Efeu - Die Kulturrundschau

Fühlen Sie sich verantwortlich?

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01.11.2021. Die taz kratzt mit Nicole Eisenman in der Kunsthalle Bielefeld am dünnen Firnis der Zivilisation. taz und FAZ loten Höhen und Tiefen des politischen Theaters aus. In der FR setzt die haitianische Schriftstellerin Yannick Lahens ihre Hoffnungen auf die Kreativität der Jugend. Im Tagesspiegel erzählt die Regisseurin Shahrbanoo Sadat von der Liebe der AfghanInnen zu Bollywood-Filmen. Und die FAS fragt, wieviel Afrofuturismus in Kraftwerk steckt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.11.2021 finden Sie hier

Kunst

Nicole Eisenman: Ketchup vs Mustard, 2005. Bild: Kunsthalle Bielefeld

Auf nach Bielefeld!, ruft Katharina Cichosch in der taz. Dort gibt es im ohnehin schon eleganten Philip-Johnson-Bau der Kunsthalle die Schau ""Köpfe, Küsse, Kämpfe" der Künstlerin Nicole Eisenman zu sehen, die Cichosch für die womöglich wichtigste zeitgenössische Malerin der USA  hält: "Es gibt Comics von Lesben-Recruitment-Centern und Klitoris-Inspektorinnen vis-à-vis wimmeliger Druckgrafiken von Ensor; ein (Selbst-)Bildnis als junge Frau vor giftgrünem Horizont über der beengenden Vorstadt schwebend ('Invisible Woman') neben einem Selbstporträt von Paula Modersohn-Becker. Doch wirken Eisenmans Bilder auch auf ihre Vorgänger zurück: Dem Unbehagen - dem dünnen Firnis der Zivilisation -, das in den auseinanderdriftenden Umwälzungsprozessen greifbar wurde, wird ein zusätzliches Brennglas aufgestülpt. Plötzlich erscheint ein August Macke nicht mehr als Inbegriff strotzend-bunter Fröhlichkeit, sondern Vorbote eines heranziehenden Grauens."

Louise Stomps: Vestalin, 1932. Bild: Berlinische Galerie
In der FR feiert Ingeborg Ruthe die Wiederentdeckung der Bildhauerin Louise Stomps, die vor allem dem Verborgenen Museum zu verdanken sei, dessen Verdienste um vergessene Künstlerinnen Ruthe nicht hoch genug schätzen kann. Mit der Stomps-Ausstellung gastiert es in der Berlinischen Galerie: "Wie archaische Totems aus alten afrikanischen Kulturen empfangen drei Meter hohe Figuren aus Bronze und Holz schon in der Treppenhalle. Es sind 'Pilger', 'Einsame', 'Asketen'. Einige hat Stomps dem Gilgamesch-Epos gewidmet, dieser uralten Dichtung aus dem babylonischen Raum, und damit der vergeblichen Suche des Königs von Uruk nach Unsterblichkeit. Die Bildhauerin geizte nicht mit Emotionen, lud ihre an der Natur geschulten, dann abstrahierten Gestaltzeichen mit Botschaften auf. Die Formen drücken Leid aus, Erschütterungen der Sinne und die Schutzlosigkeit der Kreatur."

Besprochen werden die beiden Ausstellungen der Künstlerin Renée Green in der daadgalerie und in den KW Institute for Contemporary Art in Berlin (taz, Tsp).
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Bühne

Aber tolle Bilder: Dominik Dos-Reis und Amina Eisner in Oliver Frijlic' Inszenierung "Schande". Foto: Marcel Urlaub / Schauspielhaus Bochum 

