Efeu - Die Kulturrundschau
Fein verästelte Zeichensysteme
Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.05.2020. Regisseur Christian Petzold entziffert in der Welt Georges Simenons kinematografische Schreibweisen anhand von Tonspuren für Sehbehinderte. Margaret Atwood erinnert sich in der FR an die Quarantänen im Kanada der Vierziger. Die New York Review of Books denkt über den Sinn von Lipgloss unter der Schutzmaske nach. In der SZ hofft Klaus Lemke, dass die Coronakrise dem deutschen Film einen dringend nötigen Neustart verpasst. Die FAZ hofft, dass eine Entscheidung des Denkmalamts die Frankfurter Bühnen vor dem Abriss rettet. Die Neuen Musikzeitung diskutiert über das Für und Wider des elektronischen Komponierens.
9punkt - Die Debattenrundschau
vom
23.05.2020
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Kunst

Christoph Brech hat die Fenster der neogotischen Heilig-Kreuz-Kirche in München-Giesing mit 1.200 Röntgenaufnahmen von Lungenflügeln gestaltet, berichtet Brita Sachs in der FAZ. Das aber schon letzten Herbst! Überhaupt haben die Lungenflügel mit Krankheit nichts zu tun, es geht eher um ihre abstrakte Form: "In langwieriger Bearbeitung kehrte der Künstler am Rechner die Lichtwerte des Originals um, nun stehen die Lungenflügel hell vor dunklerem Grund. Auch nahm er Knochenstrukturen heraus: 'ich wollte kein Memento mori wie der Barock', der Akzent liegt auf der Nähe zur Flügelform, der Assoziation aufwärts strebender Leichtigkeit, die sich der gotischen, also auch neugotischen Spitzbogenstruktur ideal angleicht. Brechs Werk zitiert aber auch ein Kreuz: Schlüsselbein und Rückgrat bilden es und erinnern an jenes Kreuz, das laut Jesus Aufforderung jeder Gläubige auf sich nehmen soll."
Weiteres: Im Blog der New York Review of Books stellt Elisa Wouk Almino die Künsterlin Luchita Hurtado vor, die gerade im Los Angeles County Museum of Art die Ausstellung "I Live I Die I Will Be Reborn" laufen hat. In der NZZ stellt Claude Lichtenstein den Tessiner Grafiker Bruno Monguzzi vor. Besprochen werden eine Ausstellung des Berliner Malers Max Kaus im Brücke-Museum in Berlin (Tsp), die "Eintritt in ein Lebewesen"-Schau im Bethanien in Berlin (taz)
Musik
In der Neuen Musikzeitung entwickelt sich eine kleine Debatte über das Für und Wider des elektronischen Komponierens - ausgehend von einer Kritik daran des Philosophen Harry Lehmann, der in der Digitalisierung einen entscheidenden Bruch in der Geschichte der Kunstmusik sieht. Der Komponist Felix Stachelhaus antwortet darauf: Wenn er "etwas Unspielbares schreibe, dann hat das einen Grund. Dann will ich Ungenauigkeiten hören, wenn viele Instrumentalist*innen rhythmisch nicht mehr exakt spielen können; dann liebe ich die Brüchigkeit des Klangs an der dynamischen Untergrenze eines Instruments; dann suche ich die Schwebungen, die aufgrund schwieriger Intonation in extremen Lagen entstehen. Die Elektronik ernst zu nehmen hieße, sie als eigenständiges Instrument zu betrachten und in den ästhetischen Möglichkeiten zu nutzen, die sie von anderen Medien unterscheidet; sie als eine Erweiterung der ästhetischen Möglichkeiten zu begreifen, die aber selbstverständlich eine Musikkultur weiterführt und diese nicht 'ablöst' oder 'aufhebt'."
"Für viele Musiker kommt das Konzertverbot einem Berufsverbot gleich, das sie finanziell ruiniert", schreibt Reinhard J. Brembeck in der SZ. Sein etwas sehr herbeigezogenes Argument: Die Flugzeuge dürfen ja auch wieder fliegen, "weil die Klimaanlagen so gut seien, dass keine Eineinhalb-Meter-Klausel gelten müsste. In Häusern wie Baden-Baden und der Berliner Philharmonie ist die Klimaanlage genauso gut, die wirtschaftliche Notlage genauso groß. Wenn Flugzeuge voll sein dürfen, dann auch die Konzertsäle. Das erfordert die Gleichbehandlung."
Außerdem: In der Berliner Zeitung schildert Susanne Lenz die Lage des bolivianischen Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos, das wegen Corona seit über zwei Monaten im Brandenburgischen Rheinsberg festsitzt. Jasmin Tabatabai spricht in der Berliner Zeitung über ihr neues Album. In der Berliner Club- und Konzertszene herrscht ziemlich schlechte Stimmung, hat Markus Schneider für die Berliner Zeitung herausgefunden. Und: Die Berliner Zeitung meldet den Tod des City-Schlagzeugers Klaus Selmke.
