Efeu - Die Kulturrundschau

Endlich eine moderne Frau

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15.07.2017. Die Bilder des DDR-Malers Wolfgang Mattheuer sind viel mehr als Republikfluchtfantasien, ruft die Welt anlässlich einer großen Retrospektive in Rostock. Wenn wir die traditionellen Geschlechterrollen ablegen wollen, sollten wir es in der Literatur erst mal ganz ohne Geschlecht probieren, ermuntert in der Welt die Linguistin Lann Hornscheidt. Auch die SZ wünscht sich neue Rollenvorbilder und plädiert für eine radikale Umschreibung der Opern des 19. Jahrhunderts. Im Standard fordert die elfjährige Komponistin Alma Deutscher: Hört auf, meine Dissonanzen zu zählen!
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.07.2017 finden Sie hier

Kunst


Wolfgang Mattheuer, Hinter den 7 Bergen, 1973 (Ausschnitt)

Wenn Michael Pilz - wie jetzt in der Kunsthalle Rostock - vor den Bildern Wolfgang Mattheuers steht, wird er immer noch wütend über die Vorwürfe, der Maler, der in der DDR geblieben war, sei ein "Propagandisten der Ideologie", wie es ihm Gerhard Richter einst vorgeworfen hatte. Das ist so ungerecht, ärgert sich Pilz immer noch in der Welt, während er vor "Hinter den 7 Bergen" steht, "wo am Horizont die nächste mythologisch-märchenhafte Mattheuer-Gestalt erschien, die Freiheit von Delacroix, aber ohne Revolutionsflagge, dafür mit bunten Luftballons. Schneewittchen führte, zwischen Tafeln mit Heines 'Eiapopeia' aus dem 'Wintermärchen' rechts und links der Landstraße, das Volk. Im Westen sahen sie das Bild als Republikfluchtfantasie. Im Osten selbstverständlich auch, aber da sah man nebenbei noch mehr. Die Freiheit als Fata Morgana, einen Wartburg von der Stasi und wieder den Industriedunst."

Endlich mal ein bisschen Glamour auf der Documenta 14, freut sich in der NZZ Christian Saehrendt angesichts der Performances von Annie Sprinkle: "In öffentlichen Touren durch Kasseler Parkanlagen propagierte sie '25 Arten, mit der Erde Sex zu haben'. Voyeure und schräge Fetischisten kamen hier allerdings nicht auf ihre Kosten: Annie trug ein vergleichsweise züchtiges Lederdirndl und beschränkte sich auf theoretische Erläuterungen von 'Ökosexualität'. Dennoch reichte dies bereits, dass in der Lokalzeitung Leserbriefe abgedruckt wurden, die der Künstlerin eine psychiatrische Behandlung empfahlen."

Iris Berndt, Direktorin des vor dreißig Jahren gegründeten Käthe-Kollwitz-Museums in der Berliner Fasanenstraße, tritt zurück, berichtet Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung. Zermürbt vom Streit mit dem Eigentümer des Hauses, Bernd Schultz, der dort ein "Exilmuseum" einrichten will, gibt sie auf: "Der erhoffte, aber bislang fehlende große Rückhalt in der Stadt Berlin, hat sie auch enttäuscht, zuletzt regelrecht frustriert.  Denn weder Bürgerschaft noch Politik konnten sich bislang zu einem klaren Handeln - für eine gesicherte Zukunft des Museums aufraffen. Stattdessen wurde im Senat laviert und ausgewichen; es gab nur vage Bekundungen und  nebulöse Vorschläge, das Kollwitz-Museum gehöre doch eh in den Prenzlauer Berg, wo die Künstlerin einst lebte."

Weiteres: Im Freitag porträtiert Carmela Thiele Paul Spies, Direktor der Stiftung Stadtmuseum Berlin und Chefkurator des Humboldt-Forums, der mit seinem aus Amsterdam mitgebrachten "flexiblen Projekt-Management" die Berliner Museen auf Trab bringen soll. Besprochen werden die Ausstellung "Gelato!" im Clemens Sels Museum in Neuss (FAZ), die Ausstellung "Vorsicht Kinder" in der Berliner Humboldt-Box (Berliner Zeitung) und die Neusortierung der Renaissance- und Barock-Schätze der staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SZ)
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Literatur

