Efeu - Die Kulturrundschau

Diese Verachtung

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.04.2023. Die SZ badet in Madrid im Licht der impressionistischen Gemälde Joaquín Sorollas. Die Zeit wundert sich nicht, dass ausgerechnet Palantir eine Kunstausstellung sponsort: Das passt, findet sie. Die Filmkritiker lieben immer noch Christian Petzolds "Roter Himmel". Die Literaturkritiker haben an einem Tag Benjamin von Stuckrad-Barres Springer-Schlüsselroman "Noch wach?" gelesen und besprochen: Wenn man im eigenen Saft kochen kann, geht das ganz leicht. Die SZ annonciert ihn als Roman einer radikalen Entfreundung, es ist ein Fall enttäuschter Liebe, diagnostiziert der Tagesspiegel, die FAZ fragt: fiktional, im Ernst?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.04.2023 finden Sie hier

Kunst

Idilio, Jávea, Alicante, 1900. Foto:Palacio Real de Madrid.

SZ-Kritikerin Karin Janker badet im Licht der impressionistischen Gemälde Joaquín Sorollas, die der Palacio Real in Madrid in der Ausstellung "Sorolla a través de la luz" zeigt. Zu Unrecht galt der Maler lange Zeit als "oberflächlich", stellt sie fest, denn die Darstellung von Licht in all seinen Formen, der der Maler sich Zeit seines Lebens widmete, hat bei ihm eine tiefere Bedeutung: "Sorollas Malerei vertritt eine leicht als Oberflächlichkeit missverstandene phänomenologische Sicht auf die Welt. Für ihn ist die Oberfläche die Wahrheit. Der Madrider Ausstellungstitel 'A través de la luz' ist daher so passend wie schwer zu übersetzen: Er bedeutet 'durch das Licht hindurch', aber auch dank des Lichts oder 'mit Hilfe des Lichts'." Ganz hingerissen ist Janker auch von der Ausstellungsinszenierung "im Stile der Laterne Magica", mit der der Königspalast Sorollas Bilder zum Leben erweckt: "Der Effekt auf den Betrachter ist der einer Verzauberung: Staunend wie ein Kind steht man inmitten des Raumes und dreht sich, während um einen herum die Bilder ins Tanzen geraten. Ist das naiv? Spektakelhaft? Nicht, wenn man begreift, dass es Sorolla nicht um das Stillstellen von Licht ging, sondern genau ums Gegenteil: um die Erkenntnis, dass die Welt, die uns umgibt, nichts ist als Licht."

In der Zeit fragt sich Hanno Rauterberg, was es zu bedeuten hat, dass ausgerechnet das "geheimnisumwitterte" Datenanalyseunternehmen Palantir zum Hauptsponsor der aufwendigen Digitalkunstausstellung "Dimensions" in den Pittlerwerken Leipzig wurde. CEO Alexander Karps preist in seinem neuen Buch das aufklärerische Potenzial von Kunst, das er ausgerechnet in ihrer Ambiguität verortet sieht, als "Gegengift einer totalitären, weil total ausrechenbaren Digitalwelt", lesen wir. Ist das "nur seltsam", rätselt Rautenberg, oder "eine spezielle Form von Selbstangst? ... Ein Unternehmen wie Palantir, von dem Versprechen lebend, es könne alles und jeden durchschauen, preist am Ende das Undurchschaute, Ambivalente, den künstlerischen Kontrollverlust. Und überhaupt die Idee einer disruptiven Avantgarde. Während sich also andere, politisch konstruktive Teile der Kunstszene gerade um klare Botschaften bemühen und sich allzu große Ambiguität verbitten, weil Ambiguität nur Missverständnisse schüre, hat der gute alte erlösende Kunstglaube wieder eine Heimat gefunden. In Leipzig, in einer Fabrikruine. Unter der Schirmherrschaft einer neuen Macht."

Maria Magdalena in Ekstase: Artemisia Gentillesci. Collezione Gastaldie Rotelli. Foto: Diego Brambilla. 