Von einem ziemlich verquälten Theaterabend berichtet Sarah Heppekausen in der Nachtkritik: Am Schauspielhaus Bochum hat Oliver Frijić, von der Sorge ums Scheitern getrieben, J. M. Coetzees Roman "Schande" auf die Bühne gebracht, der aus der Sicht eines weißen Literaturprofessors von der Vergewaltigung seiner Tochter durch einen schwarzen Arbeiter erzählt. Heikle, heikel: "In einer Pause zwischen den gespielten Szenen sprechen die vier Darstellenden direkt das - überwiegend weiße - Publikum an: Fühlen Sie sich verantwortlich für die weiße Unterdrückung, sind Sie ein Teil davon? Und wider Erwarten flammt nach kurzer Stille eine Diskussion im erleuchteten Saal auf. Ein weißer Mann hat Coetzees Buch nicht gelesen und findet die Herleitung schwierig. Ein anderer schimpft: 'Macht doch nicht eure Probleme zu unseren. Spielt doch einfach, ihr werdet doch dafür bezahlt.' Eine Person of Color meint, über das Thema Besetzung müsse unbedingt gesprochen werden: 'Es ist nicht alles piccobello hinter der Bühne.' Ein anderer fragt, warum dieses Buch überhaupt gespielt werde, um über Postkolonialismus und Rassismus zu sprechen. Es gebe doch genügend Stücke schwarzer Autoren."

In der Salpetermine. Karol Rathaus Oper "Fremde Erde". Foto: Stephan Glagla / Theater Osnabrück

Als Gegengift zum politischen Kitsch kann Jan Brachmann in der FAZ dringend Karol Rathaus' Oper "Fremde Erde" von 1930 empfehlen, die Jakob Peters-Messer für das  Theater Osnabrück wiederentdeckt hat: "'Fremde Erde' berichtet von sich aus über die moderne Armutsmigration im zwanzigsten Jahrhundert. Die Oper vernebelt die knallharten ökonomischen Ursachen für diese Migration nicht durch Kulturalistik oder Gendertheorie. Vielmehr verblüfft sie auf diesem Feld gerade durch eine ungewöhnliche Konstellation von Geschlecht und Herrschaft: mit einer Frau als Kapitalistin, die mitleidlos die Männer in ihrer Salpetermine krepieren lässt. Wer sich so etwas ausgedacht hat? Eine Frau: die Librettistin Kamilla Palffy-Waniek. Sie wusste offenbar noch, dass Herrschaft vor allem ans Eigentum von Produktionsmitteln geknüpft ist."

Besprochen werden Julia Wisserts Adaption von Annie Ernaux' Roman "Der Platz" in Dortmund (Nachtkritik), Michael Thalheimers "Räuber"-Inszenierung am Thalia Theater Hamburg (Nachtkritik), Inszenierungen von Gerhart Hauptmanns "Einsame Menschen" und Heinrich von Kleists "Michael Kohlhaas" am Deutschen Theater in Berlin (FAZ), Nikolai Erdmans Kommunalka-Komödie "Der Selbstmörder" im Burgtheater (Standard) und Emanuel Gats Choreografie zu Puccinis "Tosca" beim Tanzfestival Rheinmain (FR).
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Literatur

In der FR spricht Andrea Pollmeier mit der haitianischen Schriftstellerin Yanick Lahens über die Lage in deren Land. Ihr nun auch auf Deutsch vorliegender Roman "Sanfte Debakel" von 2018 handelte bereits unter anderem von politischen Attentaten, wie sie in Haiti zuletzt zu beobachten waren. "Ich wollte nicht nur einen Ausschnitt der Gesellschaft beschreiben, sondern die komplexen Netzwerke zeigen, die sich gegenseitig stützen. Im Roman entwerfe ich ein System, in dem alle Klassen vertreten sind. Armut, Korruption, Straffreiheit - alles greift ineinander und wirkt gleichzeitig. Doch trotz des Zerfalls gibt es eine Nische des Widerstands, die Haiti bis heute am Leben hält. Ich mag das Wort Resilienz nicht, aber es gibt etwas, das sich auf die Kreativität der Jugend gründet. Die Jugend verhindert, dass das destruktive System alles komplett vereinnahmen kann."

Außerdem: J.D. Salingers Holden Caulfield hätte "cringe" gesagt, glaubt Christian Meier von der Welt. Die Agenturen melden den Tod des türkischen Schriftstellers und Menschenrechtlers Dogan Akhanli.

