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13.04.2021. Der DlfKultur beobachtet, wie die Pariser Oper in die Diversitätsoffensive geht. Die FR fragt, wie demokratisches Bauen aussieht. In der FAZ fürchtet Christine Berg vom Verband HDF, dass sich für die Kinos erst nach der Pandemie die wahrhaft existenziellen Fragen stellen. Die NZZ ringt und hadert mit Dante beim Aufstieg ins Elysium. Und der Guardian erahnt mit Ugo Rondinone den Horizont der Pferde und des Todes.
Ugo Rondinone: a sky . a sea . distant mountains . horses . spring . Bild: Sadie Coles HQ, London Hingerissen istGuardian-Kritiker Adrian Searle von den gläsernen Pferden des Schweizer Künstlers Ugo Rondinones, die sich in der Londoner Galerie Sadie Coles HQ in Ultramarin, Indigo oder Türkis aufreihen: "Die Fehler in der Oberfläche des Glases, die Lufteinschlüsse und Hohlräume in ihnen, ihre unterschiedliche Opakheit - von samtig dunkel zu glitzernd durchsichtig - geben diesen Pferden fast ein Gefühl von Leben. Jedes ist in zwei verschiedenen Blautönen gegossen, die den Guss horizontal halbieren; jedes Pferd enthält seinen eigenen Horizont, ein Zentrum der Schwerkraft und des Gleichgewichts. Nehmen Sie diesen Horizont, wie Sie wollen - eine Grenze des Bewusstseins und der Selbstwahrnehmung, eine Manifestation der Begrenztheit und, so kommt es mir in den Sinn, der Horizont des Todes."
Weiteres: Die SZ schickt ein ganzes Rechercheteam in das Atelier des Sebastian Bieniek, um herauszufinden, ob es sich bei dessen Verschwörungsfantasien um Kunst, Provokation oder Spinnerei handelt. Georg Imdahl meldet beglückt, dass sich Münster den fantastischen Brunnen der amerikanischen Künstlerin Nicole Eisenman von der "Skulptur Projekte 2017" erhalten kann: Stadt, Land und Bürgerverein kommen für die Kosten auf.
In einer Reportage für den DlfKulturblickt Christiane Kaess auf die Diversitätsoffensive der Pariser Oper unter ihrem neuen Direktor Alexander Neef. Unter anderem spricht sie mit dem ungeheuer freundlichen Bariton Christian Moungoungou, der vor allem das Miteinander stärken möchte, und mit dem Historiker Pap Ndiaye, der in einem Bericht den Stand der Dinge erkunden sollte: "Ndiaye konnte den Unmut bei seinen Befragungen spüren, ebenso aber die diskriminierenden Verletzungen. Ndiaye nennt als Beispiel die Aufnahmeprüfung an der Tanzschule der Oper, wo die meisten Tänzerinnen und Tänzer des Ensembles ausgebildet werden. Diese sei nicht gerecht, benachteilige nicht-weiße Kinder. Zum einen, weil sich zum Beispiel Kinder aus Frankreichs Überseegebieten wegen der Reisekosten selten bei der prestigeträchtigen Schule in Nanterre bei Paris bewerben. Aber noch etwas hat ihn und seine Kollegin bei ihren Recherchen im Haus überrascht. 'Bei der Auswahl der Kinder gibt es Vorstellungen aus einer veralteten Anthropologie, was die Körper und vor allem die nicht-weißen Körper betrifft: Wir wollen, dass diese problematische Prozedur überarbeitet wird. Wir nennen es indirekte Diskriminierung. Zum Beispiel sagt man: Schwarze Kinder haben platte Füße. Wenn man platte Füße hat, kann man schwer Spitzentanz machen.'"
"Hoffmanns Erzählungen" am Zürcher Opernhaus. Foto: Monika Rittershaus NZZ-Kritiker Christian Wildhagen sieht in Andreas Homokis Zürcher Inszenierung von Offenbachs Oper "Hoffmanns Erzählungen" die Fortschritte, die der digitale Opernbetrieb nach einem Jahr Pandemie gemacht hat und kann ungewöhnlichen Kameraperspektiven und Nahaufnahmen auf einmal etwas Positives abgewinnen. Wie Kino sei das ja, entdeckt Wildhagen. Und: "Der Verzicht auf allzu große Opulenz, in der 'Les contes d'Hoffmann' nicht selten ertränkt werden, schärft den Blick auf die raffinierte Konstruktion des Librettos von Jules Paul Barbier." In der FRversichert Judith von Sternburg, dass die "rasante Spielfreude" aller Beteiligten und auch ihr Spielvermögen verhindere, dass der hochwertig-elegante Klassizismus fade wird.