Besprochen werden das Comeback-Album von Badly Drawn Boy (FR, Tagesspiegel), neue Alben von Jessie Reyez und Jhené Aiko (FR) und das neue Album von The 1975 (Pitchfork).
"Für viele Musiker kommt das Konzertverbot einem Berufsverbot gleich, das sie finanziell ruiniert", schreibt Reinhard J. Brembeck in der SZ. Sein etwas sehr herbeigezogenes Argument: Die Flugzeuge dürfen ja auch wieder fliegen, "weil die Klimaanlagen so gut seien, dass keine Eineinhalb-Meter-Klausel gelten müsste. In Häusern wie Baden-Baden und der Berliner Philharmonie ist die Klimaanlage genauso gut, die wirtschaftliche Notlage genauso groß. Wenn Flugzeuge voll sein dürfen, dann auch die Konzertsäle. Das erfordert die Gleichbehandlung."
Außerdem: In der Berliner Zeitung schildert Susanne Lenz die Lage des bolivianischen Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos, das wegen Corona seit über zwei Monaten im Brandenburgischen Rheinsberg festsitzt. Jasmin Tabatabai spricht in der Berliner Zeitung über ihr neues Album. In der Berliner Club- und Konzertszene herrscht ziemlich schlechte Stimmung, hat Markus Schneider für die Berliner Zeitung herausgefunden. Und: Die Berliner Zeitung meldet den Tod des City-Schlagzeugers Klaus Selmke.
Besprochen werden das Comeback-Album von Badly Drawn Boy (FR, Tagesspiegel), neue Alben von Jessie Reyez und Jhené Aiko (FR) und das neue Album von The 1975 (Pitchfork).
Literatur

Margaret Atwood erzählt in der FR, wie sie die momentane Lage an die Quarantänen in Kanada in den Vierzigern erinnert. Alle kannten "die Quarantäne-Schilder. Sie waren gelb und sie prangten plötzlich auf Haustüren. ... Wir Kinder standen draußen im Schnee - für mich war es immer Winter in der Stadt, da meine Familie den Rest des Jahres im Wald lebte -, und wir starrten also auf die mysteriösen Schilder und fragten uns, was für grausliche Sachen hinter diesen Türen vor sich gingen. Kinder waren besonders anfällig für diese Krankheiten, gerade Diphtherie - ich hatte vier junge Cousins, die daran starben. So kam es dann auch vor, dass eine Klassenkameradin verschwand. Manchmal tauchte sie wieder auf, manchmal nicht." Ihr Fazit daher: "Nur Mut! Die Menschheit hat das alles schon mal durchgemacht" und nutze den Tag!
Weitere Artikel: "Wer denkt, die Welt werde jemals wieder so wie früher, der irrt", meint Cees Nooteboom in der NZZ, sanft traumatisiert vom ersten Krankenhausaufenthalt seines Lebens und etwas überfordert von den Abstandsregelungen im Supermarkt. Lothar Müller erzählt in der SZ die Geschichte von Marcel Prousts Vater Adrien Proust, der ein früher Epidemiologe war und als solcher "Teil eines Lehrstücks über die Verflechtung der Gesundheitspolitik mit den ökonomischen und Kolonialinteressen der beteiligten europäischen Nationalstaaten". Ulrich Gutmair hat sich für die taz mit Tom Kummer zum Plausch über dessen neuen Roman "Von schlechten Eltern" getroffen. Die NZZ bringt Auszüge aus einer Erzählung von Martin Meyer. In der FAZ sprechen die Slawistinnen Sylvia Sasse und Renate Lachmann über Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Holocaust- und Gulag-Literatur.
Besprochen werden unter anderem Patti Smiths "Im Jahr des Affen" (taz, Literarische Welt), die vom HR online gestellte Hörspielbearbeitung von Annie Ernauxs Buch "Der Platz" (FR), Cécile Wajsbrots "Zerstörung" (Standard), die Gesamtausgabe von Seths Comic "Clyde Fans" (Intellectures), Hans Joachim Schädlichs "Die Villa" (Dlf Kultur), die Ausstellung "Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie" im Literaturmuseum der Moderne in Marbach (Dlf Kultur, FAZ), Benjamin Maacks "Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein" (FR), Jhumpa Lahiris "Wo ich mich finde" (Literarische Welt) und Anna Katharina Hahns "Aus und davon" (FAZ).
Film
Klarer Fall: Wenn die ganze Filmbranche jammert, sieht Klaus Lemke vor allem die Chance auf den Neuanfang. David Steinitz ist mit dem Kino-Anarchisten für die SZ unter Missachtung aller Abstandsregeln durch das Münchner Univiertel flaniert. So einen Neustart könnte wohl auch das Publikum gut gebrauchen, meint Lemke: "Er hat da diese Theorie entwickelt, dass die Menschen vergessen haben, wie schön und wild das Leben sein kann - wenn man das Leben denn zulässt. Corona? Eine sich selbsterfüllende Prophezeiung, damit die Menschen endlich eine nahezu unanfechtbare Ausrede haben, dort zu bleiben, wo sie eh schon sitzen: in der Netflix-Einzelhaft. Dass vor allem die jungen Leute sich in ihrer Isolation nicht mal mehr für Sex interessieren würden, weiß Lemke mit Verben und Adjektiven zu umschreiben, die man in einer Tageszeitung leider unmöglich wiedergeben kann." Natürlich verliest Lemke im Gespräch auch wieder zahlreiche Passagen seines neuesten Manifests, das an dieser Stelle dokumentiert ist.
