Efeu - Die Kulturrundschau

Demaskierung des Intellektuellen

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06.06.2018. Heute Abend zeigt die ARD die Verfilmung von Michel Houellebecqs "Unterwerfung". Im Perlentaucher meint Necla Kelek, der Film distanziere sich feige von der Dystopie eines islamisierten Frankreichs, die Welt hört hingegen einen zutiefst humanen Weckruf. Im Tagesspiegel spricht Get Well Soon über Frank Sinatras frühe Konzeptalben. Die SZ erlebt das neue Museum der bayrischen Geschichte als riesige Dunkelkammer. Und im Standard spricht Alexander Kluge über den Luxus der Liberalität.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.06.2018 finden Sie hier

Film



Heute Abend läuft im Ersten eine Verfilmung von Michel Houellebecqs Roman "Unterwerfung". Necla Kelek hat sie schon gesehen und kritisiert im Perlentaucher, dass der Film sich durch eine Rahmenhandlung von Houellebecqs Dystopie eines islamisierten Frankreich distanziert: "Wir diskutieren also nicht mit Hilfe des Films, Theaters und des Buches über die Gefahr der möglichen Islamisierung in Europa, sondern nur über den Opportunismus eines Gescheiterten? Als Künstler steht man so über den Dingen, will keine Stellung beziehen. Oder möchte ein Edgar Selge uns die Angst vor dem Islam nehmen? Man erscheint als mutig, weil man das Thema aufgreift, stiehlt sich aber tatsächlich feige aus der nötigen Debatte heraus?" Im Anschluss an den Film wird heute bei "Maischberger" diskutiert - Necla Kelek gehört zu den Gästen der Talkshow.

Die Hauptrolle spielt Edgar Selge, der nicht nur der Onkel des Regisseurs Titus Selge ist, sondern auch bereits für seine Leistung in Karin Beiers Hamburger Bühnenadaption des Buchs gefeiert wurde. Entsprechend spielt der Film mit verschiedenen Meta-Ebenen - Buch-Adaption, Theaterfilm und Feature, erklärt Elmar Krekeler in der Welt, und ist also eine konsequente Fortführung der Hamburger Theaterinszenierung: Es geht den Selges um "die Demaskierung des Intellektuellen (und mit ihm von uns allen) als moralisch schwarzes Loch in der Geistesgeschichte. Das ist kein Wasser auf die Mühlen der Rechten. Auch kein islamophobes Machwerk (das war der Roman auch schon nicht). Eine Feier des Islam als letztem Fluchtpunkt des Patriarchats ist es höchstens als Satire. ... Ein zutiefst humaner Weckruf an uns alle, aus der verschnörkelten Bürgerbequemlichkeit, dem kuhwarmen Dämmer der falschen Selbstgewissheit und Arroganz aufzuwachen und sich Gedanken zu machen, darüber, über was wir reden, wenn wir von Werten reden. Und was sie uns wert sind."

Auch Daniele Muscionico bekundet in der NZZ, keinen "Skandalfilm" gesehen zu haben, zu dem der Stoff definitiv das Zeug gehabt hätte: "Ihm glückt mehr, eine neue Lesart nämlich des Mannschen 'Mephisto'-Motivs." Außerdem hat Muscionico mit Edgar Selge gesprochen. Auch die FAZ sprach mit Selge und dessen Neffen. Für Edgar Selge liegt Houellebecqs zentraler Tabubruch ohnehin nicht in der Schilderung eines islamischen Frankreich, sondern in der lebensmatten Depression der Hauptfigur als Folge des beschleunigten Konsumkapitalismus: "Wenn es nur noch um Konsum geht, dann erschlafft das Interesse am Leben. ...  Werteungläubig und lustlos, kann François sich nur noch mit der nächsten Frau, der nächsten Flasche Wein oder dem nächsten Buch über Wasser halten, anders schafft er es nicht mehr. Letzten Endes, sagt sich Francois, schaffe ich es nur, wenn ich zum Islam übertrete, ins Patriarchat, mit der Möglichkeit zur Polygamie. Anders halte ich dieses Leben und diesen Kapitalismus nicht aus."

