Efeu - Die Kulturrundschau

Absolute Gegenwart

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12.06.2015. Ornette Coleman, der "sound of shock and awe" des Jazz ist tot. Und Christopher Lee, der erste transsilvanische Blutsauger in Farbe. Die Feuilletons trauern. Das Ullstein-Blog Resonanzboden veröffentlicht einen Text des saudi-arabischen Bloggers Raif Badawi, der den syrischen Dichter Al-Muthanna Al-Sheikh vorstellt. Die Presse steht ratlos auf der Vienna Biennale und fragt: Sind Künstler für alles zuständig?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.06.2015 finden Sie hier

Kunst


Vienna Biennale 2015: Ideas for change. Die Kunst zu arbeiten. Handeln in der Digitalen Moderne, Ausstellungsansicht. © MAK/Georg Mayer

"Ideen für Veränderungen" soll die Vienna Biennale präsentieren. Aber sind Künstler dafür überhaupt zuständig, fragt sich Sabine B. Vogel in der Presse. "Ressourcen sollen geschont werden, das Zauberwort Partizipation wird genannt, Nachbarschaft und Gemeinschaft werden betont. All das gab es lang, und es verschwindet zunehmend in der neoliberalen Wirtschaft, in der Wasser, Pflanzen, Sonnenlicht zur Ware zu werden drohen. Wer zahlt, dankt nicht. Wer Geld hat, nimmt keine Rücksicht. Reichen da gut gemeinte, "kreative" Ideen, um diese Spirale aufzulösen?"

Mit Skepsis betrachtet Niklas Maak für die FAZ die Bernhard Heiliger gewidmete Ausstellung im neuen, in den einstigen Atelierräumen des Nazi-Bildhauers Arno Breker eröffneten Kunsthaus Dahlem (mehr): Von 1949 bis zu seinem Tod hatte Heiliger Räume in dem Gebäude genutzt. "Doch Heiliger hat, anders als hier der Eindruck entsteht, nicht erst 1945 begonnen, Kunst zu machen. Er arbeitete in Brekers Atelier, im Krieg wurde ihm auf Brekers Betreiben eine "Unabkömmlichstellung" zugestanden. ... Es gibt Fotografien, die Heiliger im Atelier von Breker bei der Arbeit an typischer NS-Auftragskunst zeigen - doch zu sehen sind diese Bilder in Dahlem nicht." Mehr über das Kunsthaus Dahlem in unserer gestrigen Kulturrundschau.

Besprochen werden die Ausstellung "Europa. Die Zukunft der Geschichte" im Zürcher Kunsthaus (NZZ) und eine Ausstellung über Franz Anton Mesmer in Meersburg (FAZ).
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Literatur

Das Ullstein-Blog Resonanzboden veröffentlicht einen bisher unbekannten Text Raif Badawis, der laut den jüngsten Meldungen aus Saudi Arabien noch mit einigen Jahren Gefängnis und mit Peitschenhieben rechnen muss. Er bespricht den Roman "Die Dame des Königreichs" des syrischen Dichters Al-Muthanna Al-Sheikh, der den syrischen Fühling von 2011 thematisiert und zugleich ins Mythische ausgreift. Er handle "im Grunde genommen von einer unmöglichen Liebe, in der sich der Urkonflikt zwischen der unterdrückten Weiblichkeit und dem unterdrückenden Patriarchat widerspiegelt."

Weitere Artikel: In der FAZ schreibt Dietmar Dath zum Tod des langjährigen Science-Fiction-Herausgebers und -Autors Wolfgang Jeschke. In der NZZ berichtet Eva-Christina Meier über das dritte lateinamerikanische Literaturfestival in Nicaragua.

Besprochen werden Carol O"Connells Thriller "Kreidemädchen" (FR), Oliver Sacks" Autobiografie (Tagesspiegel) und Jón Gnarrs "Indianer und Pirat - Kindheit eines begabten Störenfrieds" (SZ).
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Bühne

Besprochen werden Matthias Hartmanns Inszenierung des "Fidelio" am Grand Théâtre de Genève (NZZ) und Andrea Hüglis Inszenierung von "Stalker Wunschmaschine" im Werk X-Eldorado in Wien (Standard).
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Musik

Der Jazzmusiker Ornette Coleman ist tot! Slate veröffentlicht noch einmal Fred Kaplans Besprechung des letzten Coleman-Albums, "Sound Grammar" von 2006, für das er mit dem Pulitzerpreis für Musik ausgezeichnet wurde: "Ornette Coleman has long been a puzzle to casual jazz fans, his name as baffling as his music, which seems to go everywhere and nowhere. If jazz is the "sound of surprise," as Whitney Balliett once wrote, then Ornette, at first hearing, is the sound of shock and awe. Yet few jazz musicians reward attention more richly. Even now, at age 76, nearly a half century after bursting onto the scene, he"s blowing his alto saxophone as vitally, imaginatively, and beautifully as ever. His new quartet album, Sound Grammar (on his own label of the same name), may be the best jazz disc of the year - and ranks among the top half-dozen Ornette Coleman albums, period."

