Efeu - Die Kulturrundschau

Alle sind im Widerstand

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15.08.2017. In seiner Reihe zum türkischen Kino beschreibt der Filmdienst, wie die nationalen Filmfestivals als kritische Plattform ausgeschaltet wurden. Die FAZ verteidigt Adam Szymczyks Recht, eine schlechte Documenta zu kuratieren. Die Berliner Zeitung versinkt beim Berliner Tanz im August in einem Laughing Hole. Die Spex sucht Wut und Widerstand in der Kunst, nur Andreas Spechtl sucht einen Gegner. Und der Tagesspiegel erlebt im Dach der Philharmonie ein Gummistöpsel-Wunder.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.08.2017 finden Sie hier

Film

Emine Yildirim bringt im Filmdienst ihre Artikelreihe über das Türkische Kino zum Abschluss. In der aktuellen Folge geht es um die Entwicklungen des türkischen Films seit dem Putschversuch im vergangenen Jahr und den daraus resultierenden Repressalien. Yildirim zeichnet ein pessimistisches Bild: Insbesondere die großen Festivals im Land - lange Zeit ein Hort für den kritischen Filmnachwuchs - stünden zusehends unter Druck. Sponsoren ziehen sich zurück, Festivalkomitees werden geschasst. "Die Stadtverwaltung von Antalya wiederum schaffte den 53 Jahre alten nationalen Wettbewerb ab - mit der Begründung, man wolle das Filmfestival 'internationaler' machen und zur Cannes-Konkurrenz aufbauen. Einige sorgfältig ausgewählte türkische Filme sollen im internationalen Wettbewerb gezeigt werden, womit eine handverlesene Gruppe türkischer Filmemacher eine Plattform bekäme. Eine Katastrophe: Der nationale Wettbewerb war bislang eine wichtige Institution des türkischen Filmschaffens. In einer Atmosphäre, in der unabhängige Filme kaum eine Chance auf einen regulären Verleih haben, bedeutet seine Abschaffung die Ausschaltung einer zentralen Plattform des türkischen Films."

Weiteres: Im critic.de-Podcast resümieren Lukas Foerster, Frédéric Jaeger und Hannes Brühwiler das Filmfestival von Locarno. Im Filmdienst spricht Michael Ranze mit Schauspielerin Gillian Anderson, die in "Der Stern von Indien" eine Hauptrolle spielt. Auf kino-zeit.de macht sich Patrick Holzapfel Gedanken über den Trend zur Wiederaufführung großer Klassiker. Passend dazu bespricht Holger Römers im Filmdienst die Wiederaufführung von King Hus Martial-Arts-Epos "A Touch of Zen".
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Literatur

Michael Braun hat für die NZZ eine Lyrikertagung in der Eifel besucht, wo die Teilnehmer zahlreiche Grundsatzfragen der Gegenwartslyrik debattierten. In vielen Gedichten, die dort diskutiert wurden, zeigte sich ihm ein "Ineinander von Traditionszitat und moderner Überschreibung eines althergebrachten Stoffs". Sacha Verna (FR) und Joachim Scholl (Deutschlandfunk Kultur) sprechen mit dem Pulitzer-Preisträger Viet Thanh Nguyen. Das Boersenblatt greift Thekla Dannenbergs Perlentaucher-Artikel über das Ende von Simenon bei Diogenes auf.

Besprochen werden eine Hörbuch-Collage aus dem Briefwechsel zwischen Arno Schmidt und Hans Wollschläger (Standard), Mirko Bonnés "Lichter als der Tag" (Tagesspiegel), Schwartz' und Yanns Comic "Spirou und Fantasio Spezial 22: Der Meister der schwarzen Hostien" (taz), Yasmina Rezas "Babylon" (NZZ), Donato Carrisis Krimi "Der Nebelmann" (online nachgereicht von der FAZ) und Doris Runges Gedichtband "man könnte sich ins blau verlieben" (FAZ).

