Efeu - Die Kulturrundschau

Energien, die aufeinandertreffen

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06.07.2022. In der Berliner Zeitung weist der Historiker Michael Rothberg darauf hin, dass Taring Padis Agitprop-Bild "People's Justice" nicht nur antisemitisch ist, sondern auch rassistisch. In der taz macht der Schriftsteller Leander Steinkopf ein paar Vorschläge für den Deutschunterricht. Die SZ wünscht sich den Wagemut und Aufbruchsgeist von München 1972 in die Architektur zurück. In der taz konstatiert Schauspielerin Julischka Eichel ein erschüttertes Grundvertrauen im Theater. Jochen Distelmeyer macht jetzt Erwachsenenpop, stellt der Standard fest.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.07.2022 finden Sie hier

Kunst

Auch wenn der deutsche Kontext für die Documenta unvermeidlich sei, der ultimative sei er nicht, meint Michael Rothberg, der Vordenker der "Multidirektionalen Erinnerung", in der Berliner Zeitung. Allerdings zeigt er Verständnis für all jene, die Ruangrupa gegen die Verdächtigung des Antisemitismus verteidigt hatten und sich nun durch Taring Padis Agitprop-Bild "People's Justice" verraten fühlen. Hier mischen sich europäische und indonesische Elemente einer antisemitischen Bildsprache, das lasse sich nciht leugnen. Und: "Auch erwähnenswert wäre, dass das Transparent andere Bildrepertoires enthält, die von der Rezeption bislang nicht skandalisiert worden sind. So findet sich etwa direkt unter der 'SS'-Figur auch die rassistische Darstellung eines animalisch dargestellten schwarzen US-Soldaten, der seinen großen Penis in der Hand hält und auf die Gräber derer uriniert (oder ejakuliert), die von den USA als 'Terroristen' stigmatisiert wurden."

Besprochen werden der Band "Calais - Testimonies from the 'Jungle' 2006-2020" des französischen Fotografen Bruno Serralongue (taz), die Ausstellung "Ein Krieg in der Ferne" über die Ukraine in Videokunst und Film in der Neuen Galerie Graz (FAZ) und die Ausstellung "Form der Freiheit" im Museum Barberini (FR).
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Literatur

Der Schriftsteller Leander Steinkopf macht sich in der taz Gedanken darüber, wie man Literatur im Deutschunterricht besser und vor allem anregender vermitteln könnte, nachdem ihm selbst einige seiner Berufskollegen ihr Leid geklagt haben, was sie im Deutschunterricht alles erdulden mussten. Auf was es dabei vor allem ankommt: ansteckende Begeisterung, die meist nicht den Lehrplanvorgaben entspringt, sondern in der Regel dem von anerkannten Autoritäten in die Hand gedrückten Buch. "Natürlich kann die Begeisterung auch von den Schülerinnen und Schülern selbst kommen, die, auf welchen Wegen auch immer, auf die Literatur stoßen, die ihnen etwas zu sagen hat, die Literatur, in der man die Festigung der eigenen Individualität findet, die Herausforderung eingefahrener Denkweisen, in der man schmerzhafte Gefühle in der Ästhetik der Sprache aufgehoben fühlt, die Literatur, aus der man Empathie lernt, ebenso wie Selbstbeobachtung. Dies würde bedeuten, dass noch so großes Bemühen um die Aktualität, Zugänglichkeit und Jugendgerechtigkeit von Lehrplänen vergebens ist, wenn sie trotzdem so starr und raumgreifend sind, dass kein Raum bleibt für Exploration und Experiment, kein Einfallswinkel für die begeisterten Funde von Lehrkräften und Schülerschaft. Wenn man das Lesen fördern will, muss man es befreien." Dazu passend hat sich Ruth Fuentes für die taz erkundigt, was an deutschen Schulen gelesen werden muss.

