Efeu - Die Kulturrundschau

Versatzstücke pulverisierten Nischenwissens

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20.12.2018. The Nation zeichnet die Debatten über afroamerikanische Kunst in den 60ern und 70ern nach. In der taz erklärt Wulf Herzogenrath, wie sich die Videokunst in Deutschland konstituierte. Im Espectador zweifelt Hector Abad an der Rolle des Kommentators. Und: Mädchen in die Knabenchöre, fordert der Tagesspiegel.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.12.2018 finden Sie hier

Musik

Im Tagesspiegel plädiert Susann Bräcklein dafür, Mädchen in Knabenchören singen zu lassen, alles andere wäre Diskriminierung auf argumentfreier Basis: "Eine geübte Mädchenstimme kann wie eine geübte Knabenchorstimme klingen. Klangliche Unterschiede mögen sich vielleicht dem akustischen Enthusiasten eröffnen, auch jedes Instrument klingt ein wenig anders. Doch die Unterscheidbarkeit in den Ohren von Experten kann nicht rechtfertigen, Mädchen von der Teilhabe an hochwertiger musikalischer Ausbildung und der nicht unerheblichen staatlichen Finanzierung vieler Chöre auszuschließen."



Mit seinem neuen Album "Omega Station" (siehe Video oben) setzt der Leipziger Musiktüftler Disrupt dem Klangkosmos der Science-Fiction ein Denkmal, erklärt Philipp Weichenrieder in der taz. Der Musiker "verschraubt die Versatzstücke pulverisierten Nischenwissens zwischen Dub, Scifi und Library Music (Musik, die auf Halde etwa für Werbung und Filme produziert wurde) zu einem Soundtrack, der Computerfehler, kollabierende Systeme und Maschinenversagen orchestriert."

"Mehr als kreatives Arbeiten mit Versatzstücken kann man heute sowieso nicht verlangen", schreibt dazu passend im Standard Amira Ben Saoud, allerdings über "A Brief Inquiry Into Online Relationships", das neue Album von The 1975 (siehe Video unten). Die Band reüssiert zwischen Emo-Rock, Rhyhtm'n'Blues und Bon-Iver-Double und tritt "als Browser in Erscheinung, in dem einige Tabs offen sind, Bedeutendes und Banales passiert gleichzeitig. Ertrinkende Flüchtlingskinder, Pornos, Trump und Katzenvideos: Alles ist immer verfügbar, und doch hat die Suchmaschine keine Antworten auf Fragen. 'A Brief Inquiry Into Online Relationships' ist inhaltlich vom digitalen Zeitalter fasziniert, angeekelt und enttäuscht."



Weitere Artikel: Zeit-Kritiker Lukas Rietzschel freut sich, dank Andreas Dresens Biopic auf die Musik von Gundermann gestoßen zu sein. In der FAZ gratuliert Clemens Haustein der Pianistin Mitsuko Uchida zum 70. Geburtstag. Besprochen werden ein Berliner Mozart- und Bruckner-Abend der Wiener Philharmoniker unter dem Dirigat Riccardo Mutis (Tagesspiegel), das neue Album von Dendemann (FR) und J Mascis' neues Album "Elastic Days" (FR).
Archiv: Musik

Kunst

Roy DeCarava, Couple Walking, 1979. Courtesy of Sherry Turner DeCarava and the DeCarava Archives. (c) Estate of Roy DeCarava


Anlässlich der Ausstellung "Soul of a Nation" im Brooklyn Museum schreibt Barry Schwabsky - in einem Text für The Nation, der mehr Essay ist als Ausstellungsbesprechung - über afroamerikanische Kunst: Wie sie sich entwickelte, welche Barrieren sie zu überwinden hatte und welche Diskussionen sie in den 60ern und 70ern prägten: "Die grundlegende Kluft zwischen den schwarzen Künstlern in dieser Zeit ist einfach zu beschreiben: Die einen waren überzeugt, dass 'schwarze Kunst' offen das Thema der Rasse implizieren musste, die anderen verstanden Kunst als formale Ambition, ohne ethnische Einschränkungen. Manchmal kam es auf so etwas Einfaches an wie die Trennung zwischen figurativer und abstrakter Kunst, die im Mittelpunkt der Katalogbeiträge in 'Soul of a Nation' steht, vielleicht mehr als in der Show selbst. ... Im Gegensatz zu denen, die die Behauptung einer stolzen Rassenidentität forderten, waren es diejenigen, die die Singularität des Künstlers verteidigten, der - wie ein anderer Künstler in 'Soul of a Nation', Raymond Saunders, einige Jahre zuvor in einem polemischen Austausch mit dem Schriftsteller Ismael Reed - 'für sich selbst das tun muss, was für seine eigene Entwicklung notwendig ist, indem er sich als Individuum erfüllt'."

