Efeu - Die Kulturrundschau

Huch, unser Land verändert sich!

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.10.2017. Auf der Buchmesse begegnen die Feuilletons einem charismatischen Macron und einer blassen Merkel. In der Welt verteidigt Robert Menasse den französischen Präsidenten gegen Didier Eribon. Selbst wenn es um Architektinnen geht, ist das Frauenghetto nicht mehr zeitgemäß, ermahnt die NZZ das Frankfurter Architekturmuseum. Die SZ erlebt, wie Kirill Petrenko mit Brahms zu einem Tanz des Verderbens und der Düsternis aufspielt. In der FR huldigt Ayrson Heráclito dem Gott der Blätter.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.10.2017 finden Sie hier

Architektur


Merete Mattern: Stadterweiterung Ratingen West, nicht realisiert, Modell 1967, Foto: Hagen Stier, DAM

Das Architekturmuseum Frankfurt versammelt mit der Ausstellung "Frau Architekt" die Arbeit von zweiundzwanzig Architektinnen aus hundert Jahren. Ganz schlechte Idee, findet Antje Stahl in der NZZ: "Das macht fünf Quadratmeter Wandfläche für jede." Trotzdem hat sie in diesem Frauenghetto viel gelernt, zum Beispiel über die grandiose Merete Mattern: "Mitte der sechziger Jahre nahm sie an einem städtebaulichen Wettbewerb teil, der das schreckliche deutsche Nachkriegsaufbauwesen wenigstens in dem kleinen Städtchen Ratingen bei Düsseldorf beenden sollte. Ihr Team reichte keine gesichtslosen Billigwohnungen und Wirtschaftswundershoppingmeilen ein, sondern eine Stadtlandschaft, die wie die Alpen aus der Erde herausbricht und sich dem Himmel zuwendet, eine organische Häuserwelt, in der Terrassen Fassaden und Türme Brücken ersetzen. Selbst die Zeitschrift Bauwelt organisierte eine Kampagne gegen die Wettbewerbsjury, die den Beitrag zwar auszeichnete, aber nicht favorisierte."
Archiv: Architektur

Literatur

Merkel blass, Macron charismatisch - "1:0 für Frankreich", lautet Marc Reichweins Fazit in der Welt nach dem Staatsakt zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse, bei der Frankreich Gastland ist.. Merkel hielt sich lediglich "ans Kursbuch der Keywords", wohingegen Macron von Goethe bis Ricoeur in 30 Minuten jede Menge Kultur-Pathos unterbrachte, was auch Thomas Steinfeld in der SZ bestätigt: Nachdem es in dem "intellektuellen Pamphlet" um die französische Sprache ging, die die französischen Landesgrenzen weit übersteigt, und das "Ineinander und Miteinander" der deutschen und französischen Kultur, "wiederholte Macron, mit beträchtlichem Pathos, seine Ankündigung, Europa aus dem Geist einer deutsch-französischen Kultur erneuern zu wollen."

Vor der Eröffnung sprach Macron gemeinsam mit Daniel Cohn-Bendit und dem Jihad-Forscher Gilles Kepel vor Frankfurter Studenten an der Universität, wie Sandra Kegel in der FAZ berichtet: Auch hier bekräftigte er unter Verweis auf die eigene intellektuelle Biografie "sein Eintreten für ein Europa, das sich nicht nur wirtschaftlich und juristisch definiert, sondern auch als Raum, in dem man lerne, mit kultureller Diversität zu leben: Auch deshalb müssten wir ein unleugbares Unbehagen in unseren Gesellschaften ins Visier nehmen, um einengende Identitätskonzepte aufzusprengen. Er glaube fest an die soziale Mobilität durch die Kultur", sagte er und bezeichnete dies als "Emanzipation durch Exzellenz".

