Efeu - Die Kulturrundschau

Eine Art Litfasssäule für Poesie

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24.01.2018. Der Guardian trifft Nan Goldin, die dank der kultivierten Familie Sackler wieder heroinabhängig wurde. Die FR jubelt über Manfred Trojahns virtuos-verrückte Musikkomödie "Enrico" an der Oper Frankfurt. Die SZ staunt, wie die Alice-Salomon-Hochschule Eugen Gomringers angefeindetes Gedicht "Avenidas" in Routine verschwinden lassen will. Die NZZ erlebt in Dubai die neue Architektur der heißen Luft. Die FAZ erinnert daran, wie in München mit dem Denkmalschutz kurzer Prozess gemacht wird.  Und alle trauern um Südafrikas Jazz-Legende Hugh Masekela.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.01.2018 finden Sie hier

Bühne


Virtuoser Wahnsinn: Manfred Trojahns "Enrico" an der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Wer hätte gedacht, dass Oper noch 1991 so avantgardistisch sein konnte? Hans-Klaus Jungheinrich jubelt in der FR über Tobias Heyders Inszenierung von Manfred Trojahns dramatischer Musikkomödie "Enrico" nach Pirandello an der Oper Frankfurt: Ganz "vorbildliche Repertoirepflege", meint er. Und: "Im 'Enrico' freilich regiert der helle Wahnsinn. So schräg und fetzend, dass man als Publikum kaum zur Besinnung kommt. Atemlos geht es schon los mit quirligen, drastisch wirbelnden Vokalensembles à la Rossini. Aber zugespitzt und überdreht in einer grotesken, bizarren, verzerrten Diktion, in der tonale Assoziationen und melodische Linienführungen karikaturistisch verbogen, gequetscht, auseinandergespreizt erscheinen. Es muss verrückt schwer sein, solche Partien zu lernen und sie dann in einen akkurat gedankenschnellen Ablauf einzubringen. Verrücktheit als Virtuosität. Das minuziös elaboriert Artifizielle als Irrenwitzigkeit. Die Oper, eine Destilliermaschine des Wahnsinns."

Der Regisseur Christopher Rüping war mit seiner "Hamlet"-Inszenierung der Münchner Kammerspiele beim Fadjr-Theaterfestival in Teheran zu Gast. Im Welt-Interview mit Barbara Möller erklärt er, warum er sich Eingriffe in seine Arbeit gemäß den landesüblichen Keuschheitsgeboten hat gefallen lassen: "Die Grundsatzentscheidung mussten wir schon in München treffen: Wollen wir ein Gastspiel im Iran oder nicht? Meine Position ist da sehr klar: Ich bin unbedingt dafür! Und zwar deshalb, weil wir mit diesem Gastspiel zu einem Prozess der Öffnung und Verständigung beitragen können. Nehmen Sie Katja Bürkle... Wie frei und ungezwungen sie da auf der Bühne steht, wie radikal und kraftvoll sie sich dem Publikum entgegenschmeißt und wie selbstverständlich sie sich gegen diese Männer durchsetzt."

Weiteres: Sehr inspirierend findet Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung das Festival "Spy on me" im Berliner HAU, das eine Woche lang emanzipatorische Varianten der allgemeinen Vernetzung aufspürte und im Chile Salvador Allendes fündig wurde, der Anfang der siebziger Jahre in einen digital gesteuerten Sozialismus einsteigen wollte. Im Standard unterhält sich Margarete Affenzeller mit dem australisch-schweizerischen Regisseur Simon Stone über dessen neue Inszenierung "Hotel Strindberg" im Wiener Akademietheater. Bei den Lessing-Tagen am Hamburger Thalia Theater, die mit einer Rede des türkischen Exil-Journalisten Can Dündar und Antú Romero Nunes' Kleist-Inszenierung "Michael Kohlhaas" eröffnet wurde, erkennt Till Briegleb in der SZ ein gemeinsames Thema: Den beleidigten Mann.