Wulf Herzogenrath, der gerade in der Berliner Akademie der Künste ausstellt, ist ein Pionier der Videokunst in Deutschland. Im Interview mit der taz erzählt er, wie es damit hier losging. Erst mal mit Streit natürlich: "Videokünstler und Experimentalfilmer waren eher Gegner. Der Experimentalfilm war Anti-Kino und lief natürlich nicht im Vorprogramm, während Videokunst in der Bildenden Kunst gut ankam. Sie ließ sich in aktuelle Strömungen wie Land Art oder Konzeptkunst integrieren. Dann gab es noch das dokumentarische Video. Es galt den Machern als das Wahre, das einzig politisch und gesellschaftlich Wichtige. Auf die Videokünstler, die da experimentierten, sah man herab. Die drei Szenen waren sich untereinander nicht grün, es dauerte noch 20 Jahre, bis man sich annäherte."

Weiteres: Annekathrin Kohout hat für ihr Blog die App Acute Art ausprobiert und ist enttäuscht: Diese immersive Kunst "hat keine Schlagkraft".

Besprochen werden eine Ausstellung zum Werk der Architektin, Fotografin und Autorin Denise Scott Brown im Architekturzentrum Wien (taz), die Retrospektive zum 100. Todesjahr des Jugendstilkünstlers Koloman Moser im Wiener MAK (Presse), die Cady-Noland-Ausstellung im Frankfurter MMK (Freitag), eine Ausstellung zur Wirkung von Joseph Beuys auf Italien in der Casa di Goethe in Rom (FAZ), die Ausstellung "Imagine 68" im Schweizer Landesmuseum in Zürich (FAZ), die Fotoausstellung "Il Sorpasso. Quando l'Italia si mise a correre, 1946 - 1961" im Museo di Roma (SZ)
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Film



Mit seinem neuen Film "Drei Gesichter", eine anfangs "metafilmische Investigation", setzt sich der iranische Regisseur Jafar Panahi ins Verhältnis zu Abbas Kiarostamis Auto-Filmen, schreibt Lukas Foerster im Perlentaucher: "Arbeit an der Metapher: Das war ein zentraler Modus des iranischen Autorenkinos zu dessen Blütezeit in den 1980er und 1990er Jahren. 'Drei Gesichter' ist eine fast schon nostalgische Wiederaufnahme dieser filmischen Form. ... Es ist gar nicht einfach zu beschreiben, wie sich die Werke der beiden Regisseure zueinander verhalten. Keineswegs macht Panahi Anstalten, sich von den Themen und der Methodologie Kiarostamis zu emanzipieren. Und doch sind gerade seine jüngsten, besonders 'kiarostamiesken', weil stark vom Bild und insbesondere von der Plansequenz her gedachten Filme alles andere als epigonal. Paradoxerweise wird der Schüler dem Lehrer umso ähnlicher, je mehr er zu einer eigenen Stimme findet."

Weitere Artikel: Im Berliner Filmrauschpalast läuft über die Weihnachtsfeiertage eine kleine Jacques-Tati-Werkschau von 35mm-Kinokopien, freut sich Antonia Herrscher in der taz. Zu Weihnachten lassen wir uns gerne von Geschichten wie "A Christmas Carol" und "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" in die Kindheit entführen, fällt Urs Bühler von der NZZ beim Blick in die Fernsehprogramme auf. Die SZ-Kritikerinnen  und -Kritiker lassen ihre Magic Kino-Moments des Jahres im Kino Revue passieren. Im Tagesspiegel schreibt Christiane Peitz einen Nachruf auf die Hollywoodregisseurin Penny Marshall.