Viel hat sich an den Geschlechterbildern in der Literatur seit Jane Austen nicht getan, konstatiert die Linguistin Lann Hornscheidt in der Welt und fordert "anders gegenderte Geschichten". Denn: "Je diskriminierter die Personen positioniert sind - schwarz, trans, behindert -, umso stärker werden sie über ihre Diskriminierungen eingelesen und umso weniger schlichtweg als Menschen - im Feuilleton wie auch im sonstigen Leben. Das nennt sich strukturelle Diskriminierung, die sich so auch im Lesen und Wahrnehmen von Literatur wiederfindet und sowohl ein Spiegel gesamtgesellschaftlicher Verfasstheiten ist als auch ein aktives Moment, genau diese gesellschaftlichen Wirklichkeiten immer wieder neu herzustellen und zu bestätigen. Was wäre, wenn Geschlecht gar keine Rolle spielen würde, wenn es um die Personen an sich gehen würde?"

Außerdem berichtet Gina Thomas Im Literarischen Wochenendessay der FAZ von den Austen-Feierlichkeiten in Großbritannien. Die Literarische Welt bringt T.C. Boyles Erzählung "Mein Date mit Jane Austen" und Jürgen Kaube schreibt in der FAZ-Reihe über Nebenfiguren bei Austen über Isabelle Thorpe in "Northanger Abbey".

Weiteres: Sandra Kegel trifft sich für die FAZ in einem Klagenfurter Café mit Stefanie Sargnagel. Warum deren lakonisch-sarkastische Wortmeldungen diverse Vertreter des Schlags "alter, weißer Mann" so auf die Palme treiben, darüber denkt Sargnagels Kollegin Olga Grjasnowa in der Literarischen Welt nach. Mit Grjasnowa wiederum im einem, allerdings Berliner, Café getroffen hat sich Susanne Lenz, worüber sie in der Berliner Zeitung berichtet. Peter Urban-Halle staunt in der NZZ darüber, dass ein auf Papier gedrucktes Konversationslexikon in Norwegen beträchtlichen Absatz findet. Denis Scheck ergänzt seinen wöchentlich erweiterten Literaturkanon in der Welt um Hölderlins "Sämtliche Gedichte". Schriftsteller Jochen Schmidt berichtet im Freitext-Blog auf ZeitOnline von seinem Urlaub mit Kindern. Deutschlandfunk Kultur bringt Michael Opitz' "Lange Nacht" über Walter Benjamin.

Besprochen werden Ian Burumas "Ihr gelobtes Land. Die Geschichte meiner Grosseltern" (NZZ), Don Winslows "Corruption" (Zeit), Szilárd Borbélys postum veröffentlicher Roman "Kafkas Sohn" (NZZ), Michel Contats "Paris 1959. Notizen eines Waadtländers" (NZZ), Marie von Ebner-Eschenbachs und Josephine von Knorrs "Briefwechsel 1851-1908" (online nachgereicht von der FAZ), Simon Strauß' "Sieben Nächte" (Tagesspiegel), Hari Kunzrus "White Tears" (taz) und Theresia Enzensberger Debüt "Blaupause" (Welt, FAZ).
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Bühne

Dass der Oper die museale Erstarrung droht, liegt auch an den heute meist unerträglichen Libretti aus dem 19. Jahrhundert. Man betrachte nur die klischeehaften Frauenfiguren! Reinhard J. Brembeck plädiert deshalb in der SZ für radikale Umschreibung, wie sie etwa Calixto Bieito 2003 in Hannover mit der "Traviata" gewagt hatte: "Statt vorschriftsmäßig an Tuberkulose zu sterben, zieht Bieitos Traviata-Violetta eine gefakte Totkrankenshow ab, um den sie aushaltenden Männern Geld aus der Tasche zu ziehen, für die gemeinsame lesbische Zukunft mit ihrer Freundin Annina. Das ist ein radikal das Stück verändernder Eingriff, der die traditionelle Opferrolle der Frau umkehrt - und aus Violetta endlich eine moderne Frau macht."

"Als wäre es ein Film-Shakespeare von Baz Luhrmann!" Einfach hingerissen kommt FAZ-Kritikerin Teresa Grenzmann aus Abdullah Kenan Karacas Inszenierung von Wilhelmine von Hillerns "Geierwally" auf der Freilichtbühne in Oberammergau: "Frech, jung, derb, dynamisch, mit Mut zur Hässlichkeit überzeichnet, aber dennoch scheinbar mitten aus dem Leben gegriffen, manchmal grad so, wie bayrische Schnäbel gewachsen sind, ohne jedoch den Text zu verraten. Versehen mit dem goldrichtigen, oft bitterbös provokanten Live-Soundtrack der angesagten Oberammergauer Volksmusik-Band Kofelgschroa".