Taz
-Kritikerin Doris Akrap hat sich im Diözesanmuseum in Freising die Ausstellung "Verdammte Lust. Kirche.Körper. Kunst" angesehen, in der sich die katholische Kirche mit der jahrhundertelangen Tabuisierung von Körper und Sexualität in der religiösen Kunst auseinandersetzt. Man kann natürlich sagen, dass sich die Verantwortlichen lieber mit der Aufklärung der Missbrauchsfälle beschäftigen sollten, so die Kritikerin, aber "die aktuelle Ausstellung muss dennoch mit ihrer Ausrichtung und an diesem Ort als revolutionär gelten. Denn in erster Linie wird hier gezeigt, wie die Kirche über Jahrhunderte lang selbst daran gearbeitet hat, ihre Monster zu erschaffen. Wie sie Geschlechterbilder transportiert hat, die dazu führten, dass die Institution Kirche heute als quasi unreformierbar gilt."

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Өмә" des Fata Collective in der Berliner NGbK im Kunstraum Kreuzberg (FAZ), die Ausstellung "Texte und Töne" mit Werken von Käthe Kruse in der Galerie Zwinger (taz), die Ausstellung "Macht, Raum, Gewalt" in der Berliner Akademie der Künste (tsp), die Video-Installation "The Visitors" von Ragnar Kjartansson im Migros Museum Zürich (monopol) und Liam Gillicks Rauminstallation "Filtered Time" im Pergamonmuseum Berlin (monopol).
Archiv: Kunst

Architektur

Im Interview mit der Zeit spricht Architekt Jacques Herzog über die Zukunft des Bauens. Und er erklärt, warum er und sein Kollege das Berliner Museum der Moderne umgeplant haben. Dies werde nicht nur den Energieverbrauch des Gebäudes wesentlich senken, verspricht er, sondern das Museum auch schöner machen: "Statt der Tore gibt es jetzt eine Raumsequenz, die totale, fast boulevardhafte Durchwegung des Gebäudes ist verschwunden, doch man kann immer noch hindurchgehen. Wir haben die Zugänglichkeit des Gebäudes viel niederschwelliger gestaltet. Die Tore waren natürlich toll, um durch die Betonung der Öffnung eine einladende Geste auszudrücken. Die Tore machten aber nur Sinn mit deren elektronischer Bespielung mit Bildern, und die war nicht mehr gewünscht. Eine solche Entscheidung führt notwendigerweise dazu, dass man Änderungen vornimmt, damit wieder etwas Kohärentes entsteht. Wir haben die Eingänge nun viel tiefer und breiter gestaltet. Das ergibt beinahe die Form eines Panoramas und hat einen Effekt, den man im Schweizerischen 'gwundrig' nennen würde."

Außerdem: Gleich zweimal wird im Tagesspiegel die Ausstellung zur NS-Architektur "Macht Raum Gewalt" in der Berliner Akademie der Künste besprochen (hier und hier).
Archiv: Architektur

Bühne

Besprochen werden Tom Kühnels und Jürgen Kuttners Musical "Forever Ying, forever Yang" mit Liedern von Funny van Dannen am Deutschen Theater Berlin (FAZ) und Bridget Breiners Ballett-Inszenierung von Schillers "Maria Stuart" am Staatstheater Karlsruhe (SZ).
Archiv: Bühne

Film

Bemüht sich, krumm in der Landschaft herumzustehen: Thomas Schubert in "Roter Himmel"