Weitere Artikel: Werner Herzog macht sich Sorgen um die indigenen Völker Brasiliens in der Coronakrise, erklärt er im Dlf Kultur. Claus Löser staunt in der Berliner Zeitung über das virtuelle Programm des Hannoveraner Lodderblast-Kinos, das Filme mit Rahmenprogramm streamt und damit ziemlich erfolgreich ist. Besprochen werden die von Reese Witherspoon produzierte Amazon-Serie "Little Fires Everywhere" (FAZ, Welt, ZeitOnline), die Serie "Harlots - Haus der Huren" (Freitag) und die Netflix-Komödie "The Lovebirds" (Presse).
Weitere Artikel: Werner Herzog macht sich Sorgen um die indigenen Völker Brasiliens in der Coronakrise, erklärt er im Dlf Kultur. Claus Löser staunt in der Berliner Zeitung über das virtuelle Programm des Hannoveraner Lodderblast-Kinos, das Filme mit Rahmenprogramm streamt und damit ziemlich erfolgreich ist. Besprochen werden die von Reese Witherspoon produzierte Amazon-Serie "Little Fires Everywhere" (FAZ, Welt, ZeitOnline), die Serie "Harlots - Haus der Huren" (Freitag) und die Netflix-Komödie "The Lovebirds" (Presse).
Design

Bühne
Abstand ist im modernen Tanz eigentlich immer schon angelegt, meint Dorion Weickmann, die unser aller Coronachoreografie auf der Straße beobachtet hat, in der SZ: "Das befremdliche Motorik-Mosaik, das Corona uns aufzwingt, genießt andernorts längst Kultstatus. Auf der Tanzbühne feierten bereits im 20. Jahrhundert fein verästelte Zeichensysteme, Zufalls-Operationen und Alltagsbewegungen Triumphe. Merce Cunningham, Pionier der Postmoderne, erwürfelte den Ablauf ganzer Abendprogramme. Trisha Brown pflanzte körperrhetorische Fundstücke aus den Straßenschluchten New Yorks auf die Bühne und adelte so den Akt des Flanierens zur theatralen Aktion. In Frankfurt etablierte der Ballettneuerer William Forsythe die Choreografie auf Zuruf: Vorab vereinbarte Signale bestimmen die Einsätze der Tänzer. Aber wann das Startzeichen kommt und wer es gibt, bleibt offen - und fürs Publikum unsichtbar."
Ein Beispiel: Bachs "Chaconne" von Anne Teresa de Keersmaeker & Boris Charmatz in Tempelhof
Weitere Artikel: Shirin Sojitrawalla unterhält sich für die taz mit der Schauspielerin Sandra Hüller über deren Rolle als "Hamlet" und das Theaterspielen ohne Publikum. Seit dem 16. Mai haben die ausgefallenen Mülheimer Theatertage "Stücke 2020" jeden Tag ein filmisches (Selbst-)Porträt der acht nominierten DramatikerInnen ins Netz gestellt, berichtet Katrin Bettina Müller in der taz. Gute Werbung für die neue Dramatik, meint sie. Irene Bazinger lässt sich für die FAZ von Intendant Oliver Reese erklären, wie er den Theaterbetrieb in seinem Haus wieder aufnehmen will.
Die nachtkritik streamt heute bis 18 Uhr Kleists "Der zerbrochne Krug" in der Inszenierung von Laura Linnenbaum fürs Schauspielhaus Düsseldorf und ab 18 Uhr "Ramadram", eine Webserie von New Media Socialism von Kampnagel Hamburg.
Ein Beispiel: Bachs "Chaconne" von Anne Teresa de Keersmaeker & Boris Charmatz in Tempelhof
Weitere Artikel: Shirin Sojitrawalla unterhält sich für die taz mit der Schauspielerin Sandra Hüller über deren Rolle als "Hamlet" und das Theaterspielen ohne Publikum. Seit dem 16. Mai haben die ausgefallenen Mülheimer Theatertage "Stücke 2020" jeden Tag ein filmisches (Selbst-)Porträt der acht nominierten DramatikerInnen ins Netz gestellt, berichtet Katrin Bettina Müller in der taz. Gute Werbung für die neue Dramatik, meint sie. Irene Bazinger lässt sich für die FAZ von Intendant Oliver Reese erklären, wie er den Theaterbetrieb in seinem Haus wieder aufnehmen will.
Die nachtkritik streamt heute bis 18 Uhr Kleists "Der zerbrochne Krug" in der Inszenierung von Laura Linnenbaum fürs Schauspielhaus Düsseldorf und ab 18 Uhr "Ramadram", eine Webserie von New Media Socialism von Kampnagel Hamburg.
Architektur

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