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Bühne


La Ribot: "Laughing Hole" in der Retrospektive beim Tanz im August

Oft überdeutlich und unterkomplex findet Elisabeth Nehring in der Berliner Zeitung die Choreografien beim Berliner Tanz im August (besonders schade sei das bei Serge Koulibalys Fela-Kuti-Stück "Kalakuta Republic", das tänzerisch eigentlich hochenergetisch sei). Großartig sei aber die Retrospektive zu La Ribot, die noch einmal ihr Guantanamo-Stück "Laughing Hole" von 2006 zeigen: "Einer langgezogenen Klage, einem Aufschrei gleich, geht es über die Hysterie hinaus bis zur kakophonischen Erschöpfung. Beim Versuch, die Schilder an die Wand zu kriegen, verrenken sich die Tänzerinnen mit gespreizten Armen und Beinen. Lachen und Entkräftung, politisches und körperlich-sexuelles Exponieren und Ausbeuten vermischen sich und machen 'Laughing Hole' auch mehr als zehn Jahre nach der Entstehung zu einer Performance, die auf die Beunruhigungen des politischen Lebens mit Humor, Subversion und jener Mehrdeutigkeit antwortet, für die der zeitgenössische Tanz zu Recht gerühmt wird." Ähnlich sieht es Wiebke Hüster in der FAZ.

Das amerikanische Regieduo Abigail Browde und Michael Silverstone hat für Salzburg Ödön von Horvaths "Kaismir und Caroline" inszeniert. Geradezu imperial findet Uwe Mattheis in der taz die Ignoranz, mit der sich Abigail Browde und Michael Silverstone über Horvaths Sprache hinwegsetzen: "Per hin und her übersetzter 'Bearbeitung' haben sie eine belanglose Nacherzählung der Fabel zu Gehör gebracht, die mit Horváth ungefähr so viel zu tun hat wie eine gute Nachricht mit der 'Frohen Botschaft' des Neuen Testaments." In der Nachtkritik ächzt Reinhard Kriechbaum: "Anderswo dramatisiert man Romane - hier wird ein echtes Stück zu einem papierenen Krampf." Nur im Standard verteidigt Margarete Affenzeller die Kargheit und Simplizität der Inszenierung als sinnvollen Antipoden zum "Salzburger Virtuosenzirkus".

Besprochen wird Monteverdis "Ulisse" bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik (Standard).
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Musik

Die Spex hat Künstlern aus aller Welt die Frage gestellt: "Ist Wut eine Kraft?" Die Antworten in Form von Interviews oder kurzen Essays sind online zu lesen, und alle betonen natürlich das künstlerische und gesellschaftliche Potential von Wut und Widerstand in der Popkultur: Gudrun Gut, Beth Ditto, die Fotografin Aylin Güngör, der Schrifsteller Niq Mhlongo und und und. Der österreichische Musiker Andreas Spechtl schreibt: "Alle sind ja wütend. Alle protestieren. Alle sind im Widerstand. Das ist gar nicht das Problem. Das Problem sind die Gegner, die fehlen. Ober besser: Die zu fehlen scheinen."

Mit Bands wie Godspeed You! Black Emperor und A Silver Mt. Zion hat das Indie-Label Constellation Records einen guten Stand bei Freunden künstlerisch avancierter Independent-Musik mit Punk-Spirit. Nur in Israel soll man deren Veröffentlichungen nicht kaufen dürfen, hat Jonas Engelmann von der Jungle World herausgefunden: Mit der klaren Ansage "No Export to Israel" erweist sich das Label als der Klassenstreber unter den Israel-Boykotteuren: "Der Vertrieb hüllt sich dazu auf Nachfrage in Schweigen, dabei wäre es durchaus interessant zu erfahren, wie das in der Praxis funktioniert. Bekommt der Tel Aviver Plattenladen eine Standardmail, einen politischen Aufklärungsbrief oder wird er ebenso ignoriert wie ein Journalist? Letztendlich ist es aber auch egal. Mir ist jedenfalls kein anderes Plattenlabel, kein Verlag oder Filmverleih bekannt, der seine Produkte weltweit vertreibt und aus politischen Gründen einzig Israel ausspart."

