Efeu - Die Kulturrundschau

Jene edle Fäulnis

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29.09.2016. In der nachtkritik ruft Guillaume Paoli zur Gründung einer "wahren Volksbühne" auf. Die Ware Volksbühne will er Chris Dercon überlassen. SZ und NZZ denken über Wohnraum nach - in der Banlieue und in der Innenstadt. Ian McEwan und Julian Barnes langweilen sich mit kontinentaleuropäischer Literatur. Die NZZ besucht Steuerparadiese in Winterthur. In der FAZ plädiert die libanesische Band Mashrou' Leila für eine Diskussion über die toxische Maskulinität in Beirut. Viel Lob für Francois Ozons neuen Film "Frantz".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.09.2016 finden Sie hier

Kunst


Ein Gast genießt den Swimming Pool im 57. Stockwerk des Marina Bay Sands Hotel, mit der Silhouette des "Central", des Finanzviertels von Singapur, hinter ihm. © Paolo Woods und Gabriele Galimberti, Singapur, 2015

Maria Becker besucht für die NZZ im Coalmine Forum für Dokumentarfotografie Winterthur eine Fotoausstellung von Paolo Woods & Gabriele Galimberti, die Steuerparadiese fotografiert haben. Sehr informativ findet sie, zumal die Fotos mit Texten versehen sind: "In den sogenannten Steueroasen ... werden - so Galimberti und Woods - weltweit bis zu 32 Billionen Dollar gehortet. Große Firmen wie Zara, Timberland, Starbucks, IKEA, Apple, Facebook und Amazon schleusen ihre Gewinne an den Steuerbehörden vorbei, während immer mehr lokale Unternehmen und ganze Staaten bankrott gehen. 'Steuerparadiese sind nicht ein Aspekt der globalen Ökonomie, sie sind deren Herzstück', sagen die Fotografen. Das dürfte nicht übertrieben sein."

Im Aby-Warburg-Jubiläumsjahr bietet sich im ZKM Karlsruhe die Möglichkeit, eine Rekonstruktion des legendären Bilderatlasses des Kunsthistorikers zu besichtigen, freut sich Moritz Scheper im Freitag: "In Collagen stellen die einzelnen Werke untereinander Bezüge her, wie es sprachlich niemals zu leisten wäre. Keine Linearität, stattdessen entsteht eine netzartige Ordnung, die nicht mit Sprache operiert, ohne logische Muster aufzugeben."

Weiteres: Die in diesem Jahr für den Turner Prize nominierten Kunstwerke "hinterfragen, jedes auf seine Weise, den Wert von Kunst in unserer schnelllebigen Gesellschaft", schreibt FAZ-Kritikerin Gina Thomas, die von den vier Werken doch nicht voll überzeugt ist: "Viele der Ideen [sind] geborgt", lautet ihr lakonisches Fazit. In der FAZ gratuliert Kolja Reichert Jeff Wall zum Siebzigsten.

Besprochen wird Douglas Couplands Ausstellung "Bit Rot" in der Münchner Villa Stuck (SZ).
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Bühne

Braucht es eine neue Volksbühnenbewegung nach der Art jener historischen Arbeiterbewegung, die ab 1890 für eine Volksbühne in Berlin gestritten hat? Aber unbedingt, schreibt Guillaume Paoli in Gallischer-Dorf-Manier in einem von der Nachtkritik dokumentierten Plädoyer. Eine Verewigung der Castorf'schen Intendanz strebe man nicht an, wohl aber fordere man "eine Übergangszeit, um in Ruhe eine breite Diskussion über die Funktion des Hauses und die kulturellen Bedürfnisse der Stadtbewohner zu entfachen. ... Ein Neustart ist notwendig. Dieser darf aber nicht hinter verschlossenen Türen bestimmt werden. Die Volksbühne entstand aus einem demokratischen Verlangen. Sie kann nur fortbestehen, in dem sie dieses Verlangen bewahrt. Sollte jedoch Chris Dercon die Intendanz übernehmen, würde die Bewegung nicht zögern, alles von vorne zu beginnen. Unter dem Namen Die wahre Volksbühne wird sie dann Abende in eigener Regie veranstalten, die den Hausgeist weiter geistern lassen werden. Wie im ersten Vierteljahrhundert ihres Bestehens würde die Bewegung von einem sympathisierenden Ort zum anderen wandern. Die Stadtbewohner hätten dann die Wahl, in die Ware volksbühne oder in die wahre Volksbühne zu gehen. Das wäre ein Beitrag zur kulturellen Vielfalt." Passend dazu bekundet der an der Volksbühne engagierte Vortragskünstler Jürgen Kuttner im Gespräch mit der Berliner Zeitung gegenüber Ulrich Seidler, dass auch er nichts vom Intendantenwechsel halte.