Für "absolut dumm" hält unterdessen der frischgebackene Buchpreis-Träger Robert Menasse Didier Eribons gestern in der SZ veröffentliche Ankündigung, Macrons Buchmessen-Eröffnung aus politischen Gründen fernzubleiben: "Sich zu entziehen heißt, das, was man selbst wichtig findet, selbst zu begraben", sagt Menasse im Welt-Interview gegenüber Philipp Haibach. "Die Kritik an Macron wegen seiner neoliberalen Agenda könnte eine ganz normale politische Kritik sein. Nur sind die Dinge heute nicht mehr so einfach zuordenbar. Macron mag ein Neoliberalist sein, er ist aber gleichzeitig europapolitisch fortschrittlicher als alle Linken in Frankreich." Carsten Otte (taz) und Tomasz Kurianowicz (ZeitOnline) würdigen Menasse derweil als verdienten Gewinner des Deutschen Buchpreises.

Überhaupt scheine es ja so, "als sei die französischsprachige Literatur in puncto Gesellschaftsrelevanz und Globalisierung weiter als die deutschsprachige", stellt Gerrit Bartels im Tagesspiegel fest, in Deutschland sei man dagegen immer noch überrascht von den neuen Realitäten: "Huch, unser Land verändert sich!"

Außerdem: Volker Breidecker resümiert in der SZ unterdessen die Pressekonferenz der Messeleitung und des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. In der NZZ wappnet sich Paul Jandl vor den zahlreichen Lesungen, die es auf der Frankfurter Buchmesse wieder gegen wird, schließlich sei "die Geschichte des öffentlichen Lesens aus Büchern auch eine Geschichte der Katastrophen." Im Freitext-Blog auf ZeitOnline gibt Lyrikerin Nora Gomringer wichtige Überlebenstipps für die Buchmessen und rät dazu, "mal Tinder anzuschalten auf der Buchmesse. Vielleicht tindert man ja Benedict Wells, Ijoma Mangold oder Kirsten Fuchs." Wir wünschen viel Erfolg!

Weiteres: Stefan Brändle spricht in der FR mit Schriftstellerin Virginie Despentes unter anderem über den Niedergang der französischen Pornoindustrie und Prostitution in Frankreich im Wandel der Zeit.

Besprochen werden Ljudmila Ulitzkajas "Jakobsleiter" (NZZ), Thomas Glavinics "Gebrauchsanweisung zur Selbstverteidigung" (SZ), Daniel Kehlmanns "Tyll" (Berliner Zeitung, NZZ), Marion Poschmanns "Die Kieferninseln" (Freitag), Sten Nadolnys "Das Glück des Zauberers" (Tagesspiegel) und Didier Eribons "Gesellschaft als Urteil" (FAZ, SZ).
Archiv: Literatur

Bühne


Wayne McGregors "Autobiography". Foto: Ben Cullen Williams


In der SZ ist Dorion Weickmann völlig umgehauen von der "Autobiography" des Londoner Choreografen Wayne McGregor, die alle Grenzen der Selbstbeschreibung sprengt, wie er schreibt: "Man kann das für supereitel und eigentlich total bescheuert halten. Aber was im Londoner Tanzhaus Sadler's Wells nun zur Premiere gelangte, ist ein einzigartiges Gesamtkunstwerk aus Bewegung, Licht, Musik und Raum. Ein mit schierer Schönheit und sinnlichem Zauber überwältigendes Tanzmosaik, wie es so derzeit offenbar nur bei den Briten gedeiht."

Weiteres: Daniele Muscionico macht in der NZZ einige Vorschläge zur Neubesetzung der Intendanz am Zürcher Theater Neumarkt.

Besprochen werden Benjamins Brittens "Peter Grimes" an der Oper Frankfurt (FR), Aribert Reimanns "L'Invisible" an der Deutschen Oper in Berlin (Tagesspiegel) und George Orwells "1984" am Schauspielhaus Salzburg (Standard).
Archiv: Bühne

Film

Der Fall Harvey Weinstein lässt Bert Rebhandl im Standard über die "Ambivalenz eines Missverhältnisses zwischen Macht, Geld, Wahrheit und Recht" nachdenken: Es werde "nicht nur eine ganze Reihe von 'settlements' offenbar, sondern es wird auch wieder einmal deutlich, dass es eine ganze Industrie gibt, die mit der heiklen Balance der 'power dynamics' beschäftigt war." Christiane Peitz ärgert sich im Tagesspiegel über Weinsteins Reaktion, der sich zwar reuig zeige, dabei aber auf die 60er und 70er verweist, in denen er nun einmal aufgewachsen ist: Darin schwinge "der Chauvinismus einer lange als fortschrittlich geltenden Libertinage mit, die sexuelle Befreiung mit dem Recht auf Übergriffigkeit gleichsetzt".