Besprochen werden Calixto Bieitos Inszenierung von Franz Schrekers Fin-de-Siècle-Oper "Die Gezeichneten" an der Komischen Oper in Berlin (SZ) und sowie Emre Akals und Rieke Süßkows Projekt "Heimat in Dosen" in der Wiener Drachengasse (Nachtkritik).
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Kunst

Auch der Guardian berichtet über Nan Goldins Kampagne #ShameOnSackler, mit der sie die noble Familie Sackler zur Rechenschaft zwingen will, die mit Schmerzmittel OxyContin ihrer Firma Purdue Millionen von Amerikaner heroinsüchtig gemacht hat - und sich selbst steinreich (mehr hier und hier). Goldin wurde trotz ihrer Vorgeschichte OxyContin verschrieben, wovon sie quasi über Nacht abhängig wurde. Ihre Geschichte mit Purdue Pharma begann aber vorher: "Auf Goldins Artikel im Art Forum antwortete Elizabeth Sackler mit einem Brief an das Magazin, der am 1. Februar online gehen soll. Darin legt sie dar, dass der Anteil ihres Vaters an Purdue kurz nach dessen Tod an seine Brüder verkauft worden sei und dass weder sie noch ihre Kinder von OxyContin 'in irgendeiner Weise profitiert' hätten. Sie nennt die Rolle, die Purdue Pharma in der Opioid-Krise spielte, 'moralisch abscheulich'. Goldin schätzt das Elizabeth Sackler Center for Feminist Art am Brooklyn Museum, doch sie betont, dass es das Vermaktungsgeschick von Elizabeth' Vater war, der schon mit seiner Valium-Kampagne das Vorbild für Purdues Verbreitung von OxyContin liefert. 'So leicht kommt sie nicht davon', sagt Goldin."

Zwei Ausstellungen im Badischen Landesmuseum Karlsruhe und im Museum Allerheiligen in Schaffhausen geben Thomas Ribi in der NZZ Anlass zum Staunen über die Kultur der Etrusker, die sich ihm hier von bemerkenswertem Frohsinn zeigen: "Die Etrusker waren mächtig. Und sie verstanden es anscheinend auch, die angenehmen Seiten der Macht zu genießen. Das Kunsthandwerk spricht von Reichtum. Die Wandbilder in den Gräbern, die Skulpturen auf den Sarkophagen sprechen von einem eleganten Lebensstil. Von Extravaganz fast." (Foto: Aschenurne in Form einer Kanope aus Chiusi, 6. Jh. v. Chr., Museo Archeologico Nazionale, Chiusi © Museo Archeologico Nazionale, Florenz)

Weiteres: Ingeborg Ruthe meldet in der Berliner Zeitung, dass die Direktorin der Galerie für Zeitgenössische Kunst in Leipzig, Franciska Zólyom, den deutschen Pavillon der Biennale 2019 in Venedig kuratieren wird, und notiert: "Nun muss die 44-Jährige an den deutschen Erfolg der Weltschau 2017 anknüpfen, als die Performerin Anne Imhof den Goldenen Löwen holte. Interessant, wie stark doch die Auftritte der Frauen im Kuratoren-Karussell sind, derweil die männliche Konkurrenz, siehe die Documenta 14 letztes Jahr, eher glücklos agierte, vor allem auch, was die unverantwortlich überzogenen Finanzen betrifft."
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Literatur

Der Akademische Senat der Berliner Alice-Salomon-Hochschule hat entschieden, Eugen Gomringers Gedicht "Avenidas", um das sich in den letzten Monaten eine heftige Debatte entflammt hatte, von der Fassade des Schulgebäudes bis Herbst zu entfernen und durch ein Gedicht von Barbara Köhler zu ersetzen. Künftig solle die Fläche dann im großzügig bemessenen Turnus immer wieder neu bespielt werden. Mit dieser Entscheidung wird das Haus "eine Art Litfasssäule für Poesie", stellt Lothar Müller in der SZ fest. Für ihn hat der nun gefundene modus vivendi "etwas Wohlfeiles, er ersetzt die Attacke auf das Gedicht, gegen die sich ästhetisch oder politisch argumentieren ließ, durch ein neues Regelwerk, in dem das anstößige Gedicht gewissermaßen aus Routine verschwindet, ohne dass von seiner Anstößigkeit noch groß die Rede ist. Diejenigen, die von Beginn an eine Entfernung des Gedichtes gefordert haben, können sich nun als Sieger fühlen, ohne sich zu ihrem ursprünglichen Motiv noch einmal deutlich bekennen zu müssen." Heide Oestreich blickt in der taz auf die Debatte und deren Wallungen zurück: "In schrillem Kontrast zur Beschaulichkeit des Gedichts steht die Debatte, die es hervorgerufen hat."