Weiteres: Martin Lhotzky berichtet in der FAZ vom Saisonauftakt der Wiener Häuser: Martin Laberenz' Goethe-Inszenierung "Torquato Tasso" am Burgtheater "verlässt [der Kritiker] sehr gern noch vor dem Abklingen des Schlussapplauses", wohingegen er am Akademietheater mit Carolin Pienkos Inszenierung von "Coriolan" einen "logisch stringenten,, kühl berechnenden und berechneten Abend dieser späten Shakespeare-Tragödie" erlebt hat. Laberenz hat das Stück witzig verpackt, nur dringen die Worte nicht richtig durch, bedauert Andreas Rosenfelder in der Welt.

Besprochen werden ein "fliegender Holländer" in Halle (Tagesspiegel) und die aktuelle "Così fan tutte"-Inszenierung an der Deutschen Oper in Berlin (FAZ, mehr dazu hier).
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Film



Ringsum Begeisterung bei der Filmkritik über "Frantz", Francois Ozons Remake von Ernst Lubitschs "Broken Lullaby" aus dem Jahr 1932, in dem der Regisseur von einer deutsch-französischen Liebesgeschichte im unmittelbaren Anschluss an den Ersten Weltkrieg erzählt. Janis El-Bira sah einen "als Melodram mit sorgfältig gedrosselter Expressivität" choreografierten "Totentanz", wie er im Perlentaucher schreibt: "Der Umgang mit jener edlen Fäulnis, die man nicht Lüge schimpfen möchte, ist wahrscheinlich das Schönste an diesem schönen, sehr eleganten Film." Michael Kienzl von critic.de beobachtet ein "kunstvolles Vexierspiel voller gleitender Identitäten" und ist an dessen Ende überzeugt, dass es "Schlimmeres als ein schematisches Begehren [gibt]. Zum Beispiel das schmerzhafte Schema, jeden Tag neue Blumen auf ein Grab zu legen." Und Tazlerin Barbara Schweizerhof ist glücklich, dass hier endlich mal wieder ein Film all jene Lügen straft, die behaupten, dass Fernsehserien heute das bessere Kino seien. Weitere Besprechungen im Sissy Mag und im Tagesspiegel.

Weiteres: Isabella Reicher schreibt im Freitag über die Abspannmusik von Erfolgsserien. In der NZZ berichtet Urs Bühler über den Dokfilm-Wettbewerb beim Zurich Film Festival. Geri Krebs besucht die Filmemacherin Dominique Margot, deren neuer Dokumentarfilm "Looking Like My Mother" gerade anläuft.

Besprochen werden Jan Gassmanns Dokumentarfilm "Europe, She Loves" über vier Liebespaare in Tallinn, Sevilla, Dublin und Thessaloniki (NZZ), der Thriller "The Infiltrator" mit Bryan "Walter White" Cranston (SZ, critic.de), Jan Gassmanns "Europe, She Loves" (critic.de), der neue Pixar-Film "Findet Dorie" (critic.de, taz, Tagesspiegel) und die neue HBO-Serie "Westworld", die ab Sonntag ausgestahlt wird (FAZ).
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Architektur

Für die SZ-Reihe über europäische öffentlichte Plätze gruselt sich Alex Rühle in der Pariser Trabantensiedlung "La Grande Borne", die 1971 eingeweiht, lange als sozial aufblühendes Experiment galt, aber mittlerweile einer der gefährlichsten sozialen Brennpunkte des Landes ist: "Einen der Gründe für den Niedergang kann man von der Place du Damier aus zwar nicht sehen, aber hören: Da ist die ganze Zeit ein leises Rauschen. La Grande Borne wird von zwei Autobahnen und einer Nationalstraße eingefasst. Das Viertel war von Anfang an abgeriegelt vom Rest der Welt. Und es bestand ausnahmslos aus Sozialwohnungen. Heute kann man sich nur wundern über so viel planerische Naivität, bisschen Rasen, bisschen Plätze, bisschen mythologische Namen, dann wird das schon."

In den Innenstädten hat man andere Probleme, meint Jürgen Tietz, der in der NZZ überlegt, wie moderner Wohnraum heute gebaut werden könnte. Immer heißt es, die Altbauten seien doch die schönsten. Wenn die Ansprüche nur nicht so gestiegen wären! "In einem Moment der Ehrlichkeit gestehen wir uns vielleicht ein, dass wir die großzügigen Wohnungen der Gründerzeit des 19. Jahrhunderts mit ihren stuckverzierten Decken vor allem deshalb so lieben, weil heute nicht mehr in jedem Zimmer eine ganze Familie unterkommen muss. ... Unsere Ansprüche sind gewachsen und mit ihnen der Hunger auf Raum. Die Antworten darauf sind gebaute 'Klumpen' mit tiefen Wohnungsgrundrissen, kostenintensive Ersatzneubauten anstelle alter Siedlungen mit niedrigen Mietzinsen oder neue Wohnhochhäuser, die für Anwohner eine dramatische Veränderung der städtischen Identitäten mit sich bringen."