Besprochen werden Laura Lackmanns auf Heimmedien veröffentlichter Film "Zwei im falschen Film" (taz), Rob Marshalls "Mary Poppins' Rückkehr" (ZeitOnline, taz, FAZ), James Wans Superheldenfilm "Aquaman" (Perlentaucher, Standard, taz) und das "Transformers"-Prequel "Bumblebee" (FAZ, Welt).

Außerdem viel Lesestoff für die Feiertage: Die neue Ausgabe des Onlinemagazins Senses of Cinema ist erschienen.
Archiv: Film

Bühne

Andrea Heinz berichtet in der nachtkritik über Streit ums Landestheater Linz.

Besprochen werden John Morans Choreografie "everyone" in der Baumwollspinnerei Leipzig (nmz) und Georges Bizets "Perlenfischer" an der Oper Antwerpen in der Inszenierung des belgischen Theaterkollektivs FC Bergman (FAZ-Kritiker Jan Brachmann ist nach anfänglichem Widerstand gegen die Idee, die Handlung in ein Altersheim zu verlegen, überrascht von der neu entdeckten "Innerlichkeit und Größe" der Oper).
Archiv: Bühne
Stichwörter: Heinz, Andreas, Linz

Literatur

Hector Abad befallen in seinem (für dieses Jahr) letzten Text für den kolumbianischen Espectador erhebliche Zweifel am Sinn seiner Kolumnistentätigkeit: "Ich komme mir vor, wie jemand, der mit Worten handelt, ein Predigtenschreiber. Ich gehe meine letzten Artikel durch: Tiraden, Streitschriften, Moralismus. Wenn man seit vierzig Jahren Meinungskolumnen verfasst, befällt einen immer wieder einmal das Gefühl völliger Nutzlosigkeit - man fügt bloß der Wüste weitere Sandkörnchen hinzu. Ich weiß, dass ich mich dadurch eine Weile besser fühlen werde, habe ich doch gegen das Grauen der Gewalt, Willkür und Sinnlosigkeit die Fahne der Moral gehisst. Ich weiß aber auch, dass das zu nichts führt, dass die Wut über die Erbärmlichkeit der anderen nur meiner eigenen Ethik schmeichelt. Also schweige ich, schreibe zu keinem der diesmal infragestehenden Themen. Am liebsten würde ich einfach nur ein weißes Blatt Papier abliefern, als Hommage an die Stille. Als nihilistischen Akt. Die Zeitungen machen dicht, verschwinden, an ihre Stelle tritt der ewige Lärm der sozialen Medien. Leute werden aus ihren angestammten Wohngegenden vertrieben, aber auch aus ihren Berufen. Wir Journalisten des 20. Jahrhunderts verlieren im 21. Jahrhundert unsere Stimme und unsere Beschäftigung. Wir fordern Stille, aber es gibt keine Stille mehr, die Stille existiert nicht mehr."

Im Tagesspiegel fassen Gerrit Bartels Frank-Michael Kirsch jüngste Erkenntnisse im Skandal um die Schwedische Akademie zusammen: So kamen laut Svenska Dagbladet und Dagens Nyheter anwaltschaftliche Untersuchungen zu dem Schluss, dass Akademiemitglied Katarina Frostenson und ihr Mann Jean-Claude Arnault "die Namen von Literaturnobelpreisträgern schon vor der offiziellen Verkündung genannt und sich dadurch finanzielle Vorteile verschafft haben. ... Frostenson wird nahegelegt, freiwillig aus der Akademie auszutreten, und falls nicht, müsse sie von der Akademie dazu gezwungen werden."

Weitere Artikel: In seiner Jungle-World-Kolumne "Lahme Literaten" schlachtet Magnus Klaue diesmal genüsslich Daniel Kehlmann, für ihn der "Thomas Pynchon für Geo-Leser". Der Tagesspiegel kürt seine Lieblingscomics des Jahres - auf der erwartbaren Spitzenposition: Emil Ferris' "Am liebsten mag ich Monster".

Besprochen werden Henry Bestons im Original vor 90 Jahren erschienenes Buch "Das Haus am Rand der Welt" (Standard), Olivier Guez' "Das Verschwinden des Josef Mengele" (Zeit), Stephen Greenblatts "Der Tyrann. Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundert" (Freitag), Natascha Wodins "Irgendwo in diesem Dunkel" (SZ) und Ottessa Moshfeghs "Mein Jahr der Ruhe und Entspannung" (FAZ).
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