Efeu - Die Kulturrundschau

Zauberhafte Agilität

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.01.2017. Der Guardian bewundert die Farbkakofonien der Vanessa Bell. Die NZZ beschreibt die Knebelverträge, mit denen Künstler ihren Assistenten oft Geld und Anerkennung vorenthalten. In der SZ verteidigt Okwui Enwezor die Renovierungspläne David Chipperfields für das Münchner Haus der Kunst. In der Welt fürchtet Paul Auster das Ende des Experiments Amerika. Im TagesAnzeiger erzählt die 19jährige afghanische Dirigentin Negin Khpalwak, wie gefährlich Musikerinnen in Afghanistan leben.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.01.2017 finden Sie hier

Kunst


Vanessa Bell, Nude with Poppies, (1916). Photograph: © The Estate of Vanessa Bell, courtesy of Henrietta Garnett

Mit ihrer Kakophonie aus Farben und Formen war Vanessa Bell (1879-1941), die Schwester von Virginia Woolf, eine der radikalsten Künstlerinnen ihrer Zeit, meint im Guardian Lauren Elkin nach dem Besuch einer Bell gewidmeten Ausstellung in der Dulwich Picture Gallery: "She verged on abstraction through her use of colourblocking, transforming a portrait into an expressionist exercise. A 1915 portrait of 23-year-old Garnett - face flushed, his two pink nipples babyishly small - sets him against a fauve mauve background which is fragmented, yet ordered, by a dark blue abstraction. The fields of colour vibrate with movement, the brushstrokes not only visible but jagged, darting. In her aim to capture raw sensuality and the beauty of form on the canvas, she felt herself to be utterly unfashionable."

In der NZZ beschreibt der Anwalt Herbert Pfortmüller die Knebelverträge, mit denen Künstler sich die - oft kostenlose oder gering entlohnte - Mitarbeit anderer sichern. Inzwischen mucken die "Assistenten" aber öfter auf: "Gerade dieser Tage wurde Marina Abramovic von einem niederländischen Gericht dazu verurteilt, ihrem früheren Lebens- und Arbeitspartner Ulay Laysiepen für seine Mitarbeit an ihrem künstlerischen Werk zwischen 1976 und 1988 mehr als eine Viertelmillion Euro zu bezahlen. Ulay hat seinen Anspruch mit vertraglichen und urheberrechtlichen Argumenten begründet; er sei maßgeblich beteiligt gewesen am Erfolg seiner vormaligen Partnerin. Das Gericht folgte ihm auf der ganzen Linie."

Weiteres: Die Malerin Michaelina Wautier bekommt 328 Jahre nach ihrem Tod endlich eine Einzelausstellung, im Rubenshaus in Antwerpen, meldet Caroline Elbaor in artnet. Frederik Hanssen geht für den Tagesspiegel mit der Fotografin Herlinde Koelbl durch ihre "Flüchtlinge"-Fotoausstellung im Außenministerium.

Besprochen werden zwei Ausstellungen über Klang als Medium: "Samson Young. A dark theme keeps me here, I'll make a broken music" in der Kunsthalle Düsseldorf und "Susan Philipsz: Returning" im Kunstverein Hannover (FAZ) und eine Schau Cindy Shermans in der Galerie Sprüth Magers in Berlin (SZ).
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Architektur

In der SZ verteidigt Okwui Enwezor David Chipperfield, der das Münchner Haus der Kunst, renovieren soll. Insbesondere Chipperfields Vorschläge, die Bäume vor dem ehemaligen Nazibau zu entfernen oder die Treppe vor der Front wiederherzustellen, hat den Zorn der Kritiker erregt, die befürchten, das Nazihafte am Bau würde so wieder betont (mehr dazu von Gerhard Matzig). Aber der Kontext hat sich verändert, entgegnet Enwezor und hält zwei Fotos dagegen, von 1937 und 1945, die die totale Zerstörung des Umfelds zeigen: "Nichts ist heute so, wie es zur Eröffnung des Gebäudes war. Die Verwüstungen des Krieges und der Nachkriegsstädtebau haben völlig neue Perspektiven geschaffen. Straßen wurden verbreitert, Tunnel gegraben und der Verkehrsfluss so dramatisch verändert, dass sich gänzlich neue Ansichten ergeben. Die Situation zwischen 1937 und 1945 lässt sich nicht wiederholen. Tatsächlich wirkt der Bau heute sichtbarer, besonders aus südwestlicher Richtung."


