Efeu - Die Kulturrundschau

Sie sind mächtig und sie sind fremd

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21.09.2020. Die NZZ durchstreift in Moskau die Wohneinheiten von A bis F in Moisse Ginsburgs luxussaniertem Narkomfin-Haus. Nachtkritik und Berliner Zeitung setzen sich lust- und angstvoll She She Pops anatomischer "Hexploitation" aus. In der Welt meldet sich Katharina Wagner zurück auf dem Grünen Hügel. Die Schwäbische Zeitung berichtet vom Filmfestival in San Sebastian, das einen Auftakt mit Woody Allen wagt. Die Zeit erliegt mit Anne Imhof dem Masochismus. Und die taz beneidet den siebzig gewordenen Bill Murray um seine glückselige Melancholie.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.09.2020 finden Sie hier

Bühne

She She Pops "Hexploitation" im Hebbel am Ufer. Foto: Dorothea Tuch

Absolut hingerissen ist Nachtkritikerin Simone Kaempf von She She Pops "Hexploitation"-Abend am Berliner HAU, in dem die Akteurinnen der Truppe, mittlerweile alle um die fünfzig, Faszination und Horror der älter werdenden Frau erkunden: "Alles soll sichtbar sein. Es geht ums dünner und dicker werden, um Altersflecken, Stirnfalten, Bauchfett oder Menstruationsblut. Eine selbstironische körperliche Bestandsaufnahme legen die Performer*innen vor, die sich am Ende in eine großartige Pop-Show verwandelt." In der Berliner Zeitung verfolgt Doris Meierhenrich den "humorvoll verschraubten Spukabend" durchaus vergnügt, auch wenn sie sich von der Radikalanatomie etwas bedrängt fühlte: "Die Vulven sind groß, sie sind mächtig und sie sind einem fremd. Aber sie sind auch ganz schön hässlich: haarig schrumpelige Schichten von Hautfalten, die sich in ein dunkles Nichts öffnen lassen - Nahaufnahmen zeigen es -, was bei den Unerschrockenen unter den Zuschauern aber auch gleich wieder den unverschämten Blick des Kolonisten wecken mag. Und im Handumdrehen verschiebt sich das Bild raumflutender weiblicher Machtergreifung schon wieder zum Objekt fremdbestimmter Ohnmacht."

Katharina Wagner, Urenkelin und Bayreuther Festspielchefin meldet sich auf dem grünen Hügel zurück, wie unter anderem Peter Uehling in der Berliner Zeitung berichtet. Im Welt-Interview mit Manuel Brug spricht sie über die kommenden Inszenierungen, den neuen "Ring" und natürlich darüber, was sie für Monate aus der Bahn geworfen hat: "Ich hatte weder Corona noch Krebs, noch Burn-out oder Depressionen, was ja vielfach gemutmaßt wurde. Ich hatte offenbar schon länger Thrombosen, die sich unbemerkt in der Lunge abgelagert haben und zu Lungenhochdruck samt akuter Lungenembolie führten. Diese unentdeckten Verstopfungen führten wiederum zu massiven Herzproblemen. Es war ernst, ich lag fünf Wochen lang im künstlichen Koma. Allerdings wenn diese sogenannte pulmonale Hypertonie operabel ist, und das ist das Entscheidende, dann ist hinterher alles gut."

Besprochen werden Thomas Melles in Stuttgart uraufgeführtes Wohnmiseren-Stück "Die Lage" (FAZ), Leonie Boehms Inszenierung von Euripides' "Medea" am Zürcher Schauspielhaus (Nachtkritik), Claus Peymanns Inszenierung von Thomas Bernhards Dramolette "Der Deutsche Mittagstisch" am Wiener Burgtheater (dessen Provokationen FAZ-Kritiker Martin Lhotzky zufolge so viel Staub angesetzt haben, dass sie ihn nicht mehr empören können), Guillaume Bernardis "Figaro"-Inszenierung von 2007 an der Frankfurter Oper (aber dank Corona-Regeln so gut wie neu, versichert Judith von Sternburg in der FR) und Duncan Macmillan "Atmen" mit dem Freien Schauspiel Ensemble Frankfurt (FR).
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Architektur

Moissei Ginsburgs restauriertes Narkomfin-Haus in Moskau. Bild: Ginsburg Architects

