Efeu - Die Kulturrundschau

Weiterführung der Linien

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14.10.2022. Die FAZ taucht ein in Iris, Veilchen, Mohn, Chrysanthemen und Rosen und verliert sich schließlich im türkisfarbenen Himmel des Palazzo Massimo. Im Standard schießt Regisseur Ruben Östlund gegen das Arthouse-Kino. Der Filmfilter findet das gut so und freut sich, dass der Regisseur seine Figuren so richtig von Herzen fertigmacht. Grusel entsteht auf der Tonspur, lernt die taz in  Lucile Hadžihalilovics Horrorfilm "Earwig". Die SZ besucht einen Pavillon des Kommunisten Oscar Niemeyer auf einem Luxusweingut in der Provence.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.10.2022 finden Sie hier

Kunst

Villa di Livia at Prima Porta, frescos in the Triclinium, detail Palazzo Massimo


Wer dies gerade in Rom liest, sollte die Hufe schwingen, damit er um elf Uhr in den Aufzug zur obersten Etage des Palazzo Massimo steigen kann, "die ganz der fachkundigen Präsentation herrlicher Fresken und Mosaike gewidmet ist" und "eine der schönsten zusammenhängenden Gartenmalereien" beherbergt, empfiehlt Stefan Trinks in der FAZ: "ein üppig blühender Garten, der detailliert gezeichnet ist und - wenn Salvatore Settis, der große italienische Archäologe, richtig gezählt hat - 69 Vogel- und 23 Pflanzenarten lebensecht darstellt. Hier gedeihen Iris, Veilchen, Mohn, Chrysanthemen und Rosen; unter den Gehölzen beeindrucken Oleander, Myrten, Buchsbaum und Schneeball; und zahlreich sind die Bäume: Pinien, Steineichen, Dattelpalmen, Quitten, Granatäpfel und Zypressen. ... Der Blick des Betrachters wird durch Vögel, die im Flug munter umherschweifen, und Äste, die der Wind sanft beugt, gelenkt und verliert sich schließlich im türkisfarbenen Himmel. In diesem unterirdischen Gewölbe glaubte man ins Freie zu schauen: in einen Garten, in dem Blüten und Früchte allgegenwärtig sind."

Jakob Biazza war für die SZ bei der traditionellen Semestereröffnung der Hochschule für bildende Künste in Hamburg (HFBK), wo Präsident Martin Köttering versuchte, Studenten und Lehrkräften die Gastprofessoren Reza Afisina und Iswanto Hartono von Ruangrupa schmackhaft zu machen. Berufen worden waren sie schon vor der Documenta, jetzt gelte es, so Köttering, "Widersprüche und Dissonanzen auszuhalten und 'Räume für differenzierte Aussagen' zu schaffen. Darin liege 'die Qualität einer demokratischen Diskussionskultur'." Doch dann wollten Präsidium und Kollegium bei der Veranstaltung, die von Buhrufen begleitet war, doch lieber "schnell über ästhetische und Organisationskonzepte sprechen, über Kunsttheorie, über 'unhierarchische Horizontalität und Kollektivität, empathische Performativität und soziale Vernetzung'". Nun ja, war ja nur der erste Anlauf. Verteidigt wurden die Ruangrupa-Professoren übrigens von ihrer neuen Kollegin, der israelischen Professorin für soziales Design Gilly Karjevsky, berichtet Alexander Diehl in der taz: "Statt etwa vom 'Nahost-Konflikt' sprach sie wiederholt von der 'Besetzung Palästinas' als einem Thema, über das der globalen Nordwesten sehr uninformiert und voreingenommen diskutiere. Auch die beiden Ruangrupa-Mitglieder würden 'verfolgt', sagte Karjevsky, als 'angebliche Antisemiten'."

Weitere Artikel: Heute erscheint die 13. Künstlerausgabe der Welt, gestaltet von dem Maler Daniel Richter, der Boris Pofalla in seinem Atelier erzählt, wie seine politischen Collagen entstanden. In der FAZ berichtet Jürgen Kaube von einer anstehenden Entscheidung des Supreme Courts, der die Frage künstlerischer Aneignung neu entscheiden muss. Konkret geht es um ein Prince-Foto von Lynn Goldsmith, das Andy Warhol übermalt hat. Ist das Kunst oder unerlaubte Aneignung? Urteilen Sie selbst. Ebenfalls in der FAZ berichtet Andreas Kilb von einem Riesenmosaik des Trojanischen Krieges, das in Nordsyrien ausgegraben wurde: Es zeigt Achill, Herakles, Neptun und die Kämpfer der Griechen vor Troja. In der taz berichtet Harff-Peter Schönherr vom Urban-Art-Festival "famos" in Osnabrück.

