Efeu - Die Kulturrundschau

Bin ich Fiktion oder Fatalität?

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06.07.2015. Guter Jahrgang in Klagenfurt! Und die Entscheidung für Nora Gomringer als diesjährige Bachmann-Preisträgerin wird ebenfalls gut aufgenommen. Die NZZ besucht die Volksbühne, wo man sich gegen Chris Dercon einigelt. Warum nur müssen ältere Literaturkritiker Romane schreiben, fragt im Standard der Germanist Klaus Zeyringer. Außerdem bewundert der Standard die schwebende Melancholie der Fotografien Mario Giacomellis.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.07.2015 finden Sie hier

Literatur

In Klagenfurt gingen die Tage der deutschsprachigen Literatur mit der Auszeichnung für Nora Gomringers "Recherche" (hier im Volltext) zu Ende (hier alle Aufnahmen). Und die Kritik ist einhellig begeistert: Das war ein hervorragender Jahrgang mit herausragend vielen guten Beiträgen, einer verdienten Preisträgerin und einer tollen Jury. Die ein Dilemma zu lösen hatte, meint Wiebke Porombka von ZeitOnline: Nämlich, "dass es mehr starke Texte gab, als Preise zu verleihen waren". Beobachten konnte man in einigen Wettbewerbsbeiträgen, "wie Sprache Wirklichkeit entstehen lässt, ohne diese einfach zur Vorlage zu nehmen, die Konturen nachzuzeichnen und das dann Genauigkeit oder Aktualität zu nennen. Eine schöne Lehre aus dem Bachmannpreis, dass immer, wo das geschah, die Floskelhaftigkeit des Ganzen entlarvt wurde."

Judith von Sternburg (FR) beobachtete einen im Wettbewerb auffällig stark verhandelten Gegensatz "performative versus literarische Literatur". Auch Gerrit Bartels (Tagesspiegel) fällt "der unbedingte Wille fast aller Autorinnen und Autoren zur Inszenierung von Text und eigener Person" auf. Gut ins Bild passe da die Auszeichnung für Nora Gomringer, die für ihren wie ein Hörspiel angelegten Text in die Rolle der Schriftstellerin Nora Bossong schlüpfte. Die wiederum hat auf das Meta-Spiel im Freitext-Blog auf ZeitOnline auch schon prompt reagiert: "Echtheit, was soll"s, bin ich Schriftstellerin oder Kriegsreporterin?, fragt sich die Bossong ... Bin ich Figur oder Faktotum, bin ich Fiktion oder Fatalität, Produkt oder Productplacement? Wo überhaupt fängt das eine an und wo hört das andere auf? Hat womöglich Foucault das gewusst oder wissen es die Juroren in Klagenfurt?" Auch Jan Wiele (FAZ) kann bestens mit Gomringers Auszeichnung leben: Denn "diese Art der Meta-Literatur, die nicht nur spielt, sondern zugleich von der Welt und sich selbst handelt, gelingt äußerst selten und führt in der allgemeinen Literaturwahrnehmung noch immer ein Schattendasein."

Im Standard schreibt Gabriele Kögl (mehr) zum 100. Geburtstag der Schriftstellerin Christine Lavant. Vieles verbindet sie mit der Autorin, die im Nebental lebte. Schon die Gerüche sind ihr vertraut: "Ebenso vertraut ist mir die Sprache ihrer Prosa, die nicht nur in der Syntax stark vom Dialekt geprägt ist, sondern auch in vielen Wörtern. So ist eine "Kotze", wie sie in "Das Kind" beschrieben wird, eine grobe, meist aus Rosshaar hergestellte Decke, wie man sie heute manchmal noch als Windfang in alten Kaffee- und Gasthäusern findet. Wenn der Vater wegen seiner Schwerhörigkeit nun weniger Lohn "aufhebt", dann nicht vom Boden, sondern vom Schreibtisch des Lohnbüros. Auch der schöne Ausdruck "Mode machen" hat nichts mit Kleidung zu tun, sondern meint, dass sich jemand beschweren wird."

Was soll das? Im Standard fragt sich Klaus Zeyringer mit Blick auf neue Bücher von Volker Hage, Hajo Steinert und Ursula März, warum Literaturkritiker im fortgeschrittenen Alter als Romanciers debütieren müssen: "Wer als Kritiker Karriere gemacht hat und dann sein literarisches Debüt vorlegt, profitiert von seiner Position auf einer anderen Ebene. Das müsste nicht weiter zu denken geben, wenn es sich nicht um Konfektionsware, sondern um ein wahres Meisterwerk handeln würde. Der vorläufig Letzte, der im deutschen Sprachraum diesen Weg mit fortgeschrittenem Alter geschafft hat, war allerdings Theodor Fontane."

Und hier die letzte Folge von Wolfgang Tischers Literaturcafé-Podcast aus Klagenfurt:



Weitere Artikel: Cornelia Geißler spricht in der FR mit Richard Wagner über dessen Parkinson-Erkrankung, mit der er sich auch in seinem neuen Buch befasst. Im Standard stellt Michael Wurmitzer die österreichische Autorin Carolina Schutti vor, die gerade den Literaturpreis der Europäischen Union erhalten hat.