Der Moskauer Architekt Alexei Ginsburg hat das konstruktivistische, von seinem Großvater gebaute und halb verfallene Narkomfin-Haus restauriert und zu einem Block von Luxuswohnungen umgebaut, mit einem atemberaubenden Blick auf die Skyline. In der NZZ ist Inna Hartwich schon froh, dass er mehr als nur die Fassade übrig gelassen hat: "Das schlichte, langgestreckte Haus auf Säulen samt einem Gemeinschaftsteil mit Glasfront war nie ein Haus für die 'einfachen' Leute. Moissei Ginsburg und Ignati Milinis entwarfen das Wohngebäude Ende der 1920er Jahre im Auftrag des Volkskommissariats für Finanzen der Sowjetunion. Daher auch der selbst für viele Russen sperrige wie gewöhnungsbedürftige Name des Baus: Narkomfin. Es ist die Abkürzung fürs Volkskommissariat. Dessen hohe Beamte sollten hier Wohnraum finden, in zweckmäßigen, typisierten Zellen - lichtdurchfluteten Wohneinheiten von A bis F -, mit funktionalen Schlafzimmern, einem Bad nur für sich und einer Schrankküche. Nahezu jede Wand war farbig, gestaltet nach dem Bauhaus-Farbkonzept, das den Räumen mehr Tiefe und Weite verlieh."
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Kunst

Auch Ingeborg Ruthe feiert in der FR die große Symbolismus-Schau in der Alten Nationalgalerie in Berlin, rät aber, alle Coolness fahren zu lassen: "Dieser Künstlerblick ins Abgründige, ins Exzessive, Wollüstige und Absurde verband sich mit Verfall und Todessehnsucht, der Welt entfliehende Seelenschau mit Mystik und der aufkommenden Psychoanalyse." Im Tagesspiegel entdeckt Rüdiger Schaper die Vorzüge eines von (den anderen) Touristen entleerten Venedigs und vor allem die erneuerte Glaskunst von Murano.

Weiteres: Nicht ganz überzeugt ist taz-Kritiker Andreas Schlaegel vom Konzept des Amsterdamer Nxt Museum, das mit seiner elektronischen Kunst neue Technologien, KI und Biometrie eher feiert als reflektiert: "Kunst ist hier auch Show und nicht ohne Pathos."
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Film

Woody Allens "Rifkin's Festival"


Thomas Abeltshauser (taz) und Rüdiger Suchsland (Schwäbische Zeitung) berichten vom Auftakt des Filmfestivals in San Sebastián: Das nach Venedig zweite große Festival, das unter Coronabedingungen stattfindet, eröffnete mit Woody Allens "Rifkin's Festival", das praktischerweise in San Sebastián gedreht wurde. Für Suchsland "ein Lichtblick im Spätwerk" des Filmemachers. Im Mittelpunkt steht ein ins Alter gekommener Schriftsteller und Filmdozent, der von Selbstzweifeln gequält ist, sich frisch verliebt und dennoch eifersüchtig über seine Frau wacht, "von der er vermutet, sie habe eine Affäre mit einem französischen Autorenfilmer. All das erzählt Allen als virtuoses Spiel mit der Filmgeschichte. Denn fortwährend tagträumt Rifkin sein Leben in Szenen großer Filmklassiker, die Allen und sein Kameramann Vittorio Storaro dann in so liebevollen wie ironischen Referenzen an Allens Lieblingsregisseure Welles, Bergman, Buñuel, Godard und Truffaut in Filmbilder fassen." Abeltshauser hingegen hat sich bei diesem Schmetterlingsalbum sehr gelangweilt: Die "parodistischen Einschübe sind mal mehr, meist weniger amüsant und wirken wegen ihres ewiggleichen, selbstreferentiellen Stadtneurotiker-Humors angestaubt."

Bill Murray wird siebzig, die Feuilletons gratulieren. Eventuell auch im richtigen Leben, aber zumindest im Kino gibt er den in fast schon glückseliger Melancholie ermatteten Mann und bietet damit ein hervorragendes Gegengift zur Macher-Attitüde, die einem Mann von den Leinwänden ansonsten als Vorbild angeboten wird, schwärmt Arno Frank in der taz. Ganz hervorragend etwa: Murrays Steve Zissou in Wes Andersons "Die Tiefseetaucher", der "an ausnahmslos allen Fronten kapituliert, an denen der moderne Mann stehen kann. Er scheitert als Geschäftsmann, als Wissenschaftler, als Liebhaber, als Ehemann, als Freund und als Vater. Selbst als er einmal im Alleingang mit der Pistole seine Crew vor Seeräubern rettet, einziger Rückgriff auf ein heroisches Rollenmuster, gibt er im wehenden Bademantel eine lächerliche Figur ab. Er scheitert sogar beim Scheitern." Weitere Glückwünsche in NZZ, SZ und FAZ. Die beschriebene Szene in all ihrer Pracht:



Weitere Artikel: Cornelia Geißler spricht für die Berliner Zeitung mit der Regisseurin Katrin Gebbe über deren Film "Pelikanblut". Bei den vergangene Nacht verliehenen Emmys ist Maria Schrader für ihre Netflix-Serie "Unorthodox" als beste Regisseurin ausgezeichnet worden, meldet unter anderem die FAZ.

