fliegen lernte. Die NZZ hört wieder Blues. Und die FAZ freut sich, dass Frankfurt nach Auto Center und Eros Center jetzt auch ein Fassbinder Center bekommt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.09.2018 finden Sie hier

Bühne

Die Nachtkritik meldet, dass zwanzig TänzerInnen schwere Vorwürfe gegen den Choreografen und Theatermacher Jan Fabre erhoben haben. In der Zeitschrift rekto:verso klagen sie in einem offenen Brief Machtmissbrauch und Übergriffe an: "Zudem berichten ehemalige Mitglieder der Tanzkompagnie von einer gängigen Praxis bei Fabre: 'Kein Sex, kein Solo'. Der erste der zitierten Fälle ist gut 15 Jahre alt, der aktuellste fand dieses Jahr statt."

Gehen ist Tanzen: Anne Teresa De Keersmaekers Choreografie "Sechs Brandenburgische Konzerte" an der Volksbühne Berlin. Foto: © Anne Van Aerschot


Das hätte Chris Dercon mal gleich zeigen sollen, meinen die Berliner Kritiker, völlig erschlagen von der Uraufführung einer Choreografie von Anne Teresa de Keersmaeker zu Bachs Brandenburgischen Konzerte an der Volksbühne, die Dercon noch vor seinem Abgang organisiert hatte. "Ja", knirscht Michaela Schlagenwerth in der so derconkritischen Berliner Zeitung, "es ist ein Meisterwerk geworden, wie eigentlich alles, was de Keersmaeker geschaffen hat, seit sie mit 22 Jahren ihr erstes wichtiges Stück, das zum Klassiker gewordene, 'Fase' choreografierte, zur Minimal-Music von Steve Reich. Schon damals hörte sie parallel Bachs 'Brandenburgische Konzerte.' Es ist also eine Rückkehr zu den Wurzeln."

Was für ein glanzvoller Start in die neue Saison, ruft im Tagesspiegel Sandra Luzina. "Die Tänzer, die elegante schwarze Kostüme mit transparenten Oberteilen tragen, muten wie eine Festgesellschaft an. Anfangs stellen sie sich in einer Reihe auf und schreiten beschwingt von hinten bis an die Rampe, um wieder umzukehren. Die Choreografin greift auf ihr Prinzip 'Mein Gehen ist mein Tanzen' zurück, wobei Bachs Musik die Tänzer euphorisiert." - "Smart. Lässig. Machtvoll. Sexy? Ja, sexy auch", staunt Katrin Bettina Müller in der taz. "Einen Moment denkt man womöglich an die werbenden Walks der Modells bei großen Modenschauen. Ja, es geht durchaus auch um Begehren bei diesem Tanz. Begehren nach Zugehörigkeit, nach Aufgenommen-werden in den Flow, nach Gesehenwerden, nach Zuneigung." Nachtkritikerin Elena Philip ist die Choreografie etwas zu sehr "L'art pour l'art".

Weitere Artikel: Im Standard denkt Helmut Ploebst über die Bedeutung der Rekonstruktion historischer Choreografien und Opern nach. Johanna Adorján besucht für die Seite 3 der SZ in Paris Thomas Ostermeier, der dort erstmals an der Comédie-Française inszeniert. Die Opernregisseurin Tatjana Gürbaca spricht im Interview mit der SZ über gute Libretti, Frauenklischees und Händel, dessen "Alcina" sie gerade in Wien inszeniert.

Besprochen werden außerdem Philippe Heules Volksstück "Spekulanten" am Theater St. Gallen (NZZ), Klaus von Heydenabers Slapstick-Oper "Im Amt für Todesangelegenheiten" am Theater Luzern (nmz), Herbert Fritschs Inszenierung von Mozarts "Così fan tutte" in Hamburg (nmz), Joachim A. Langs "Mackie Messer - Brechts Dreigroschenfilm" (FAZ), Bastian Krafts Inszenierung von Klaus Manns "Mephisto" am Wiener Burgtheater (FAZ), Olga Neuwirths Musiktheater "Lost Highway" nach dem Film von David Lynch an der Oper Frankfurt (FAZ)
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Literatur

FAZ-Kritiker Andreas Kilb schickt seine Eindrücke vom Literaturfestival, auf dem er poetischen Nebel, südafrikanische Jungstars, perfekte Lesungen und Gedichte erlebte, die man aufs Sakko drucken könnte. Im Tagesspiegel berichtet Ulrike Baureithel, wie Raoul Schrott und Daniel L. Everett über die Geschichte des Menschen und der Sprachen diskutierten.

Besprochen werden Isaku Yanaiharas Aufzeichnungen über seine Zeit als Modell für Alberto Giacometti in Paris (NZZ), Stephan Thomes Roman "Gott der Barbaren" (FR, SZ), Antje Bones'  Roman "Ein Hund namens Kominek" (Tagesspiegel), Anne Dufourmantelles "Lob des Risikos" (FAZ) und David Graebers "Bullshit-Jobs" (FAZ).
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Film

Für Frankfurt und für die Filmwelt freut sich FAZ-Kritikerin Verena Lueken, dass die Stadt jetzt ein Fassbinder Center bekommt, bestückt mit dem Nachlass und etlichen Leihgaben der Fassbinder Foundation. Nur mit dem Namen hadert Lueken, der sie arg an Eros oder Auto Center erinnert, und mit der institutionellen Einigkeit: "Im April 2019, zum siebzigsten Geburtstag des Filmmuseums wird das Fassbinder Center offiziell eröffnen. Wenn die Feierlichkeiten vorbei sind, ist hoffentlich von Fassbinder, dem Radikalen, Unbequemen, Zerstörerischen, Leidenden, Liebenden und Hassenden noch etwas übrig. Wie sonst ließe sich sein Werk verstehen? Aus dem Konsens heraus eher nicht."