Besprochen werden Siri Hustvedts "Die gleißende Welt" (taz), Marina Keegans "Das Gegenteil von Einsamkeit" (taz), Ralf Rothmanns "Im Frühling sterben" (Tagesspiegel) und Hassan Blasims "Der Verrückte vom Freiheitsplatz" (SZ).
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Kunst


Mario Giacomelli: Aus der Fotoserie "Ich habe keine Hände, die mein Gesicht streicheln" (1961-1963)

Roman Gerold besucht für den Standard in der Wiener Galerie Westlicht eine Ausstellung des italienischen Fotografen Mario Giacomelli. So großartig die Fotos sind, nicht die ästhetischen Wow-Effekte beeindrucken ihn, sondern die "schwebende Melancholie", die Giacomellis Arbeiten der Nachkriegszeit auszeichnete: "Von daher rührt Giacomellis Credo: Um mit der Fotografie "unter die Haut" der Dinge zu blicken, so meinte er, müsse man sich eingehend mit Orten oder Personen befassen. Mit den jungen Priestern, die er für die Serie "Ich habe keine Hände, die mein Gesicht streicheln" ablichtete, lebte er drei Jahre lang zusammen. Er "wurde einer von ihnen", ehe jene eleganten Tableaus entstanden, die Priester Schneebälle werfend und tanzend inmitten weißer Pracht zeigen. Wie schwerelose Engel in schwarzen Kutten: Um sie aus Raum und Zeit herauszuheben, hat Giacomelli den Kontrast so verschärft, dass vom Hintergrund nur eine gleißende Fläche geblieben ist."

Besprochen werden die Ausstellung "Walk the Line" im Kunstmuseum Wolfsburg (Tagesspiegel) und die Ausstellung "Das gezeichnete Ich" im Grazer Bruseum (Standard).
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Film

Für den Tagesspiegel hat sich Katrin Hillgruber die deutschen Premieren auf dem Filmfest München angesehen.

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Architektur

Bei einer Berliner Konferenz forderten Architekten "bessere Regeln bei der öffentlichen Auftragsvergabe", berichtet Arnold Bartetzky in der FAZ.
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Musik

(Via 3quarksdaily) Igor Strawinskys eigenwilliges Arrangement des "Star Spangled Banner" ist zwar nicht verboten worden, wie die urbane Legende lautet, aber es wurde auch nicht gerade begeistert aufgenommen. Timothy Judd erzählt die Geschichte in seinem Blog. Der umstrittene verminderte Septakkord findet sich bei Minute 1.30".



Wenig Sympathie zeigt Karl Fluch im Standard für Xavier Naidoo, der in Wien ein Konzert gab.

Besprochen werden ein Konzert des Geigers Christian Tetzlaff mit Karol Szymanowskis erstem Violinkonzert bei den Zürcher Festspielen (NZZ), das Helene-Fischer-Konzert im Berliner Olympiastadion (Berliner Zeitung), ein Konzert der Beatsteaks (Berliner Zeitung) und eine historische Compilation über die Musikszene in Nashville (FAZ).
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Bühne

Barbara Villiger Heilig besucht für die NZZ die Berliner Volksbühne, wo man sich offenbar in einer Art Dauerbeleidigtsein über das Ende der Castor-Ära eingerichtet hat: "Verkauft" steht auf einem Banner über dem Eingang. "Offensiven Klartext lieferte [Chefausstatter] Bert Neumann. Nicht nur er, sondern auch Regisseure und Schauspieler schlössen eine Fortsetzung unter der neuen Leitung aus, gab er im Berliner Tagesspiegel zu Protokoll: "Das ist unser Laden, den haben wir gemacht." Auf der Rückseite des Monat-Leporellos, das Neumann gestaltet, steht in knalligem Neon-Gelb: "Ich mach dich weltberühmt." Die kryptisch anmutende Aussage, heißt es, sei ein Zitat von Dercon, der mit ebendiesem Versprechen eine prägende Kreativkraft des Hauses für die Zukunft an Bord holen wollte. Der Schuss ging hinten raus. Dercons "Umarmung" - bei seinem ersten öffentlichen Auftritt und bereits auch in Gesprächen unter vier Augen gab er sich den Volksbühne-Leuten gegenüber einladend - wertet man als Vereinnahmung und verweigert sich ihr."

Weiteres: Eine Meldung im Tagesspiegel informiert uns, dass das Festival von Aix-en-Provence alle Anspielungen auf die Terrororganisation IS in Martin Kusejs Inszenierung von Mozarts "Entführung aus dem Serail" gestrichen hat: "Für Festivalchef Bernard Foccroulle hat der Eingriff dagegen nichts mit Zensur zu tun. Anspielungen auf die Terrormiliz Islamischer Staat seien ihm nach dem Anschlag in Lyon auf einer Opernbühne nicht sachdienlich erschienen, begründete er seine Entscheidung."

Besprochen werden Eric Gauthiers Tanzfestival "Colors" in Stuttgart (NZZ), Hofesh Shechters Choreografie "Barbarians" beim Berliner Festival Foreign Affairs (taz, Tagesspiegel, Berliner Zeitung), Inszenierungen bei den Reichenauer Festspielen (Presse, Standard), das Berliner Musiktheater-Festival "Infektion!" (taz), Stefan Enders Inszenierung von Rossinis "Barbier von Sevilla" bei der Grazer Styriarte (Standard), Christian Stückls Oberammergauers Inszenierung von Verdis "Nabucco" (FAZ) und Tina Laniks Inszenierung von Tracy Letts" "Eine Familie" in München (FAZ, SZ).
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