Außerdem: Manuel Müller schwärmt in der NZZ von Hernán Ronsinos Romanen, nach deren Lektüre man sofort wieder auf der ersten Seite zu lesen beginnt, weil sich die Bücher erst von ihrem Ende her ganz erfassen lassen: "Die erzählerischen Verknüpfungen sind zuweilen so lose, Ronsino flicht seinen Text mit so ruhiger und sicherer Hand, dass sich die eigentliche Verwicklung erst auf den letzten Seiten zeigt: Zum Schluss fügen sich die Einzelteile zum Gesamtbild, vom Schluss her wird die Tragweite der Ereignisse im ganzen Ausmaß überblickbar. "

Außerdem: Für die taz spricht Stefan Hochgesand mit dem Fotografen und Autor iO Tillett Wright über dessen Erinnerungsbuch "Darling Days". In der New York Times schreibt Gerald Jonas einen Nachruf auf die feministische Science-Fiction-Autorin Ursula K. Le Guin. Michi Strausfeld schreibt in der NZZ zum Tod des chilenischen Dichters Nicanor Parra.

Besprochen werden der erste Band von Haruki Murakamis neuem Roman" Die Ermordung des Commendatore" (NZZ), Kathrin Klingers Comic "Katze hasst Welt" (Tagesspiegel), Fernando Aramburus "Patria" (SZ) und Ricarda Huchs wiederaufgelegte Studie "Die Romantik. Ausbreitung, Blütezeit und Verfall" aus dem Jahr 1899 (FAZ).
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Architektur

In der NZZ zeigt sich Antje Stahl sichtlich entgeistert über "The Dubai Frame", einen gigantischen goldenen Rahmen, dessen Errichtung ohne weitere Absprachen mit dem Architekten Fernando Donis stattfand und der seit Anfang des Jahres vor der Metropole prangt. Das leere Bauwerk, das mehr als einen Panoramablick nicht hergibt, hält sie weder für künstlerisch wertvoll, noch für die Menschheit irgendwie nützlich: "In Dubai hat man sich nun entschlossen, nicht die Architektur in einen Rahmen zu setzen, sondern den Rahmen zur Architektur zu erheben. Das ist so erniedrigend wie tragisch: Besteht die Fläche, die diese goldenen Leisten abstecken, doch vor allem aus heißer Luft."

Dass in den USA ein Eigentümer mit seinen Bauten machen darf, was er will - eben auch einen Bau von Frank Lloyd Wright abreißen, ahnte man. Aber auch in München  könnte der Denkmalschutz verbessert werden, wie Niklas Maak in der FAZ berichtet, "nachdem im Münchner Stadtteil Giesing im vergangenen Jahr ebenfalls über Nacht eines der letzten, deswegen auch denkmalgeschützten, 170 Jahre alten Handwerkerhäuser dem Erdboden gleichgemacht wurde - angeblich durch einen Fehler des Baggerfahrers, der direkt nach der Tat flüchtete. Der Eigentümer des Hauses plante seit längerem, anstelle des kleinen alten Hauses einen lukrativen Luxuswohnbau zu errichten."
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Film


Frances McDormand, Sam Rockwell, and Zeljko Ivanek in "Three Billboards Outside Ebbing, Missouri"

Die gestern verkündeten Oscarnominierungen (hier alle Nominierten im Überblick) lassen aufs Neue eine sehr von der Politik geprägte Oscarverleihung im März erwarten, meint Susanne Ostwald in der NZZ. Immerhin: "In diesem Jahr aber geht der politische mit dem künstlerischen Anspruch Hand in Hand, denn mit 'Three Billboards' geht ein Film als Favorit ins Oscar-Rennen, der Komik und Zündstoff perfekt in der Waage hält." Auch Andreas Busche im Tagesspiegel ist zufrieden: Nach vielen Jahren der Kritik zeigt sich der Oscar mit seinen Nominierungen in diesem Jahr endlich einmal auffällig "ausgewogen, und mit 'Shape of Water' und 'Three Billboards', flankiert von Greta Gerwigs Regiedebüt 'Lady Bird' und Steven Spielbergs Journalistenthriller 'Die Verlegerin' mit Meryl Streep, stehen Filme mit überragenden und komplexen Frauenfiguren im Mittelpunkt der Verleihung." Und Barbara Schweizerhof hält auf ZeitOnline das Rennen in der Kategorie "Bester Film" für offen wie nie.