Flüchtlingsunterkunft von Ikea. Bild: Better Shelter

Ikeas
mit Solarenergie betriebene Flüchtlingshütten wurden zu Recht vom Londoner Design Museum mit dem Beazley-Preis für das Design des Jahres 2016 ausgezeichnet, meint Oliver Wainwright im Guardian: "With years of expertise in squeezing complex items of furniture into the smallest self-assembly package possible, Ikea has come up with a robust 17.5 sq m shelter that fits inside two boxes and can be assembled by four people in just four hours, following the familiar picture-based instructions - substituting the ubiquitous allen key for a hammer, with no extra tools necessary. ... 'If you compare life in the tents and life in these shelters, it's a thousand times better,' Saffa, 34, told UNHCR, the UN's refugee agency. 'The tents are like a piece of clothing and they would always move. We lived without any privacy. It was so difficult.'"

Weitere Artikel: In der SZ zeigt Gerhard Matzig Räume der Macht.
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Bühne

"Endlich! Diese Auszeichnung war fällig", freut sich im Tagesspiegel Rüdiger Schaper über die Auszeichnung Herbert Fritschs mit dem Theaterpreis Berlin 2017.

Besprochen werden Nicolas Charaux' Inszenierung von Kafkas "Schloss" am Münchner Volkstheater (nachtkritik), Colin Higgins' Klassiker "Harold und Maude" in den Wiener Kammerspielen mit der gerade 90 gewordenen Erni Mangold als Maude (Standard), Herbert Fritschs Inszenierung von Shakespeares "Komödie der Irrungen" am Burgtheater (nachtkritik), Lukas Holzhausens Inszenierung von Martin McDonaghs Stück "Hangmen (Die Henker)" am Volkstheater Wien (nachtkritik) und ein Feydeau-Abend am Théâtre de l'Odéon in Paris (die Franzosen können noch richtig lachen im Theater, stellt FAZ-Kritiker Simon Strauss fest, der Mühe hat, den deutschen "alt-ernsten moralischen Anstaltsaufseher" in sich zu vergessen).
Archiv: Bühne

Literatur

Mit "4321" legt Paul Auster pünktlich zu seinem 70. Geburtstag am 3. Februar seinen ersten Roman seit dem vor sieben Jahren erschienen "Sunset Park" vor. Und mit über tausend Seiten ist die vierfach erzählte und vierfach unterschiedliche Biografie eines gewissen Archibald Ferguson in den USA der 50er und sechziger Jahre das bis dato umfangreichste Werk des amerikanischen Schriftstellers geworden. Für die Literarische Welt hat Thomas David ein herrlich umfangreiches Interview geführt. Unweigerlich kommen die beiden auch auf Trump zu sprechen, für den der Autor nichts als Verachtung übrig hat: "Es ist eine Katastrophe, dass ein derartiger Idiot Präsident wird, dass ein derart gefährlicher Mensch Präsident wird, dass ein derart ignoranter Mensch Präsident wird. ... [Er und sein Kabinett werden] die amerikanische Gesellschaft demontieren, und wenn es so weitergeht, werden die USA zerfallen, ein zerbrochenes, gescheitertes Land sein, und das Experiment der 'Vereinigten Staaten' ist am Ende."