Besprochen werden unter anderem Elias Hirschls Satire "Salonfähig" über Sebastian Kurz (Freitag), Yukio Mishimas "Leben zu verkaufen" (Standard), Jens Nordalms Biografie "Der schöne Deutsche" über den Tennisspieler Gottfried von Cramm (Welt), Tomas Espedals "Lieben" (Standard), Nadine Redlichs Comic "Stones" (Tagesspiegel), Danis Pfabes Thriller "Simonelli" (FR) und neue Kriminalromane, darunter Kaja Malanowskas "Nebeltage" (FAZ).
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Film

Wie in vielen anderen Ländern Asiens waren Bollywood-Filme auch in Afghanistan ungemein populär. Davon handelt Shahrbanoo Sadats Ende der Achtziger, also kurz vor der Machtübernahme  der Taliban spielender Film "Kabul Kinderheim", der auf dem Tagebuch eines ihrer Freunde basiert. Simon Rayß hat sich für den Tagesspiegel mit der Filmemacherin getroffen: "''Ich wollte eine ehrliche Geschichte über den Alltag in Afghanistan erzählen', erklärt Sadat auf Englisch. 'Anwars Geschichte ist auch meine Geschichte, die meiner Eltern, die Geschichte vieler Menschen dort.'" Sie "kontrastiert diesen Alltag mit Sequenzen, die sie in Bollywood-Manier inszeniert. Da tanzen die Protagonist:innen, singen Playback zu alten Hits und fahren mit dem Moped durch Winterwälder (gedreht wurde in Tadschikistan, Dänemark und Schleswig-Holstein.) In den schönsten und schlimmsten Momenten der Handlung reist Qodrat in dieses Märchenreich - auch wenn die Mujahedin vor den Toren des Kinderheims auftauchen. Der Flucht in die geliebte Filmwelt haftet am Ende der bittere Beigeschmack des Ausweglosen an." Für ZeitOnline porträtiert Wenke Husmann die Filmemacherin.

Außerdem: In der FR erinnert Arno Widmann an den Stummfilm "Der Scheich", der vor 100 Jahren in die Kinos kam und Rudolph Valentino zum Star machte.



Besprochen werden eine BluRay-Edition von Park Chan-Wooks Rache-Triologie (Intellectures), die Netflixserie "Colin in Black & White" über den Sportler Colin Kaepernick (taz), die auf AppleTV+ gezeigte SF-Serie "Invasion" (FAZ) und Sönke Wortmanns "Contra" (FAZ).

Und beim Perlentaucher knallen die Sektkorken: Unsere Autorin Olga Baruk ist für ihre Rezension des Films "Space Dogs" mit dem Siegfried-Kracauer-Preis für die beste Filmkritik ausgezeichnet worden.
Archiv: Film

Musik

Kraftwerk wurden am Wochenende als erste deutsche Band in die Rock 'n' Roll Hall of Fame in Cleveland aufgenommen. Generell wird es mal langsam Zeit, das Narrativ, demzufolge die Band ihre Ästhetik quasi sui generis unter der westdeutschen Käseglocke hervorgebracht, habe, zu verabschieden, findet Daniel Haaksman in der FAS. Vielmehr stehe Kraftwerk für ein herzliches Geben und Nehmen: "Vor allem die Rolle der politischen, sozialen und kulturellen Emanzipation der Afroamerikaner in den Sechzigerjahren"und "insbesondere die Innovationen in der afroamerikanischen Populärmusik" seien maßgeblich. Kraftwerks "futuristische Sounds und Texte über Roboter, Mensch-Maschinen und Computer fielen auf einen diskursiven und musikalischen Nährboden, der unter afroamerikanischen Musikern schon länger kultiviert worden war: den sogenannten Afrofuturismus eines Sun Ra." Afroamerikanische Beats findet Haaksman auch in diesem, noch unter dem Bandnamen Organisation veröffentlichten Stück:



Weiteres: In der taz spricht Tori Amos unter anderem über die Ausbeutung in der Musikindustrie und darüber, dass sie ihr neues Album als Heilangebot zur Überwindung gesellschaftlicher Spaltungen versteht.

Besprochen werden ein Zürcher Brahms- und Dvořák-Konzert unter dem Taktstock von Gianandrea Noseda (NZZ), Ed Sheerans neues Album (ZeitOnline), das neue Album des Vision String Quartets (Tagesspiegel) und ein von Elim Chan dirgierter Abend mit Víkingur Ólafsson und dem DSO (Tagesspiegel).
Archiv: Musik