Jens Uthoff weilt unterdessen in Finnland, wo man auch beim Flow Festival in die Feierlichkeiten zu 100 Jahre staatlicher Unabhängigkeit miteinstimmt. Beim Auftritt von Aphex Twin gab es dann kein Halten mehr: Zu sehen gab es "große Kunst, den wahren Flash, einen audiovisuellen Angriff auf die Synapsen. Zum Flimmern der Strahler und Bildschirme ballern mal dumpfe Technobeats, mal röhren Synthies, dann wieder fiept oder dröhnt es nur fies. ... Gegen Ende pitcht Aphex Twin alle Regler hoch, die Beats rattern, dazu blinkt alles, als würde man von der Bühne aus beschossen. Overkill. Ein Stehnachbar reißt die Arme hoch, so richtig, und jubelt, als hätte er gerade einen wichtigen Titel, Wimbledon oder so, gewonnen. Um ihn herum: rund 5.000 heruntergeklappte Unterkiefer." So sah das aus:



Weiteres: In der Musikbranche dominieren zwar zusehends schwarze Künstler, doch das Business selbst ist immer noch sehr weiß, lautet das Fazit von Lukas Hermsmeiers Recherchern, die er auf ZeitOnline veröffentlicht. Andreas Hartmann porträtiert im Tagesspiegel Reinhold Friedl und sein Ensemble Zeitkratzer. In der NZZ berichtet Thomas Schacher vom Musiksommer am Zürichsee, wo man derzeit einen neuen Leiter sucht. Auf ZeitOnline seziert Daniel Gerhardt den Sommerhit "Despacito".

Besprochen werden Dean Hurleys Zusammenstellung "Anthology Resource Vol. 1", die Ambientsounds der neuen Twin-Peaks-Staffel bündelt (Pitchfork), der Soundtrack "Good Time" von Oneohtrix Point Never (Pitchfork), ein Auftritt von Lana del Rey (The Quietus) und ein Konzert von PJ Harvey (Standard).
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Kunst

Georg Imdahl findet Kritik an Adam Szymczyks Dokumenta durchaus berechtigt. Aber wenn Zeit und Welt fordern, Kuratoren abzuschaffen oder unter Kuratel zu stellen, verlieren sie ihr Maß, meint Imdahl in der FAZ: "All solche Vorschläge führten wohl auf direktem Wege dazu, die Documenta abzuschaffen. Was ja im Ernst niemand wollen kann. Doch dann lesen wir in einer Überschrift der NZZ: 'Die Documenta braucht niemand', und darunter: 'Kunst wird gern überschätzt.' Verwundert reibt man sich die Augen. Sollte das Gift des Populismus in die seriöse Kunstkritik eingesickert sein?"

Besprochen wird Maxime Ballesteros' Fotoband "Les Absents" (taz), die Ausstellung "Wir geben den Ton an" über Bilder der Musik im Berliner Kupferstichkabinett (FAZ), eine Sarah-Morris-Ausstellung in der Galerie Capitain Petzel.(Tagesspiegel).
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Architektur


Sieht nur aus wie ein goldes Dach, ist aber ein Klangwunder: Hans Scharouns Berlienr Philharmonie.

Christiane Peitz durfte für den Tagesspiegel aufs Dach der Berliner Philharmonie, aber trotz Phoenix-Skulptur, Aluminiumeindeckung und Blitzschutzsystem hat sie am meisten der kleine Gummistöpsel beeindruckt: "Das größte Wunder der Philharmonie ist ziemlich klein und oben im Dach versteckt. Es sieht aus wie ein Korken mit einer Art Moosgummiplatte davor und einem Stahldraht-Abhänger, an dem die mit Dämmmatten belegte Saaldecke hängt. Ein Elastomer-Element, erklärt Ludwig Falta, der oberste Gebäudemanager. Dutzende dieser elastischen Gebilde sorgen dafür, dass die Saaldecke mitschwingen kann mit der Musik. Ähnlich wie der hölzerne Leib eines Cellos oder wie ein Klavierdeckel. Der Korken und die Platte verwandeln die Philharmonie in einen einzigen riesigen, 26.000 Kubikmeter fassenden Resonanzkörper. Oder wie Simon Rattle sagt: 'Der Saal ist das Instrument'."

Besprochen wird eine Ausstellung über den Architekten Otto Bartning in der Städtischen Galerie Karlsruhe (Welt).
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