Besprochen werden die TV-Adaption von Nick Hornbys Plattenladenroman "High Fidelity" (ZeitOnline) und neue Veröffentlichungen auf Heimmedien, darunter Mervyn LeRoys Krimi "Home Before Dark" von 1959 (SZ).

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Literatur

Sehr gerührt berichtet Paul Ingendaay in der FAZ vom Internationalen Literaturfestival in Berlin, das aus bekannten Gründen in einer zwar eingedampften, aber selbstbewussten Ausgabe buchstäblich über die Bühne ging. "Als wäre dem Publikum klar gewesen, mit wie viel Glück das Festival zustande kam, versenkte es sich mit rührendem Ernst in Ich-Geschichten von gebrochener Herkunft, gemischten Identitäten und mühsam errungenem Ausdruck." Auffällig sei gewesen, "wie unbekümmert das Festival in seinen ganz auf die Autorinnen und Autoren zugeschnittenen Lesungen ins Subjektive abtauchte. Pajtim Statovci etwa, der Finnisch schreibende homosexuelle Albaner, der einer nie erlebten Familiengeschichte im Kosovo nachspürt, betreibt ebenso privateste Rekonstruktion wie die in Frankreich lebende Australierin Tara June Winch, die dem verlorenen Vater und der eigenen indigenen Vergangenheit hinterherschreibt: Erzählen als Scherbenaufsammeln."

Außerdem: In der FR weiß Christian Thomas, warum Walter Benjamin nie auf eine Schreibmaschine umgestiegen ist. Besprochen werden unter anderem die in Deutschland erstmals veröffentlichten Manga-Klassiker von Yoshiharu Tsuge (Tagesspiegel), Tanja Paars "Die zitternde Welt" (Standard), Giulia Caminitos "Ein Tag wird kommen" (Berliner Zeitung), Michael Kleebergs "Glücksritter" (ZeitOnline), Stephan Roiss' Debüt "Triceratops" (Standard), ein Band mit Gerichtsreportagen von Gabriele Tergit (NZZ) und neue Hörspiele nach Romanen von Erich Maria Remarque (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Marleen Stoessel über das anonym verfasste, von Paul Heyse aus dem Spanischen übersetzte Gedicht "In dem Schatten meiner Locken"

"In dem Schatten meiner Locken
Schlief mir mein Geliebter ein.
Weck ich ihn nun auf?
..."
Archiv: Literatur

Musik

Mit lustvoller Erwartung übt sich Zeit-Kritiker Jens Balzer im Genuss am Verzicht, während er "Sex" hört, eine Anne Imhofs gleichnamige Performance flankierende Musikveröffentlichung. Spuren in die Kulturgeschichte erotischen Aufschubs finden sich darin zuhauf, etwa hin zu Marlene Dietrich, die "ihr Glück nicht im Glück selbst sucht, weil sie dann eben 'Heimweh nach dem Traurigsein' hätte. ... Vielleicht findet sich darin der Kern der Imhofschen Ästhetik: in der Beschwörung des Wartens als eines Zustands des Noch-nicht-Festgelegten, in dem gerade darum der sich sehnende Mensch erst den ganzen Reichtum der Lust erfährt. Beim Hören von 'Sex' erscheint jedenfalls die Idee des Begehrens noch schärfer, die Imhof mit ihrer Performance umkreist: ein Begehren, das seine Befriedigung aus dem endlosen Aufschub der Befriedigung gewinnt und das sich, im eigentlichen Sinne des Wortes, als masochistisch bezeichnen lässt. Ein Verständnis des menschlichen Daseins liegt ihm zugrunde, das nicht die Vollendung feiert, sondern endloses Werden."

Weitere Artikel: Für die Jungle World wirft Sabine Küper-Büsch einen Blick in die Musik- und Clubszene Istanbuls unter Coronabedingungen: Dort "war der Sommer noch nie so leise." Selmar Schülein spricht für den Freitag mit den Machern des Bamberger Experimentalmusik-Festivals "FK:K" (mehr dazu bereits hier). Rettet die Discos, ruft Christian Schachinger im Standard, denn "spätestens im nächsten Jahr werden viele Clubs krachen gehen." In der Berliner Zeitung berichtet Nadja Dilger vom Reeperbahnfestival. In der FAZ gratuliert Jan Brachmann Alice Harnoncourt zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden ein Konzert der Wiener Philharmoniker unter Valery Gergiev (Standard), ein Konzert des SWR-Sinfonieorchesters unter Teodor Currentzis (SZ),  ein hier auf Youtube nachhörbarer Schöllhorn-Abend von Alfonso Gómez (jW) und neue Alben von Alicia Keys (Tagesspiegel) und Angel Olsen (taz).
Archiv: Musik