Efeu - Die Kulturrundschau

Produktive Irritationen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.09.2015. Die NZZ versucht den Unterschied zwischen illegalem Plagiat und legaler Appropriation zu erklären. Quentin Tarantino feiert im New York Magazine den Western als zeitgenössisches Genre. Andreas Kriegenburgs "Nathan"-Inszenierung mag ja Humor haben, aber diskurstechnisch ist noch reichlich Luft nach oben, urteilt der Tagesspiegel. Total altmodisch finden Berliner Zeitung und taz den Gegensatz von widerständigem Pop und regierungstreuer Subventionskunst. Und: alle trauern um Wes Craven.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.09.2015 finden Sie hier

Film


Szene aus Quentin Tarantinos "The Hateful Eight"

In einem epischen Interview mit dem New York Magazine ist Quentin Tarantino, dessen neuer Film "The Hateful Eight", ein Western, gerade im Schnitt ist, ziemlich zufrieden mit sich und der Welt. Warum er einen Western gedreht hat? "One thing that"s always been true is that there"s no real film genre that better reflects the values and the problems of a given decade than the Westerns made during that specific decade. The Westerns of the "50s reflected Eisenhower America better than any other films of the day. The Westerns of the "30s reflected the "30s ideal. And actually, the Westerns of the "40s did, too, because there was a whole strain of almost noirish Westerns that, all of a sudden, had dark themes. The "70s Westerns were pretty much anti-myth Westerns - Watergate Westerns. Everything was about the anti-heroes, everything had a hippie mentality or a nihilistic mentality. ... In the "70s, it was about ripping the scabs off and showing who these people really were. Consequently, the big Western that came out in the "80s was "Silverado", which was trying to be rah-rah again - that was very much a Reagan Western."

Die Filmkritik trauert um den Horror-Auteur Wes Craven: Nachrufe schreiben David Steinitz (SZ), Thomas Klein (Berliner Zeitung), Thomas Groh (taz), Hanns-Georg Rodek (Welt), Alexandra Belopolsky (Tagesspiegel) und Bert Rebhandl (FAZ).

Besprochen werden neue, im IT-Milieu spielenden Serien (Zeit) und Matteo Garrones "Das Märchen der Märchen" (taz, Perlentaucher).
Archiv: Film

Musik

Die erste Pop-Kultur kam und die Berliner Kritiker sind es zufrieden - insbesondere nach dem Gegenwind im Vorfeld, wo von Förder- und Regierungspop die Rede war und eine Elitisierung der Popmusik befürchtet wurde. "Wie veraltet diese Vorstellungen von widerständigem Pop und regierungstreuer Subventionskunst sind, zeigt die Gegenwart (...) zur Genüge", merkt Tobi Müller dazu in der Berliner Zeitung an: "Nichts ist so elitär wie der freie Popmarkt, der zu horrenden Eintrittspreisen führt." Auch Jens Uthoff (taz) berichtet satt und glücklich von zahlreichen Konzerten im Berghain, wo er sich unter ebenso euphorisierte Leuten tummelte: "Die Frage, wo Pop heute affirmativer ist, ob bei Vans- oder Warsteiner-Festivals oder im institutionellen Rahmen, darf man dabei auch stellen. Die Debatte erscheint merkwürdig retro, merkwürdig deutsch, merkwürdig berlinerisch. ... Und hat nicht vielmehr der Pop an Orten wie der Berliner Volksbühne das e wie elitär aus der sogenannten E-Kultur genommen?"

In der Berliner Zeitung gibt Peter Uehling seine Empfehlungen zum anstehenden Musikfest Berlin aus. Für Pitchfork spricht Anupa Mistry mit Abel Tesfaye über dessen Musikprojekt The Weeknd. Steven T. Hanley von The Quietus spricht mit dem Ambientkomponisten Max Richter. Patrick Heidmann (Berliner Zeitung) unterhält sich mit Ice Cube. Lisa-Maria Röhling (Tagesspiegel) gratuliert dem Geiger Itzhak Perlman zum 70. Geburtstag. Wolfgang Sandner (FAZ) schreibt zum 80. Geburtstag des Dirigenten Seiji Ozawa.
Archiv: Musik

Bühne


Lessing, Nathan der Weise. Inszenierung Andreas Kriegenburg am Deutschen Theater.

Das Deutsche Theater beginnt die Saison mit Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Lessings "Nathan der Weise" - als große Versöhnungsparabel eigentlich das Stück zur Zeit. Doch Christine Wahl schüttelt im Tagesspiegel den Kopf: Sie sah einen kalauerhaften ""Nathan"-Comic", der von "produktiven Irritationen" merklich frei bleibe. Zwar kann Humor der Sache durchaus dienlich sein, seufzt die Kritikerin, "nur müsste der Humor dann eben bühnenpraktisch entsprechend zwingend, klug und scharfkantig sein. Dass "Nathan der Weise" überdies eine Feier der menschlichen Vernunftbegabung ist, ein Plädoyer für den, wenn man so will, diskursiven Dialog, erschließt sich bei Kriegenburg nur in sehr wenigen Szenen, etwa in der kalauerfrei erzählten Ringparabel. Ansonsten gibt es diskurstechnisch noch reichlich Luft nach oben für die neue Spielzeit..."