Außerdem: In der FAZ gratuliert Andreas Kilb der Schriftstellerin Hilary Mantel zum 70. Geburtstag. Besprochen werden unter anderem Marc Degens' Essay "Selfie ohne Selbst" (SZ), Imre Kertészs "Heimweh nach dem Tod. Arbeitstagebuch zur Entstehung des 'Romans eines Schicksallosen'" (NZZ), Mary Ruefles "Privatbesitz" (SZ), Alan Hollinghursts "Der Hirtenstern" (Dlf Kultur), Jerry Z. Mullers Biografie über den Judaisten Jacob Taubes (Welt) und Catalin Dorian Florescus "Der Feuerturm" (FAZ).
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Film

"Star Wars" 2022: ein verwässertes Franchise. Oder doch versandet? (Disney)

Benedict Wells hatte sich fest vorgenommen, die neue "Star Wars"-Serie "Obi-Wan Kenobi" zu lieben, gesteht er in der NZZ. Doch leider haben ihm die Disney-Produzenten mal wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht: Zu beobachten ist in den letzten Jahren eine "Verwässerung, ja Egalwerdung der Saga. ... So möchte man den ja doch vielen großartigen Kreativen bei Disney zurufen: Habt mehr Mut und traut euch das Neue, Aufregende! Ein 'Star Wars'-Film war einst ein Ereignis, ein knappes, kostbares Gut, ein Zittern beim Anschauen. 'Obi-Wan Kenobi' dagegen wirkte mit seinen wöchentlichen Episodenhäppchen wie die Serie zum Nachmittagstee."

Außerdem: Der Tagesspiegel meldet, dass die Berlinale-Forumsleiterin Cristina Nord nach dem Festivaljahrgang 2023 wieder zurück zum Goethe-Institut wechselt.

Besprochen werden die Ausstellung "No Master Territories. Feminist Worldmaking and the Moving Image" über Filmemacherinnen im Haus der Kulturen in Berlin (SZ), Marcus H. Rosenmüllers Animationsfilm "Willkommen in Siegheilkirchen" nach den Karikaturen von Manfred Deix (Welt) und Taika Waititis Marvel-Blockbuster "Love and Thunder" mit Natalie Portman (Tsp, Standard).
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Stichwörter: Star Wars, Disney, Blockbuster

Bühne

Im Interview mit Sabine Leucht in der taz spricht die Schauspielerin Julischka Eichel über das erschütterte Vertrauen im Theater, über verlorene Streitbarkeit und die Angst, nicht gemocht zu werden: "Man geht nicht mehr gemeinsam davon aus, dass man an eine Grenze ranmuss. An seine eigene und an die des anderen. Und das ist fatal, denn alle Stoffe im Theater leben von Grenzüberschreitungen. Unsere Kunst ist eine Beziehungskunst und Beziehungen haben mit Konflikten zu tun, mit Energien, die aufeinandertreffen. Dahin kommen wir aber oft gerade nicht, weil wir immer so viele andere Dinge klären müssen."

In Moskau mehren sich die Stimmen im Kulturbetrieb, die sich an die Seite Putins stellen und Russlands imperiale Größe besingen, stellt Stefan Scholl in der FR fest. Sie fallen auf, aber sie stellen nur eine Minderheit: "Die Mehrheit der Museums-, Literatur- und Theaterleute entsetze sich über das, was Putin in der Ukraine anstelle, sagt Andrej Jerofejew, Kurator für moderne Kunst und erklärter Oppositioneller. 'Die Kriegsbefürworter in der Szene lassen sich an den Fingern zweier Hände abzählen. Es sind so wenige, dass man nicht einmal von einer Spaltung der Kultur reden kann.' Und Kremldichter Prilepin schimpft: 'Würde über Moskau ein ukrainischer Kampfpilot abgeschossen, 45 von 50 Theatern versteckten und verpflegten ihn.'"

Besprochen werden Peter Konwitschnys Inszenierung von Schostakowitschs "Nase" an der Dresdner Semperoper (Tsp) und der Tanzabend "Speed" in Mannheim (FR).
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Stichwörter: Kulturbetrieb, Semperoper

Architektur

Behnisch & Partner, Ideen- und Bauwettbewerb für die XX. Olympischen Spiele München 1972 auf dem Oberwiesenfeld., Modell 1967.