Besprochen werden Shirin Neshats "Auf der Suche nach Oum Kulthum" (SZ) und Oliver Parkers britische Komödie "Swimming with Men", die "mehr als nur Lachen nach Zahlen" bietet, wie Bert Rebhandl in der FAZ verspricht.
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Musik

Mit seinem neuen Album "The Horror" will der Musiker Konstantin Gropper alias Get Well Soon "eine bröckelige Idylle herstellen", erklärt er im Tagesspiegel-Gespräch, in dem er auch auf seine Einflüsse zu sprechen kommt: "Der ganz große Fixpunkt ist Frank Sinatra. Speziell seine Alben aus den Fünfzigerjahren, die nicht so bigband- und swingmäßig sind, sondern sehr ruhig. Das waren einige der ersten Konzeptalben, die es überhaupt gab. Filmmusik aus dieser Zeit spielt ebenfalls mit rein, Hitchcock-Soundtracks von Bernhard Herrmann zum Beispiel. Ich habe auch viel amerikanische Klassik aus dem 20. Jahrhundert gehört. " Hier ein erster Eindruck in Form eines Kurzfilms:



Einen Crashkurs in Sachen Open-Air-Akustik bietet das Gespräch, das Welt-Redakteur Michael Pilz mit dem Tontechniker Ivo König wegen des allgemeinen Frusts nach dem Berliner Konzert von Guns N'Roses geführt hat, das den Fans zufolge unterirdisch schlecht geklungen haben soll: König vermutet ein schlechtes Verhältnis zwischen den Delay- und den Hauptlautsprechern als Quelle allen Übels. Die Delay-Lautsprecher, erfahren wir, spielen den Ton für die hinteren Ränge zeitverzögert aus - um damit der trägen Schallgeschwindigkeit ein Schnippchen zu schlagen: "Wenn das Marketing des Lausprecherherstellers sagt, der Lautsprecher könne 150 Meter bis zur nächsten Delay Line beschallen, muss man wissen, dass das unter idealen Bedingungen vielleicht möglich ist. Aber der Wind kann einem da schnell einen Strich durch die Rechnung machen, und man ist gut beraten, dann doch schon bei 80 Metern die nächste Delay Line zu positionieren. ... Wir haben Thermik, es sind viele Menschen im Stadion. Die Körperwärme drückt den Schall nach oben. Außerdem gab es Seitenwinde. Da kann es sein, dass das Signal auch einfach mal weggeweht wird."

Weitere Artikel: Musikerinnen sind auf den großen Festivals noch immer sehr unterrepräsentiert, schreibt Frank Sawatzki auf ZeitOnline. Jan Paersch plaudert in der taz mit Friederike Meyer und Thorsten Seif über 30 Jahre Buback Records. Für die FR spricht Arne Löffel mit dem Rapper Maroc. Michael Hann erinnert in The Quietus an Bruce Springsteens vor 40 Jahren veröffentlichtes Album "Darkness on the Edge of Town".

Besprochen werden ein Konzert von Katy Perry (Standard), Klaus Wüsthoffs Neuvertonung des Kunstmärchens "Regentrude" (Tagesspiegel), das neue Album von Lykke Li (Spex, SZ), ein Konzert von Max Richter in der Berliner Philharmonie (Spex), Kanye Wests neues Album "Ye" (Spex), ein Konzert von The Sea and Cake (FR) und ein Auftritt von Johnny Depps Band Hollywood Vampires (Berliner Zeitung).
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Literatur

Oliver Ristau berichtet im Tagesspiegel vom Comicsalon in Erlangen (mehr dazu hier). Michael Braun schreibt im Tagesspiegel einen Nachruf auf den Dichter Gregor Laschen.

Besprochen werden Robert Seethalers "Das Feld" (SZ), Angelika Reitzers "Obwohl es kalt ist draußen" (FR), Ralf Rothmanns "Der Gott jenes Sommers" (online nachgereicht von der FAZ), Lesungen von Felicitas Hoppe und Iris ter Schiphorst (FAZ) und Michael Chabons "Moonglow" (FAZ).
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Design

Im ZeitMagazin schreibt Tillmann Prüfer über das Comeback der Fransen.
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Stichwörter: Mode, Fransen

Bühne

Im Guardian erklärt die an der Norwegischen Nationaloper tätige Regisseurin Anniles Miskimmon, warum sie für das Glyndebourne Festival Puccinis "Madame Butterfly" inszeniert hat - auch wenn sie die Orientalismus-Vorwürfe gerechtfertigt findet und die Geschichte der sexuellen Ausbeutung einer asiatischen Frau heute "abstoßend" wirken mag: "Diese Geschichte manifestiert sich immer noch in vielen verschiedenen Berichten in Zeitungen auf der ganzen Welt: Das gleiche Muster westlicher Ausbeutung gefährdeter Frauen kann in Orten wie Haiti gesehen werden."