Die Begeisterung der Filmkritiker für Christian Petzolds "Roter Himmel" (unser erstes Resümee) hält an: Die Sommerkomödie über einen für die Kunst leidenden Nörgler von einem Schriftsteller, während rings um ihn herum die Menschen den Urlaub genießen, überzeugt Barbara Schweizerhof von der taz: "Thomas Schubert bringt das Unbehagen von Leon großartig zum Ausdruck. Nicht nur in der Mimik, dem immer etwas gequälten Gesichtsausdruck, der zu sagen scheint: 'Ich bemühe mich doch!', sondern in der ganzen Körpersprache, dem stets etwas krummen Herumstehen in der Landschaft. ... Dabei dosiert Schubert sein Abbild von Miesepetrigkeit so präzis, dass er doch nie ganz zur Witzfigur wird." FR-Kritiker Daniel Kothenschulte stellt fest: "In einer Atmosphäre flirrender Sinnlichkeit gibt Petzold der Sprache, diesem angeblich unfilmischen Mittel, ein ungewöhnliches Gewicht." Welt-Kritiker Hanns-Georg Rodek sah einen "Film der einseitigen, der unverbindlichen, der verdeckten Beziehungen und von daher ziemlich Rohmer - aber Petzold wäre nicht der Deutsche, der er eben auch ist, wüchse aus dem Unverbindlichen nicht das Bedrohliche." Perlentaucher Patrick Holzapfel erlebte bei der Berlinale-Premiere eine Befreiung des Regisseurs "von den großen Auteurgesten": Petzold wendet sich hin "zur reinen, ausgestellt naiven Freude am Kino".

Weitere Artikel: Katharina Rustler porträtiert im Standard die Schauspielerin Thea Ehre, die bessere Bedingungen für Transmenschen in der Branche fordert. Netflix hört auf - allerdings nur mit dem DVD-Versand, mit dem das Unternehmen einst am Markt in Erscheinung getreten ist und den es bisher auch tatsächlich nicht aufgegeben hatte, melden Christian Meier (Welt) und David Steinitz (SZ). Das Kino würdigt derzeit mit Vorliebe nostalgisch aufgeladenes Plastikspielzeug, seufzt Pascal Blum im Tagesanzeiger. In der FAZ gratuliert Michael Hanfeld dem Schauspieler Claus Theo Gärtner zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden May Spils' derzeit im Streamingprogramm der Deutschen Kinemathek gezeigtes Debüt "Das Portrait" von 1966 (Perlentaucher), Sam Mendes' Melodram "Empire of Light" (Tsp, FAZ, SZ), Brandon Cronenbergs Science-Fiction-Horrorfilm "Infinity Pool" (ZeitOnline, SZ), die letzte Staffel der HBO-Serie "Succession" (Jungle World, TA), Tarik Salehs "Die Kairo-Verschwörung" (Standard), die Münchner Ausstellung über 100 Jahre Disney (FR), die DVD-Ausgabe von Mary Nighys "Alice, Darling" (taz), Kyle Marvins "Brady's Ladies" (FR) und die auf Sky gezeigte Serie "A Town Called Malice" (FAZ). Außerdem verrät uns die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Musik

Anja-Rosa Thöming (FAZ) und Michael Stallknecht (NZZ) gratulieren John Eliot Gardiner zum 80. Geburtstag. Besprochen werden das neue Feist-Album (Presse), ein Berliner Beethoven-Konzert der Pianistin Mitusko Uchida (Tsp), ein Solistenkonzert des Tenorstars Piotr Beczala an der Wiener Staatsoper (Standard), das neue Album von Everything But The Girl (SZ) und das Alben "Perlen" der Synthpopgruppe Blond (ZeitOnline).

Archiv: Musik

Literatur

Gestern erschien Benjamin von Stuckrad-Barres neuer Roman "Noch wach?". Dem Vernehmen nach gab es keine Vorab-Exemplare - vielleicht auch aus Sorge vor einstweiligen Verfügungen, denn von langer Hand angekündigt war eine Abrechnung im Allgemeinen mit dem Springer-Verlag, für den der Autor selbst lange Zeit (und Gerüchten zufolge für ein auf Döpfners Geheiß atemberaubend hohes Gehalt) tätig war, und im Besonderen mit Mathias Döpfner und Julian Reichelt. Die Kritiker waren gestern fleißig - die Blätter sind voll mit Besprechungen und Kommentaren. Zwar geht es in dem Buch um einen Fernsehsender und einen großkotzigen Chefredakteur, dessen Verhältnis zu Frauen schäbigster Art ist, sowie um einen Ich-Erzähler, dem in Los Angeles nicht Maria, sondern Rose McGowan, die #MeToo losgetreten hat, erscheint und auf eine Mission schickt. Aber das ist eine leicht durchschaubare Verfremdung, schreibt Michael Hanfeld in der FAZ begeistert von diesem "Sittengemälde", das "gewissermaßen die Quersumme der Presseartikel ist, die über Springer in den vergangenen beiden Jahren erschienen sind. Da hat jemand all die Zeit ganz genau Buch geführt, sich Notizen gemacht, und jetzt packt er aus. Ross und Reiter nennt er nicht, doch ist die Camouflage so gewollt dünn, dass die Zusicherung, die zu Beginn des Buches steht" - dies sei eine von realen Ereignissen unabhängige fiktionale Geschichte - "als miserable Pointe erscheint".