Weiteres: SZ-Kritikerin Christiane Lutz tummelt sich mit ausgelassenen Hippies und Theaterfreunden in der "Hair"-Aufführung des Saarländischen Staatstheaters und gönnt dem Haus aus vollem Herzen den Satz: "Nirgendwo sonst in Deutschland wird aufregenderes Musical gespielt." In ihrem Nachruf auf Ismael Ivoerinnert Lilo Weber an die nahezu unerschöpfliche Energie des brasilianischen Tänzers und Choreografen: "Wie ein leibgewordener Funke sprang Ivo von Kontinent zu Kontinent, von Brasilien nach Europa und zurück, von einer Aufgabe zur anderen, sein Feuer von ihm zu allen Menschen." Sabine Leucht porträtiert in der taz die Regisseurin und Performerin Lucy Wilke porträtieren, die sie als Jury-Mitglied zum Berliner Theatertreffen 2021 mit eingeladen hat.
Nur zu gerne lässt sich der Literaturwissenschaftler Robert P. Harrison für die NZZ von Dante an die Hand, um mit der "Göttlichen Komödie" nochmal in die Abgründe der Hölle hinab- und ins süße Elysium hinaufzusteigen. Für ihn ist die "Komödie" ein Werk, das vom steten Hadern und Zweifeln seines Dichters gezeichnet ist. Kurz vorm Paradies ruft Dante denn auch Odysseus nochmal an: "Wird Dante auch - wie Odysseus - in einem Akt der Selbstüberforderung scheitern? Nach dem Höhepunkt der 'Augen-Taufe' durch den Fluss des Lichts im dreißigsten Gesang des 'Paradiso' hält man es für unmöglich, dass eine solche Intensität der poetischen Darstellung noch für drei weitere Gesänge anhalten kann. Und doch gelingt es Dante. ... Bis heute ist Dante der einzige Dichter, der in solch körperlicher Gegenbewegung zur Unmöglichkeit der Darstellung 'das Paradies beschrieben' hat."
Weitere Artikel: Ralf Leonhard spricht für die taz mit DavidSchalko über dessen neuen Roman "Bad Regina" und österreichische Politikverhältnisse.
Besprochen werden unter anderem SharonDoduaOtoos Debütroman "Adas Raum" (Intellectures), AlexanderBrauns Monografie über den Comicmeister Will Eisner (taz), ChristineDrews' "Freiflug" (FR), Stefan Bollmanns "Der Atem der Welt - Johann Wolfgang Goethe und die Erfahrung der Natur" (SZ) und HowardJacobsons "Rendezvous und andere Alterserscheinungen" (FAZ).
Dass die Kinos derzeit noch nicht erledigt sind, liege an mehreren derzeit noch greifenden Schutzfaktoren, erklärt Christine Berg, Vorstandsvorsitzende des HDF Kino, im online nachgereichten FAS-Interview. Die wirklich existenziellen Fragen - kommt das Publikum zurück? - stellen sich demnach erst nach der Pandemie, meint sie. Und: Wie der aufgestauten Filmflut Herr werden? Während US-Filme problemlos ins Streaming gehen können, müssen filmgefördertedeutscheFilme hier klare Fristen einhalten: "Es ist nicht einsehbar, warum der deutsche Film einen Wettbewerbsnachteil haben soll. Und genau jetzt ist der richtige Zeitpunkt, das Filmförderungsgesetz wird gerade novelliert, und wir rufen die Politik auf, hier nach vorne zu sehen." In Frankreich "wurde sogar eine stärkere Reduzierung des Kinofensters vereinbart, wenn ein Film im Kino nicht die erhofften Besucherzahlen macht. Damit ließe sich vermutlich auch der Filmstau auflösen. Es muss ein Modell geben, alle Filme gleichzubehandeln, und da hinkt Deutschland momentan hinterher."