Unterdessen kriegt die Geschichte um Weinstein einen neuen Dreh: Gestern veröffentlichte der New Yorker eine Reportage von Ronan Farrow, in der zahlreiche Frauen, darunter die Schauspielerin Asia Argento, davon berichten, von Weinstein nicht nur sexuell belästigt, sondern darüber hinaus auch vergewaltigt worden zu sein. In einem Gespräch mit The Daily Beast hat sich nun mit George Clooney endlich auch einer der schweigsamen Nutznießer Weinsteins zu Wort gemeldet: "Wir müssen alle viele achtsamer sein und nach Warnsignalen Ausschau halten", fordert er. "Früher haben die Leute solchen Anzeichen nicht ausreichend Beachtung geschenkt. Jetzt müssen wir das. Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem wir solchen Leuten soviel Angst einjagen sollten, damit sie sich anders verhalten."

Schwenk nach Europa: Für Philipp Stadelmaier von der SZ liegt im Titel "Happy End" des neuen Michael-Haneke-Films auch ein Abschied des Regisseurs von seinem eigenen Kino. Hanekes Filme handeln Stadelmaier zufolge oft vom Zuschauen, von der Verführung zum Voyeurismus und der Kritik daran durch Schock. Zwar konfrontiere Haneke "seine Zuschauer immer noch mit ihrer Rolle - aber eher, um zu testen, ob sie eigentlich frühere Haneke-Filme gesehen haben. ... Irgendwann sieht man den Clip eines Youtubers, der Kinderbilder von sich zeigt und sich mit schriller Stimme darüber lustig macht. Dieser abgestumpfte Bursche lässt sich schwerlich von einem Haneke schockieren. Er ist der Zuschauer seiner eigenen Bilder. Keiner braucht mehr das Kino und seine Meister."

Weiteres: Im Tagesspiegel spricht Susanne Ehlerding mit Norbert G. Suchanek, der in Berlin das Uranium Film Festival gegründert hat, bei dem es "darum geht, Aufmerksamkeit schaffen, das Thema unter die Leute zu bringen und zu zeigen, dass Atomkraft mit Uran zusammenhängt." Besprochen werden die auf TNT ausgestrahlte Science-Fiction-Serie "Colony" (FAZ) und die auf ZDFNeo gezeigte Serie "Sylvia's Cats" (FR, FAZ).
Archiv: Film

Kunst


Ayrson Heráclito, Bori (Speiseopfer für die Götter), 2009, Performance und Installation, Belo Horizonte, Brasilien, Foto: Marcelo Terça Nada, Weltkulturen Museum

Im FR-Interview mit Sophie-Maria Adeoso spricht der Afrobrasilianer Ayrson Heráclito, dem das Weltkulturen Museum in Frankfurt gerade eine Ausstellung widmet, über den schwarzen Atlantik, seine stark vom Candomblé geprägte Kunst und die Körper in seinen Arbeiten. Bedient er damit nicht Klischees? "Manche Rituale im Candomblé musst du nackt machen. Aber der Candomblé hat eine völlig andere Moralvorstellung als etwa das Christentum... Er ist nicht nackt. Er ist ein Gott der Blätter. Er ist bedeckt mit der Kultur. Das ist kein erotischer Körper, sondern hat kulturelle Bedeutung, Symbole, die sehr tiefgreifend sind. Der Körper tritt in Kontakt mit den Elementen, mit Licht, Luft, Wasser, Feuer. Wenn ich meine Arbeit einer westlichen Perspektive unterziehe, kann es leicht passieren, dass es wie eine Erotifizierung und Objektivierung des schwarzen Körpers interpretiert wird. Aber das ist nicht meine Intention."