Peter Laudenbach wird in der SZ noch deutlicher: "Stück der Stunde"? Chance vertan, lautet sein Befund. In dieser Inszenierung werden "Fragen nach dem prekären Status kollektiv Stigmatisierter ... zu Clownsnummern eingedampft ... Kriegenburg entpolitisiert das Stück konsequent." Nur Irene Bazinger (FAZ) erhebt Einspruch. Dass Kriegenburg sich von der Politik fern hält, hält sie für nachgerade "klug". Sie lobt die "komische wie spannende, gescheite wie klare Inszenierung, die souverän mit dem Vokabular der Commedia dell"Arte zu jonglieren weiß und dabei mit witziger Schwermut Lessings Worte hören lässt - ohne zu verbergen, dass es mit dem Glauben daran nicht zum Besten steht."

Barbara Villiger Heilig besucht für die NZZ Luc Bondy, der gerade in den Schweizer Bergen einen "Otello" für das Pariser Odéon-Theater plant. Mit dem weißen Schauspieler Philippe Torreton in der Hauptrolle: "Ihm komme es, sagt er, rassistisch vor, das ganze Stück an der schwarzen Besetzung des Titelhelden aufzuhängen. "Plötzlich gibt es die irrationale Figur des Jago gar nicht mehr, sondern nur noch: Farbe", so fasst er die "Debatte" zusammen, die dem Stück die Show zu stehlen drohe."

Weitere Artikel: Im Gespräch mit Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung erklärt Daniel Wetzel, warum er sich für ein Rimini-Protokoll-Projekt mit Hitlers "Mein Kampf" auseinandersetzt.

Besprochen werden die Aufführung von Frederic Rzewskis Auschwitz-Oratorium "Der Triumph des Todes" in Weimar (SZ) und Julian Rosefeldts und René Jacobs" bei der Ruhrtriennale aufgeführte Bearbeitung von Haydns "Schöpfung", bei der laut Adele Jakumeit (FAZ) das Publikum vor lauter Begeisterung in den Gesang miteinstimmte.
Archiv: Bühne

Literatur

In der NZZ versucht Magnus Wieland mit Hilfe von Annette Gilberts Katalog "Reprint. Appropriation (&) Literature" den Unterschied zwischen (illegalem) Plagiat und (legaler) Appropriation zu erklären. Nicht wirklich mit Erfolg: Wo die Kopie eine eigene Schöpfungshöhe erreicht, ist der Fall klar, das ist erlaubt. Aber wie sieht es hier aus: "Bücher - in der Regel Klassiker und kanonisierte Werke -, die konzeptuell angeeignet und unter fremder Autorschaft wieder aufgelegt werden. So muss sich der Literaturhistoriker unterdessen damit abfinden, dass die Erzählung "Un cœur simple" nicht nur von Gustave Flaubert, sondern auch von Sherrie Levine existiert, dass Shakespeares "Sonnet 56" auch von Paul Hoover erhältlich ist, dass neben Dostojewski auch Kris Martin eigenhändig den Roman "Der Idiot" geschrieben hat oder dass außer Melville noch Michael Maranda als Autor von "Moby Dick" figuriert."

Weitere Artikel: Im Freitext-Blog auf ZeitOnline berichtet Feridun Zaimoglu von seiner Rückreise von Istanbul nach Frankfurt - mit dem Reisebus. Für die SZ berichtet Anna Steinbauer vom Erlanger Poetenfest, wo man Alice Schwarzer huldigte, über Charlie Hebdo und die Folgen diskutierte und Sybille Lewitscharoff sich für ihre umstrittene Dresdner Rede entschuldigte.

Besprochen werden Josh Weils "Das Gläserne Meer" (FR), Scott McClouds Comic "Der Bildhauer" (Zeit), Michael Rutschkys "Mitgeschrieben" (taz), Günter Grass" "Vonne Endlichkait" (Welt, FAZ, mehr), Yi Seol Kims Familienroman "Willkommen" (NZZ), Samuel Schefflers Buch "Der Tod und das Leben danach" (NZZ) und die Ausstellung "Unboxing Goethe" im Goethe-Haus in Frankfurt (FAZ).
Archiv: Literatur

Design


Camouflage eines Schlachtschiffs aus dem Ersten Weltkrieg und ein von Zebrastreifen inspiriertes Muster von Patternity. Foto: Imperial War Museum/Patternity

Im Guardian stellt Amy Fleming die Designerinnen Anna Murray und Grace Winteringham vor, die für ihr Blog "Patternity" überall nach Mustern suchen: "While the pair are fascinated by nature"s grand designs, they hold a special reverence for finding symmetry in the mundane, or as they put it, "the spaces between things, as much as things themselves". Manhole covers, the dusty cables running along the walls of the London Underground, and undulating stripes cast by stacks of plastic sun loungers are celebrated alongside the iconic Giant"s Causeway and a cross-section of the Large Hadron Collider. "It"s almost meditative," says Murray. "You"re finding connections, and there"s something very satisfying about that.""
Archiv: Design