In der Presse verabschiedet sich Thomas Krammar von Coleman, im Standard (hier) Andreas Felber. Beim unschätzbaren Onlinearchiv ubu.com finden wir ein Gespräch (pdf), das Jacques Derrida 1997 im New Yorker mit Ornette Coleman geführt hat.

Und hier: Sound Grammar von Ornette Coleman



Für die taz wirft Julian Weber einen faszinierten Blick in die "überbordende elektronische Dancefloor-Kultur" Südafrikas, die auch von den Labels und Radiosendern in den Industrienationen mit hohem Interesse verfolgt und popularisiert wird. Insbesondere die Musik von Nozinja nimmt den taz-Kritiker ein: Diese "überwindet alle Grenzen, weil sie absolute Gegenwart markiert und in ihrer euphorischen Klangsignatur doch etwas sehr Lokales abschüttelt: das Grauen der Apartheidsgeschichte." Hier ein Beispiel:



Weitere Artikel: Andreas Hartmann (Tagesspiegel) porträtiert die Musikerin Theresa Stroetges und deren Experimentalpop-Projekt Golden Diskó Ship. Markus Ganz berichtet in der NZZ vom Paléo Festival Nyon.

Besprochen werden eine Konzert von One Direction in Wien (Standard), eine Aufführung von Mahlers "Lied von der Erde" in Basel mit dem Bariton Michael Volle (NZZ), das Debütalbum von Zhala (taz), ein Metalalbum von Rammstein-Sänger Till Lindemann ("Monumentaler Mumpitz" und "Kirmes-Metal", schäumt Arno Frank in der Zeit) und die Autobiografie von Sonic-Youth-Musikerin Kim Gordon (SZ, mehr).
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Film

Da geht eine Ära zu Ende: Die Filmkritik verabschiedet sich vom Gentleman of Horror, Sir Christopher Lee. "Er war der erste transsilvanische Blutsauger in Farbe, der erste mit wölfischen Fangzähnen", schreibt Claudia Lenssen auf ZeitOnline. "Ganz gleich, in welches Schocker-Kostüm der hagere Zwei-Meter-Mann schlüpfte, sein exzentrischer Ernst setzte Maßstäbe: Als Frankenstein-Kreatur, Rächer-Mumie und durstiger Dracula erlaubte er sich archaisches Pathos ohne psychologischen Hintergrund. Christopher Lees Monster und Schurken waren Ikonen des Bösen schlechthin, Wiedergänger schauriger Mythen, große Oper, die er mit melodiöser Bass-Stimme und elegantem Timing zu Klassikern veredelte."

Weitere Nachrufe schreiben Philipp Bühler (Berliner Zeitung), Daniel Kothenschulte (FR), Laila Oudray (taz), Gunda Bartels (Tagesspiegel), Hanns-Georg Rodek (Welt) und Verena Lueken (FAZ). Die NZZ widmet ihm eine Bildstrecke.

Weitere Artikel: Ist die Netflix-Frauenknast-Serie "Orange is the New Black" rassistisch, wie manche Kritiker behaupten? Fatma Aydemir widerspricht in der taz: "Man keine Knastserie drehen, die sich in den sauber abgesteckten Grenzen der Political Correctness bewegt. Denn der Knast ist rassistisch, und nicht nur das: Der Knast produziert regelrecht Rassismus." Im Standard berichtet Michael Pekler über das Queer-Film-Festival "identities" in Wien.

Besprochen werden Sebastian Schippers Berlinfilm "Victoria" (FR, Jungle World, Berliner Zeitung), das neue Saurier-Actionepos "Jurassic World" (Perlentaucher, taz, Tagesspiegel, Standard), Hubertus Siegerts Dokumentarfilm "Beyond Punishment" (Perlentaucher, Tagesspiegel) und das Biopic "Love & Mercy" über Beach Boy Brian Wilson (Tagesspiegel, mehr hier und hier).

Archiv: Film