Beseelt von Wagemut und Aufbruchsgeist kommt SZ-Kritikerin Laura Weißmüller aus der Ausstellung "Olympiastadt München" im Architekturmuseum der TU München. Warum, fragt sie sich allerdings, ist es heute unmöglich, ein solches Stück Zukunft zu zimmern? "Das Stuttgarter Büro Behnisch & Partner war das einzige, das aus dem ebenen Oberwiesenfeld eine künstliche Landschaft aus Hügeln, Tälern und einem See formen und darauf ein scheinbar federleichtes Zeltdach schweben lassen wollte, von dem selbst Günter Behnisch bei der Pressekonferenz zum Wettbewerb erklärte, er wisse auch nicht, wie sich eine solche Konstruktion umsetzen lasse. Ein solches Wagnis einzugehen, mit unklarem Ausgang und jenseits aller Vorgaben und Richtlinien? Heute undenkbar, zumal in Deutschland. Was nicht zuletzt der Grund dafür ist, warum sich hier Wettbewerbsentwürfe in der Regel kaum mehr voneinander unterscheiden. Wenn jemand den Mut hat, etwas Neues auszuprobieren, fliegt er in der ersten Runde wieder raus."
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Musik

Andrian Kreye freut sich in der SZ, dass das Jazzlabel Blue Note Records mit der Veröffentlichung von "In The Spirit of NTU" des Pianisten Nduduzo Makhatini nun auch ein Sublabel für Jazz aus Afrika ins Leben gerufen hat. Das Album "ist eine episch angelegte musikalische Aufarbeitung des philosophischen Konzeptes des Ubuntu. Das beruht, sehr verknappt gesagt, auf dem Credo 'Ich bin, weil Du bist', was man durchaus als kollektivistische Antipode zum Individualismus des "ich denke, also bin ich"-Westens verstehen kann. So funktioniert dann auch das Album in einem System kollektiver Improvisation, die aus der Gemeinsamkeit zum Solo findet. Und nicht wie so viele Formen des modernen Jazz aus der Brillanz des Einzelnen zum Gemeinsamen. Das ist ganz schön viel Grundsatzerklärungsballast für ein per se einfach mal großartiges Album."



Vom linken Diskurspop-Dichter hat sich Jochen Distelmeyer im Lauf der Jahre längst zum großen Liebesbarden gewandelt, schreibt Karl Fluch im Standard anlässlich des Comeback-Albums "Gefühlte Wahrheiten", auf dem der frühere Blumfeld-Sänger auch in Country- und Soul-Gefilden fischt. "Vom gitarrengetriebenen Frühwerk hat er sich schon länger verabschiedet. Zwar versteckt sich irgendwo auf dem Album ein Gitarrensolo, ansonsten spielt er eine beseelte Popmusik, die aber zu kopflastig ist, um im Mainstream zu reüssieren. Vielleicht muss man dem 54-Jährigen altersbedingt Erwachsenenpop nachsagen. Das klingt zwar bieder bis abwertend. Doch angesichts der vielerorts herrschenden Infantilität im Pop ist es eher eine Auszeichnung." Für "The Reason" greift Distelmeyer auch mal zur englischen Sprache:



Weitere Artikel: In der NZZ spricht Chuck Leavell darüber, wie er die Rolling Stones auf der Bühne auf Vordermann brachte. Die russische Band Little Big hat sich aus Protest gegen ihr Heimatland ins US-Exil abgesetzt, meldet Katja Kollmann in der taz. Lotte Thaler berichtet in der FAZ vom Musikfest ION in Nürnberg, das sich regen Publikumszuspruches erfreut. Die Salzburger Festspiele trennen sich von ihrem Sponsor Solway, meldet Egbert Tholl in der SZ.

Besprochen werden eine Aufführung von Bachs h-Moll-Messe durch das Ensemble Continuum Berlin unter Elina Albach (NMZ), Naima Bocks Soloalbum "Giant Palm" (Tsp) und xPropagandas Album "The Heart is Strange" (FR). Wir hören rein:

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