Im Tagesspiegel bespricht Peter von Becker Austers neuen Roman eingehend: Nichts weniger als ein brillantes Spätwerk sei hier geglückt. "Dieses Buch ist ein wuchtiger Entwurf - gegen die neue populistische Einfalt, die mit dem Schlagwort der 'Identitären' die Vielfalt und Widersprüche des Individuums und der Gesellschaft mit wachsender Gewalt negieren und nivellieren will."

Anderer Schwerpunkt heute: Sowohl FAZ als auch SZ und FR besprechen Hanya Yanagiharas großen Roman "Ein wenig Leben" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)-

Die von Jung und Jung verantwortete, derzeit im Erscheinen begriffene Gesamtausgabe Robert Musil hält NZZ-Kritiker Franz Haas insbesondere wegen des begleitenden Digitalkompendiums für reizvoll: Auf musilonline.at werde Schritt für Schritt der gesamte Musil samt weiterführenden Anmerkungen und einem Diskussionsform zugänglich. Aufbereitung und Präsentation überzeugen den Kritiker: "Diese Parallelaktion von Buchdruck und Internet ist ein Quantensprung in der Textedition, denn im Vergleich zur schwerfälligen DVD-Ausgabe ist die Online-Version von zauberhafter Agilität. Bereits jetzt kann man dort den 'Lesetext' der ersten beiden Bände des Romans 'Der Mann ohne Eigenschaften' finden, sowie Kommentare zu den Varianten früherer Editionen und Faksimiles der gesamten Erstausgabe von 1930. Diese sind von so bildschöner Qualität, dass sie sogar auf einem Smartphone zu lesen sind. Und auf einem guten Monitor meint man beinahe, das edle Original zu riechen und zu ertasten."

Weiteres: Gregor Dotzauer liest für den Tagesspiegel die neue Ausgabe der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter, die sich mit der Frage nach der Identität von ost- und westdeutscher Literatur befasst. Für die FAZ porträtiert Melanie Mühl die auf der Plattform Lovely Books mit weit über 1000 Rezensionen äußerst fleißige Leserin Nadine Schomakers.

Besprochen werden Slavenka Drakulićs "Dora und der Minotaurus" (NZZ), Hamid Sulaimans Comic "Freedom Hospital" (taz) und Rafael Chirbes' "Paris-Austerlitz" (taz).
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Film


"The Salesman" von Asghar Farhadi.

Im Filmdienst schreibt Stefan Volk über die Filme des iranischen Filmemachers Asghar Farhadi, dessen neuer Film "The Salesman" kommenden Donnerstag in den Kinos startet. Die Wirkungsweise von Farhadis Filmen beschreibt er eingangs so: "Etwas ist passiert. Was genau, wissen wir nicht. 'Wir', das sind die Zuschauer von Asghar Farhadis Filmen, die ihre Sogwirkung entfalten, indem sie dunkle Geheimnisse umkreisen wie Schwarze Löcher. Der Hang zum Rätselhaften, Unausgesprochenen verbindet Farhadi mit anderen im Westen populären iranischen Filmemachern wie Rafi Pitts oder Mani Haghighi (mit dem Farhadi mehrfach zusammenarbeitete), weniger mit Jafar Panahi. Das indirekt sich anschleichende Erzählen reflektiert womöglich ein subversives Narrativ im Umgang mit Tabus und Zensur." Sein neuesten Film hält er allerdings für weniger gelungen. Dem kann sich auch Christopher de Bellaigue in der New York Review of Books anschließen: "'The Salesman' (...) hat überraschende Schwächen."

Für die FAZ hat sich Gerhard Gnauck Andrzej Wajdas postum veröffentlichten "Nachbilder" über den Maler Władysław Strzemiński angesehen. Einmal mehr gehe es in diesem Film des Regisseurs um "das Verhalten des Einzelnen im Angesicht des übermächtigen Staatsapparats und der totalitären Ideologie ... Im Land [wird er] jetzt auch mit aktuellen Gefahren für die Meinungs- und Kunstfreiheit in Zusammenhang gestellt."