Was ist Fiktion, was Bericht, was Abrechnung - es ist unübersichtlich, kommentiert Gregor Dotzauer im Tagesspiegel. "Die Motivlage wird immerhin dadurch geadelt, dass es sich um einen Fall enttäuschter Liebe zu handeln scheint: Da hasst es sich auch in der Kunst besonders schön." Den Roman einer radikalen Entfreundung hat SZ-Kritikerin Marlene Knobloch gelesen. Zeit-Rezensent Volker Weidermann staunt: Ausgerechnet bei Stuckrad-Barre, der als Popliterat in den Neunzigern noch über alles witzelte, was ansatzweise Position bezog, ausgerechnet bei ihm also kommt nun etwas "Unbekanntes oder bestenfalls Verhöhntes hinzu: Moral. Mitgefühl. Verantwortung. ... Es ist ziemlich eindrucksvoll, wie es Stuckrad-Barre gelingt, die Mechanismen von Machtmissbrauch und Mitmachen im Turm psychologisch klug und nachvollziehbar darzustellen. Die Verzauberung der jungen Frauen am Anfang. Manche sind Praktikantinnen, andere Berufsanfängerinnen. Wie sie es genießen, von ihm, dem Allmächtigen im Turm, beachtet, in den Konferenzen in den Mittelpunkt gestellt zu werden. Der Neid der Kolleginnen. Seine zarte Freundlichkeit. Das Entsetzen, nachdem sie festgestellt haben, nur eine von vielen zu sein. Das Fallengelassenwerden. Die Einsamkeit dann, der Selbstekel, die Scham."

Laut Reichelts Rechtsanwalt waren sämtliche Beziehungen ja einvernehmlich. So sei auch im Compliance-Verfahren gegen Reichelt ausgesagt worden. Zumindest eine der Frauen hat im jüngst erschienenen "Boys Club"-Podcast eingeräumt, beim Verfahren wider besseren Wissens gelogen zu haben: Einvernehmlich sei da nichts gewesen, sie sei in einer Zwangslage gewesen. Im Spiegel-Gespräch mit Tobias Rapp meint Stuckrad-Barre dazu: "Es gibt eine ganz einfache Frage, mit der man die Luft herauslassen kann aus dieser vermeintlich entlastenden Behauptung der Einvernehmlichkeit: Da gibt es einen Chef und eine Angestellte. Sie fangen eine Affäre an. Aber ist es für beide gleichermaßen leicht, diese Beziehung zu beenden? Der eine entscheidet über die Vertragsverlängerung. Und die andere ist darauf angewiesen, dass ihr Vertrag verlängert wird." Marc Felix Serrao und Lucien Scherrer winken in der NZZ nach der Lektüre ab: "Chauvinisten und Weggucker gab es vor der #MeToo-Bewegung auch in anderen Verlagen."

Außerdem: Die NZZ spricht mit der Autorin Ayelet Gundar-Goshen über Rassismus und Sexismus in der Literatur und übergriffiges Verhalten von Sensitivity Readern, die das Kind auch mal mit dem Badewasser ausgießen: Entsprechende Hinweise habe sie bei ihren Büchern abgelehnt. "Man kann keinen guten Roman über Rassismus schreiben, wenn die Figuren nicht etwas Rassistisches in sich tragen." Besprochen werden Salman Rushdies "Victory City" (FAZ, FR, SZ), Martin Suters "Melody" (FR) und Tom McCarthys "Der Dreh von Inkarnation" (NZZ).
Archiv: Literatur