Weiteres: Begeistert berichtet Katja Kollmann in der taz von den Autorentheatertagen im Deutschen Theater, wo zum ersten Mal auch Inszenierungen aus Georgien, Polen und Litauen vertreten sind. Vor allem das vom Tifliser Royal District Theatre gezeigt Stück "Prometheus. 25 Jahre Unabhängigkeit" hat ihr gefallen: "Alle, die auf der Bühne sind, sind so alt wie das Land, in dem sie leben. Sie sitzen um einen Tisch und werfen sich Befehle zu. Befehle, die entweder mit 'Erinnere dich' oder 'Vergiss' beginnen und so die eindimensionale offizielle Geschichtsschreibung in Georgien demaskieren." In der NZZ erinnert sich die Schriftstellerin Judith Kuckart, wie sie als junges Mädchen vor Pina Bausch vorspach.

Besprochen wird Thomas Ostermeiers Inszenierung von Edouard Louis' "Im Herzen der Gewalt" an der Berliner Schaubühne (taz)
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Kunst

Im Standard-Interview mit Dominik Kamalzadeh spricht Alexander Kluge, dessen Ausstellung "Pluriversum. Die poetische Kraft der Theorie" nun im 21er Haus in Wien zu sehen ist, über die "mutige" Unberechenbarkeit Trumps,  die Macht von Algorithmen und weshalb er die Demokratie nicht in der Krise sieht : "Liberalität ist ein luxuriöses, auf Generosität angewiesenes System. Sie müssen schon in einer relativ geglückten Gesellschaft leben, damit sich dort Liberalität verbreitet. In der Not gehen die Leute antirealistisch vor, sie verschieben die Not, beschuldigen Dritte. Die Menschenseele, das wird von Freud beschrieben, ist die eines Illusionstieres. Es ist raubgierig und illusionsfähig. Deswegen können Sie nicht darauf vertrauen, dass Menschen, die in Not sind und Angst haben, irgendetwas politisch richtig machen."

In der Berliner Zeitung spricht die aus Südafrika stammende Leiterin der 10. Berlin Biennale, Gabi Ngcobo über ihr Ziel, postkoloniale Strukturen durch Kunst aufzubrechen: "Weiß, europäisch, männlich - es gehe darum, die gängigen Hierarchien, die uns das Gefühl gäben, dass Macht vergiftet sei, zu hinterfragen, den Status quo, der auch von Frauen oder Farbigen in solchen Positionen beibehalten werde, aufzubrechen. Auch eine Biennale sei ein Machtraum, sagt Ngcobo."

Weitere Artikel:Einen Nachfolger für Okwui Enwezor am Münchner Haus der Kunst zu finden, dürfte nicht allzu einfach werden, melden Susanne Hermanski und Catrin Lorch in der SZ, derzeit sei nicht mal klar, ob die Ausstellungshalle aufgrund der anstehenden Renovierung nicht geschlossen werde.
 
Besprochen wird die Tacita-Dean-Ausstellung "Landscape" in der Londoner Royal Academy of Arts (SZ), ein vom New Yorker Museum of Modern Art herausgegebener Band über Texte zur modernen Kunst der arabischen Welt (FAZ) und die von Wladimir Putin eröffnete und von Gazprom und OMV gesponserte Schau "Die Eremitage zu Gast" im Kunsthistorischen Museum in Wien (Standard).
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Architektur

In der SZ rauft sich Laura Weissmüller die Haare angesichts des 88 Millionen teuren Museums der bayrischen Geschichte in Regensburg, das Horst Seehofer Bayern als Abschiedsgeschenk hinterließ und das das Architekturbüro Wörner Traxler Richter gründlich vermurkst hat, wie Weissmüller findet: Nicht nur von außen erscheine es wie eine finstere "Shopping Mall": "Selten hat man so große Ausstellungsflächen - insgesamt sind es 3500 Quadratmeter - derart düster gesehen. Dunkelgrau ist der Boden, dunkelgrau die Wand und die Decke. Öffnungen gibt es kaum. Selbst das in der Tat sehr große Fenster zum Dom am höchsten Punkt des Gebäudes hat einen Schirm davor bekommen. Die Ausstellungsräume geraten damit zur riesigen Dunkelkammer."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Seehofer, Horst