Weiteres: Im Standard spricht Michael Pekler mit Natalie Portman über deren neuen Film "Jackie" (unsere Kritik). Für die Welt hat Uwe Schmitt sich Mexiko-Darstellungen in jüngeren Filmen, Serien und Romanen angesehen. Und zwei traurige Nachrichten: John Hurt ist gestorben, meldet unter anderem die FAZ. Der Guardian bringt einen ersten Nachruf. Und auch die Schauspielerin Emmanuelle Riva, die in Michael Hanekes "Liebe" mitgespielt hat, ist gestorben, meldet Le Monde.

Hier sieht man sie noch einmal in Alain Resnais' Film "Hiroshima mon amour" von 1959:




Besprochen werden die DVD-Veröffentlichung von Joseph L. Mankiewiczs "Ein Gespenst auf Freiersfüßen" (Filmgazette) und die neue Staffel der "Gilmore Girls" (Jungle World).
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Musik

Für den Tagesanzeiger spricht Susanne Kübler mit der 19jährigen Negin Khpalwak, die aus Eigeninitiative das afghanische Women's Orchestra Zohra gegründet hat und selber dirigiert. Unter anderem geht es in dem Gespräch auch um die enormen Widerstände, gegen die Khpalwak ankämpfen musste: Während ihr progressiver Vater sie nach Kräften unterstützte, ist sie bei ihren weiteren Verwandten in Ungnade gefallen. Nach Übergriffen ist sie mit ihrer Familie nach Kabul gezogen: "Als ich einmal in den Ferien nach Hause kam, haben mich die Onkel festgehalten. Sie ließen mich nicht mehr zur Schule gehen, sechs Monate lang. Sie sagten, ich sei eine Schande für die Familie. ... Meine Onkel sagen, sie bringen mich um, wenn sie mich sehen. Auch von Fremden werde ich beschimpft, wenn ich mit einem Instrument unterwegs bin. Ich weiß, dass ich gefährlich lebe. Und ich fühle mich wirklich nicht wohl, wenn ich auf dem Heimweg bin."

Hier das Konzert in Davos, das vor wenigen Tagen stattgefunden hat:



Weiteres: Elisabeth Richter unterhält sich in der NZZ mit der Komponistin Sofia Gubaidulina über deren tiefreligiöses Verständnis ihrer Arbeit. Für den Guardian porträtiert Saeed Kamali Dehghan den iranischen Musiker Mohsen Namjoo, der wegen seiner kritischen Haltung gegenüber dem Regime in seinem Heimatland und weil er es gewagt hatte, Teile des Korans musikalisch zu unterlegen, im Exil lebt. Elmar Krekeler war für die Welt bei Iveta Apkalnas Einweihungskonzert der Orgel in der Elbphilharmonie. Für die taz spricht Jan Paersch mit Daniela Reis und Fritzi Ernst von Schnipo Schranke über deren neues, auf ZeitOnline von Jan Kedves besprochenes Album "Rare". Im Guardian schreibt Barry Millington zum Tod des Pianisten Anthony Goldstone.

Besprochen werden ein von John Adams dirigiertes Konzert der Orchesterakademie der Berliner Philharmoniker (Tagesspiegel, Berliner Zeitung), Loyle Carners Brithop-Album "Yesterday's Gone" (Welt), die Ausstellung "Critical Constellations of the Audio-Machine in Mexiko", die im Rahmen der Club Transmediale in Berlin zu sehen ist (taz), Cloud Nothings' "Life Without Sound" (Spex), das neue Album des Austro-Sleazepoppers Mick Harvey (Standard) sowie ein Konzert von Kreator (Berliner Zeitung) und deren neues Album (Welt).

Außerdem meldet die Spex, dass Missy Elliott ein neues Video veröffentlicht hat:

Archiv: Musik