In der Abendzeitung ist Mathias Hejny eher ratlos: "Ist es Bauerntheater? Ist es eine Trash-Fantasie in rustikal naturnahem Ambiente, knallig koloriert von den Kostümen Sita Messers? Oder ist es, was angesichts der wenig einfühlsam geführten Amateurschauspielern, die traditionell zum ammergauischen Theater gehören, nur ehrgeiziges Schultheater?"

Besprochen werden außerdem Frank Castorfs Inszenierung von Molières "Kabale der Scheinheiligen" in Avignon (Tagesspiegel), Mozarts "Zauberflöte" auf der Burgruine im österreichischen Kamptal (Presse, Standard), Mieczysław Weinbergs Oper "Die Passagierin" an der Dresdner Semperoper (Tagesspiegel) und Jan Fabres Choreografie "I am a mistake" zum Auftakt des Impulstanz in Wien (Standard).
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Film

Der Netflix-Film "To The Bone" über eine magersüchtige junge Frau hat einige Kontroversen auf sich gezogen. Der Schriftstellerin und Journalistin Nora Burgard-Arp, die regelmäßig über Anorexie und Bulimie schreibt, zeigt sich in dem Film allerdings, "was in der Darstellung dieser Krankheit so oft fehlt: Komplexität und Vielschichtigkeit. Der Film wirft an vielen Stellen mehr Fragen auf, als er beantwortet - und ist genau deswegen realistisch."

Weiteres: In einem Filmdienst-Essay befasst sich Tim Slagman mit den Raum- und Zeit-Konzeptionierungen von Regisseur Christopher Nolan. Außerdem schreibt Jörg Gerle im Filmdienst über eigens erstellte Schwarzweißversionen moderner Blockbuster. Christian Schröder schreibt im Tagesspiegel zum Tod der Schauspielerin Alexandra Kluge.

Besprochen werden Eleanor Coppolas Spielfilmdebüt "Paris kann warten" (Standard, Welt), Nana Ekvtimishvilis und Simon Groß' "Meine glückliche Familie" (FAZ, Zeit) und Ken Dukens Thriller "Berlin Falling" (Tagesspiegel).

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Design

Die Nazis standen moderner Designästhetik weit weniger ablehnend gegenüber als die Narrative der Nachkriegsmoderne glauben machen, schreibt Christoph Schmälzle in der FAZ, nachdem er die Leipziger Tagung "Formgebung im Nationalsozialismus" besucht hat: "Der emphatische Moderne-Begriff, der in der alten Bundesrepublik gepflegt wurde, steht einer Aufarbeitung der designgeschichtlichen Kontinuitäten im Weg: Nur eine Moderne, die unterdrückt und vertrieben wurde, kann unter demokratischen Vorzeichen heimkehren. Den historischen Selbstaussagen der Akteure, die ihren Formfindungen eine immanente Moral zuschreiben, ist mit Skepsis zu begegnen: Denn ein Großteil der fortschrittlichen Designs der Zeit, von Wagenfelds Rautengläsern bis zum KdF-Wagen, dem späteren VW Käfer, ist politisch bedeutungsoffen."
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Musik

Im Standard spricht Ljubiša Tošić mit der Violinistin, Pianistin und Komponistin Alma Deutscher. Das gerade mal elfjährige Wunderkind wünscht sich, dass "die Leute aufhören würden, mir zu sagen, wie es mir erlaubt oder nicht erlaubt sei, im 21. Jahrhundert zu komponieren. Mögen sie nicht mehr meine Dissonanzen zählen! Ich hoffe, dass es auch in zehn Jahren kein Verbrechen sein wird, schöne Musik schreiben zu wollen."

Weitere Artikel: Für die taz plaudert Diviam Hoffmann mit der Musikerin Katie Crutchfield über deren neues, unter dem Namen Waxahatchee veröffentlichtes Album "Out in the Storm".

Besprochen werden Yoko Onos wiederveröffentlichte Alben aus den frühen 70ern (Pitchfork), das neue Album von Haim (FAZ), ein Konzert von Emily Jane White (FR), ein Konzert des Ensembles La Scintilla dei Fiati (NZZ) und ein Konzert der Münchner Philharmoniker unter Valery Gergiev beim Rheingau Festival (FAZ).
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