Sehr inspiriert kommt taz-Kritiker Julian Weber aus der coolen Londoner Großausstellungen "Soul of a Nation" zu den Künstlern der Black Power: "Der Grafiker und "Kulturminister" der Black Panther Party, Emory Douglas, titelte in der Parteizeitung The Black Panther über einem Linolschnitt, der eine Frau mit Gewehr und Dynamit in den Händen zeigt: 'We always keep close watch on the fascist's movements so they will have a miserable ending'."

Weiteres: In der NZZ porträtiert Gabriele Detterer den kanadischen Künstler Rodney Graham, dem das Museum Frieder Burda gerade eine Ausstellung widmet.

Besprochen wird die Schau "One Two Three!" der Künstlergruppe Superflex in Londons Tate Modern (SZ).
Archiv: Kunst

Musik

SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck kommt erschöpft, aber glücklich aus einem Konzert des Münchner Opernorchesters unter Kirill Petrenko, wo unter anderem Brahms und Mahler gespielt wurden - als existenzielles Drama. Bei Brahms etwa werde "schon der karg aus Zweitonteilchen gedrechselte Beginn durch die grelle Aggressivität der Geigen zersplittert. Petrenko ist dezidiert nicht gewillt, auf die Attitüde des Komponisten hereinzufallen, sich als ein kleinteilig bastelnder Handwerksmeister zu geben, der dem Barock nachtrauert. Für Petrenko ist das nur eine notdürftig errichtete Fassade, hinter der sich Ungeheuer, Vulkane und Albträume in einer Walpurgisnacht versammelt haben. Nach und nach fällt die Fassade und bald liefern sich vor Kraft strotzende Gelichter einen Tanz des Verderbens und der Düsternis."

Die Musikindustrie interessiert sich zunehmend für Rap mit afrikanischen Wurzeln, stellt Jonathan Fischer in seinem in der Zeit erschienen Porträt des Rappers MHD fest, der in Paris lebt und dessen Familie aus Guinea und Senegal stammt. Seine "Spielart des Hip-Hop beeinflusst nicht nur unsere Popkultur, sondern auch das Selbstverständnis einer ganzen Generation afrikanischer Migranten in Europa. ... Zwar kann man die Texte von MHD, Sarkodie, Dabs, Eugy oder DJ Arafat kaum politisch nennen. Und doch reicht ihre Mission weiter als bis zur nächsten Party. Wenn sich afrikanischstämmige Migranten selbst repräsentieren, ist das ein politisches Statement. Europa ist bunter geworden. Und hat dank seiner Neubürger eine neue Lässigkeit entdeckt."

Eine Hörprobe:



Weiteres: Andreas Holzapfel porträtiert für die taz den Berliner Musiker BRKN. Vor 50 Jahren bekam FAZ-Kritiker Peter Kemper beim Rolling-Stones-Konzert noch den Gummiknüppel der Polizei zu spüren, heute finden sich bei den Konzerten vor allem Besserverdienende, und doch: "die aufrührerische Vehemenz ihrer Musik lebt fort". In der NZZ gratuliert Marianna Zelger-Voigt Alexander Pereira zum 70. Geburtstag. Karl Fluch verneigt sich im im "Unknown Pleasures"-Blog des Standard tief vor Brenda Patterson. Dazu eine Hörprobe:



Besprochen werden ein Konzert des Collegium Novum in der Tonhalle-Maag in Zürich (NZZ), das Comebackalbum von The Dream Syndicate (Standard), das neue Soloalbum von Liam Gallagher (SZ), ein Konzert von András Schiff (Standard), ein Konzert des ohne Dirigenten spielenden, russischen Ensemble Persimfans (FAZ) und neue Pop- und Rockveröffentlichungen, darunter mal wieder ein neues Album von Van Morrison (FR).
Archiv: Musik