Weiteres: Gabriele Detterer breitet zuhause die Gratispublikationen von der Architekturbiennale in Venedig aus. Ein bisschen seekrank noch, aber total beeindruckt präsentiert Dezeen das neue Hafengebäufen von Antwerpen, das Zaha Hadids Büro gerade fertig gestellt hat. Mit Bildern von Hélène Binet.
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Literatur

Lukas Latz rettet im Freitag das Feuilletongenre des Autorenporträts vor dessen Verächtlichmachung durch Jürgen Kaube kürzlich in der FAZ: "Im Reden und Schreiben über Literatur gibt es für mich kaum Aufregenderes als den schnöden Werkstattbericht. Die Auskunft darüber, wie Autoren arbeiten, wie sie recherchieren, wie sie am Satz, am einzelnen Wort tüfteln. ... Wenn wir die gesellschaftliche Brisanz eines Romans ernst nehmen wollen, sollten wir mit Autoren über ihre Biografie, ihre politischen Positionen sprechen. Eigentlich über alles."

Zeit-Redakteur Peter Kümmel hat Ian McEwan und Julian Barnes in Schloss Elmau zum Gespräch getroffen. Es ist drei Seiten lang - sie reden über ihre Kindheit, nicht über den Brexit, so gut wie gar nicht über Trump (und somit ist es fast der einzige fast Trump-freie Artikel in der Wochenzeitung), dafür aber über ihre literarischen Vorlieben (Updikes "Rabbit"-Romane). Die deutsche Literatur und ein Großteil der kontinentaleuropäischen gehören für McEwan jedenfalls nicht dazu: "Es gibt da so eine Form fader europäischer Literatur, die vom Schatten der Moderne verdüstert ist, ohne je an die Gipfel der Moderne - Proust oder Joyce - herangereicht zu haben. Sie wird von Protagonisten beherrscht, welche an keinem bestimmten Ort, ohne eine bestimmte Biografie, ohne spezifische Ziele und sogar ohne einen eigenen Namen vor sich hinleben und in Hotels einchecken, die keinen Namen haben und auf einen Telefonanruf warten von jemandem, der auch keinen Namen hat. Diese Figuren bringen sehr viel Zeit damit, an die Wand zu starren."

Außerdem: Hoo Nam Seelmann unterhält sich für die NZZ mit der südkoreanischen Autorin Han Kang über deren Roman "Die Vegetarierin", der mit dem Man Booker International Prize ausgezeichnet wurde.

Besprochen werden Bodo Kirchhoffs Novelle "Widerfahrnis" (NZZ), David Vanns Roman "Aquarium" (NZZ), Thomas Melles "Die Welt im Rücken" (Merkur-Blog), John le Carrés Autobiografie "Der Taubentunnel" (Freitag, hier unsere Besprechung), Gisela von Wysockis Adorno-Roman "Wiesengrund" (Freitag), Zora del Buonos "Hinter Büschen, an eine Hauswand gelehnt" (Freitag), Ernst-Wilhelm Händlers "München" (Tagesspiegel), Françoise Frenkels "Nichts, um sein Haupt zu betten" (SZ) und Sylvie Schenks "Schnell, Dein Leben" (FAZ).

Mehr aus dem literarischen Leben auf:

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Musik

Für die FAZ spricht Danijel Benjamin Cubelic mit der libanesischen Band Mashrou' Leila, die sich mit ihrem Dance Pop sehr progressiv positionieren. Unter anderem fordern sie unter den Eindrücken toxischer Maskulinität in Beirut "eine breitangelegte Diskussion zu Geschlecht, Sexualität und Patriarchat - und seinen Verbindungen zu Kapital, Klasse, Ethnizität, Alter, (Nicht-)Behinderung und anderen sozialen Fragen. Vielleicht ist es ein wenig optimistisch, aber gerade jetzt gäbe es die Möglichkeit, über globale Formen sozialer und politischer Ungerechtigkeit zu sprechen."

Außerdem: Die Klezmer-Szene ist alive and kickin, informiert Christoph Wagner in der NZZ und nennt Beispiele aus Amerika, Kuba und England. Und Moritz Weber stellt den neuen Musikdirektor des Zürcher Kammerorchesters vor, den Geiger Daniel Hope. Jürgen Ziemer stellt im Freitag das Schwabinggrad Ballett vor, das gerade sein zweites Album veröffentlicht hat. Und Michael Jaeger resümiert das Musikfest Berlin. Auf The Quietus kommentiert der Folkmusiker Devendra Banhart seine Lieblingsalben.

Besprochen werden ein Konzert mit Ian Bostridge am Musikkollegium Winterthur (NZZ), neue Alben von den Pixies (FR), Devendra Banhart (Tagesspiegel), Banks (Spex) sowie Konzerte von Björk (The Quietus) und Terry Riley (taz, SZ) und daneben noch Susanne Meures' Kinodokumentarfilm "Raving Iran" (SZ) und Lutz Gregors Dokumentarfilm "Mali Blues" (taz).
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