Weitere Artikel: Michael Hanfeld berichtet in der FAZ über den Versuch der Zeit, aus Marc Wieses Dokumentarfilm "Die Unbeugsamen" eine Art zweiten "Lovemobil"-Skandal zu bauen - nach Hanfelds Ansicht geht die Zeit, die sich nun wohl auch gerichtlich mit Wiese streiten wird, einer interessegeleiteten Quelle auf den Leim und zieht falsche Schlüsse, die Zeit bleibe aber bei ihrer Darstellung (unsere Resümees). Verena Lueken würdigt in der FAZChloé Zhaos mit Preisen überhäuftes Drama "Nomadland" als einen Film, der der spezifischen Einsamkeit der us-amerikanischenSeele auf den Grund geht. Lina Wölfel begleitet für die SZ Raquel Kishori Dupka, die in Schulen casten geht, um die wenig diversen Datenbanken der Castingagenturen aufzubessern. Nana Demand Bahlmann führt für die NZZ durch das große Filmmuseum, das sich die Academy in Los Angeles gegönnt hat. Im Kracauer-Blog des Filmdienstesbefasst sich Esther Buss mit den Experimentalfilmen von Maria Lassnig (mehr dazu bereits hier). In der FAZgratuliert Andreas Kilb dem französischen Filmemacher MichelDeville zum 90. Geburtstag.
Besprochen werden die Netflix-Serie "Thunder Force" (SZ) und die britische Comedyserie "Dead Pixels" (taz).
Frank Peter Zimmermanns und MartinHelmchens Langzeitprojekt, alle Klavier-Violine-Sonaten von Ludwig vanBeethoven einzuspielen, bleibt auch in der neusten Lieferung auf höchstem Niveau, schwärmt Harald Eggebrecht in der SZ-Klassikkolumne: "Die Landschaftlichkeit, das Pastorale der 'Frühlingssonate' op. 24 wirkt nicht wie meist behaglich und biedermeierlich, sondern frisch gespannt, in der zügig fließenden Melodik ungemein wachsam achtend auf die Plötzlichkeiten von Dynamik, der Kontraste, Farbwechsel und Stimmungen. Präsenz und Prägnanz der jeweiligen musikalischen Gestalten werden unmittelbar lebendig gerade in den seltener gespielten Stücken wie etwa bei der A-Dur-Sonate op. 30,1. Besonders im unvergleichlichen Adagio wagen die beiden wirklich wie verlangt ein extremes, doch nie forciertes 'molto espressivo', um diese einzigartige Insel Beethovenscher Innigkeit magisch zu beschwören." Hier die Frühlingssonate, auf dass dieser windig-kalte April bald endlich Gnade mit uns walten lassen möge:
Außerdem: Für die tazporträtiert Jens Uthoff die Musikerin Sofia Kourtesis. Besprochen werden neue Alben von DanielLanois (Tagesspiegel) und Lodon Grammar (Presse).
In der FRmacht sich Robert Kaltenbrunner grundsätzliche Gedanken über die politische Ikonografie von Architektur. Die alten Gleichungen stimmen nicht mehr, meint Kaltenbrunner: Gläserne Fassaden gleich Transparenz, Abwesenheit des Orthogonalen gleich Freiheit, Säule und Risalit gleich Diktatur, Symmetrie gleich Absolutismus. Aber demokratisches Bauen müsse man sofort erkennen: "Politik hat sich weniger in Form und Stil der Architektur zu manifestieren als vielmehr in der Art und Weise ihres Zustandekommens. In seinem berühmten Vortrag 'Demokratie als Bauherr' hat Adolf Arndt die Aufgabe so definiert: 'Demokratie muss das Unsichtbare sehen lassen, dass die Menschen ihrer selbst in diesem Miteinander ihres Menschlichseins, ihrer Gesellschaft, ihrer Gemeinschaft ansichtig werden. Die demokratische Aufgabe des Bauens ist, dass ein jeder Mensch sich als Mensch für sich und Mensch im Gefüge gewahrt.' Zurecht ist beklagt worden, dass die einseitige Berücksichtigung rationaler Kriterien in der Architektur deren Leistung entwerte und sie vom Massenpublikum abgeschnitten habe - weil sie die Kraft, das Gefühl zu erreichen, verliere."
Weiteres: Falk Jaeger feiert in der FAZ eine neue Kulturhalle im oberpfälzischen Berching als architektonischen Glücksfall.