Besagte "Three Billboards" laufen im übrigen in dieser Woche in unseren Kinos an. Ein "erstaunlicher Film", schreibt in der FAZ Verena Lueken über diesen Film, in dem Frances McDormand eine Mutter in einem entlegenen Nest spielt, die die von den Behörden nicht verfolgte Vergewaltigung ihrer Tochter mit drei Werbetafeln anprangert. Und McDormand ist in dieser Rolle ziemlich grandios, versichert Christiane Peitz im Tagesspiegel: Sie "kämpft mit der Waffe der Sprache. Jeder Dialog ein Schlagabtausch, sie weiß, wie man kontert, knapp, gezielt, gewitzt. ... Martin McDonagh hat einen im besten Sinne altmodischen, mitunter fast alttestamentarischen Film gedreht, mit ruhigen Einstellungen, Charakterdarstellern und ohne Schauwerte-Schnickschnack." Bereits beim Filmfestival in Venedig waren die Kritiker begeistert - hier unser Resümee. In der New York Times hatte Wesley Morris vor einigen Tagen jedoch starke Vorbehalte geltend gemacht.

Weitere Artikel: Arno Widmann (FR) und Torsten Wahl (Berliner Zeitung) empfehlen Claude Lanzmanns auf Arte gezeigte Interviewfilm-Reihe "Vier Schwestern"  und "Der Letzte der Ungerechten".

Besprochen werden Özgür Yıldırıms Gangsterfilm "Nur Gott kann mich richten" mit Moritz Bleibtreu (ZeitOnline) und Tali Tillers "My Two Polish Loves" (taz).
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Musik

Der afrikanische Jazzpionier Hugh Masekela ist tot. Bekannt wurde er vor allem durch die Nelson Mandela gewidmete Hymne "Bring Him Back Home", mit der er "so etwas wie den Soundtrack für den Kampf gegen das Apartheid-Regime lieferte", schreibt Christian Putsch in der Welt. Im letzten halben Jahrhundert habe es "kaum einen flexibleren Musiker gegeben als ihn", schreibt Ueli Bernays in der NZZ. Johannes Dieterich von der FR hat im südafrikanischen Rundfunk gelauscht, wie man den Verstorbenen dort würdigt: "Gefeiert werden sein ansteckender Humor, die unbändige Lebenslust und sein gesellschaftliches Engagement". Weitere Nachrufe in taz und Tagesspiegel.



Außerdem: Für den Tagesspiegel spricht Gerrit Bartels mit Dirk von Lowtzow über die autobiografischen Aspekte des neuen Tocotronic-Albums "Die Unendlichkeit", das für Bartels das "vielleicht beste Album" der Bandgeschichte ist. Frederik Hanssen gratuliert Beat Furrer zur Auszeichnung mit dem Siemens Musikpreis. Frederic Jage-Bowler porträtiert in der taz den experimentellen Elektromusiker Gajek. Den Hamburger Clubs steht das Wasser angesichts steigender Mieten und Verdrängungskampf in den Innenstädten zusehends bis zum Hals, berichtet Sven Sakowitz in der taz. Im "Unknown Pleasures"-Blog des Standard verneigt sich Karl Fluch vor Soulsänger James Carr. Jan Brachman resümiert in der FAZ das Ultraschall-Festival in Berlin, bei dem ihm die Avantgarde zusehends in der künstlerischen Sackgasse angekommen scheint.

Besprochen werden Sophie Fiennes' Porträtfilm "Grace Jones: Bloodlight and Bami" (taz), das neue Album "Semicircle" von The Go! Team (Tagesspiegel), das neue Album "Okay" der Wiener Band Neuschnee (Standard), ein Konzert von Angélique Kidjo (NZZ), ein Auftritt von Andrew Savage (Berliner Zeitung) und eine neue Biografie über den Komponisten Gottfried von Einem (NZZ). Und die Spex freut sich, dass Sufjan Stevens für seinen Song "Mystery of Love" für den Oscar in der Kategorie "Best Original Song" nominiert wurde. Im Kino kann man den Song in Luca Guadagninos neuem Film "Call Me By Your Name" hören, im Internet auf Youtube und bei uns:

Archiv: Musik