Weiteres: Wirklich großartig findet Ronald Pohl Andreas Dresens Biopic über den DDR-Liedermacher "Gundermann", fragt sich aber, ob die Ostdeutschen mit sich vielleicht ein wenig "zu nachsichtig" sind. Im Guardian bemerkt Fatima Bhutto, dass die auch hierzulande selig progagierte Komödie "Crazy Rich Asians" kein Triumph der Diversität in Hollywood sei, sondern ein seelenloser Tribut an die One-Percenter. Selbst wenn es ernst wird, versichert Robert Hanks im LRB Blog, funktioniert Kevin Brownlows und Andrew Mollos Film "It Happened Here" von 1965, eines der grundlegenden Werke des besonders in Britannien beliebtem kontrafaktischem Genre "Was, wenn die Nazis gewonnen hätten?". Matthias Kolb gibt in der SZ ein Update zum Toronto Film Festival.

Besprochen werden Alice Rohrwachers "Glücklich wie Lazzaro" (den Rüdiger Suchsland auf Artechock mit zaghaftem Superlativen als "einen der allerbesten Filme des Jahres" empfiehlt), Nanouk Leopolds Drama "Cobain" (Tagesspiegel), Volker Koepps Doku "Seestück" (Tagesspiegel) und Wolfgang Fischers Drama "Styx" (Berliner Zeitung).
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Kunst

Christian Meyer besucht für die Welt das Digital Art Museum in Tokio.

Besprochen werden die Ausstellung "Bestandsaufnahme Gurlitt" im Martin-Gropius-Bau (Berliner Zeitung, Tagesspiegel, SZ) Isaku Yanaiharas Band "Mit Giacometti (NZZ), "Im Atelier" - eine Ausstellung der Zeichnerin Nanne Meyer in der Stiftung Brandenburger Tor (Tagesspiegel), die Ausstellung "Imagine 68. Das Spektakel der Revolution" im Landesmuseum Zürich (NZZ), eine Ausstellung des Psychiaters, Drogenexperten und Malers Ambros Uchtenhagen in der Zürcher Stiftung Rügg (NZZ) und eine Ausstellung von Otto Waalkes im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe (Welt).
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Musik

Auch mit seinen 85 Jahren bringt Wayne Shorter noch einmal ein neues Jazz-Album heraus, "Emanon", das eigentlich eine ganze Box ist und auch eine Graphic Novel enthält. Die Musikerin und Schriftstellerin Kat Kaufmann ist in der SZ huldigt dem Jazz-Giganten, der seit den wilden Sechziger nicht zahmer geworden ist: "Wayne Shorter ist Jazz. Der wahre Jazz - nicht das, was ein auf der Bühne Zigarre rauchender Till Brönner uns als solchen verkaufen will und es zum Leidwesen des Jazz auch schafft - hat seit jeher die Kraft, einen tranceähnlichen Zustand, ein träumendes Fliegen, ein Rauschgefühl zu erzeugen, ein Schwindelgefühl zwischen Raum und Zeit. Und Wayne Shorter ist trotz seines Alters ein verlässlicher Kapitän seines Raumschiffes, des Quartetts mit Drummer Brian Blade, Bassist John Patitucci und dem Pianisten Danilo Pérez an Bord, mit dem er durch die Materie und das Materienlose gleitet."

Doch, es gibt ihn, den zeitgenössischen und originellen Blues, ruft Martin Schäfer in der NZZ und empfiehlt unter anderem die Musikerin Shemekia Copeland vor. "In Texten wie bei 'Ain't Got Time For Hate' oder Gauthiers 'Americans' thematisiert Shemekia Copeland zielsicher das zentrale Problem des Landes: die zunehmende politische und kulturelle Polarisierung. So gibt sie dem Blues eine seiner wichtigsten Funktionen zurück: Sie macht ihn von der harmlosen 'good-time music' endlich wieder zum packenden, aufrüttelnden Protest."

Hier ihr Stück "In the Blood of the Blue" aus ihrem neuen Album "America's Child":



Im SZ-Interview mit Reinhard Brembeck spricht die Regisseurin Tatjana Gürbaca über Frauen im Opernbetrieb und ihre Inszenierung von Händels "Alcina" für das Theater an der Wien, an der ihr besonders Bradamante gefällt: "Bradamante ist aus heutiger Sicht völlig aus der Mode gekommen. Das macht sie mir so sympathisch. Eine Frau, die Kriegerin ist, in den Kreuzzügen gekämpft hat, und jetzt zu Alcina kommt, um dort um ihre alte Liebe Ruggiero zu kämpfen."

Besprochen werden neue Alben des amerikanischen Avantgarde-Gitarrist David Grubbs (taz), Stella Sommers neues Album "13 Kinds of Happiness" (taz), die Saisoneröffnung des Tonhalle-Orchesters mit dem finnischen Dirigenten Jukka-Pekka Saraste (NZZ).
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