Besprochen werden die Ausstellung "Wie geht es jetzt weiter? Zwölf Erzählungen aktueller Kunst aus Spanien" im Frankfurter Kunstverein (FR), die Ausstellung "Worin unsere Stärke besteht" von 50 in der DDR geborenen Künstlerinnen im Berliner Bethanien (BlZ), eine Ausstellung des fotografischen Werks von Lucia Moholy im Berliner Bröhan-Museum (Tsp) und eine Werkschau des englischen Bildhauers Antony Gormley im Lehmbruck-Museum in Duisburg (SZ).
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Bühne

In der nachtkritik diskutieren die Autorin und Regisseurin Anne Habermehl und Ilia Papatheodorou von der Gruppe She She Pop über Dramatik und Postdramatik.
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Film

Im Standard-Gespräch erklärt Cannes-Gewinner Ruben Östlund, warum er seine Superreichen-Groteske "Triangle of Sadness" (unsere Kritik) mit Kotzorgien und Mitteln des Slapsticks angereichert hat: "ich war es leid, europäisches Arthouse-Kino zu machen. Es ist zu einer Pose geworden, ein Genre wie die romantische Komödie. Ähnlich wie in der elitistischen Kunstwelt. Als ich mal vom Filmfestival Venedig nach Toronto geflogen bin, habe ich beobachtet, was die Filmleute konsumieren - sie haben nicht eigene Filme, sondern die von Adam Sandler angeschaut. Darauf wird geklickt. Ich wollte meine Themen auch in einem Umfeld platzieren, auf das wir gerne klicken. ... Mein Können soll sich dadurch bewähren, dass das Publikum sich anstecken lässt. Das ist besser als eine snobistische Filmkritiker-Runde, wo jeder nur daran denkt, was die Person an seiner Seite denkt." Bei Filmfilter-Kritiker Benjamin Moldenhauer kommt das sichtlich gut an: "Die Angehörigen der herrschenden Klasse rutschen in einer fürchterlichen Kotz- und Kackschlacht durch Erbrochenes und andere Ausscheidungen. Während der Kapitän und der Vertreter des postsowjetischen Kapitals sich sturzbesoffen Lenin- und Reagan-Zitate an den Knopf knallen. 'Triangle of Sadness' ist ein grober und lustiger Film. Die Aggression gegenüber seinen Figuren kommt von Herzen, in dieser Sequenz wie auch in vielen anderen." In der FR bespricht Daniel Kothenschulte den Film.

Als Lucile Hadžihalilovic Brian Catlings Weird-Fiction-Roman "Earwig" las, hatte sie "gleich Kafka vor Augen", verrät die Filmemacherin taz-Filmkritiker Thomas Abeltshauser. Ab morgen läuft ihre Verfilmung auf Mubi und Abeltshauser genießt das uneindeutige Werk über ein Mädchen in einem sonderbaren Haus sichtlich: Der Film erzählt "keine Geschichte eines Spukhauses, Hadžihalilović braucht auch keine Schockmomente, um Spannung zu erzeugen. Ihr Film lebt von Verrätselung, einer bedrohlichen Atmosphäre, deren Grund letztlich nicht greifbar ist. ... Das erinnert in seinem Mysterium und der flirrenden Entschleunigung an die klaustrophob-surrealen Welten David Lynchs, dann wieder an britische Gothic-Ästhetik." Aber "nicht nur die Bilder sind betörend, die Atmosphäre entsteht vor allem auch durch die Tonspur. Kino ist hierfür nonverbales Ausdrucksmittel, der Dialog ist nicht Träger von Information, sondern Teil der Soundtextur, wie die Geräusche und der von Warren Ellis produzierte Filmscore mit dem tranceartigen Leitmotiv."

Weitere Artikel: Fabian Tietke empfiehlt im Tagesspiegel die im Berliner Kino Arsenal gezeigte Filmreihe über die Schauspielerin Ellen Richter, die in der Weimarer Republik wegen ihrer Komödien "ungemein beliebt" war, heute aber weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Juliette Binoche spricht in der FR über ihren neuen Film "Paradise Highway", in dem sie eine Truckerin spielt. Im Tagesspiegel durchleuchtet Tobias Mayer die Ökonomie des Horrorfilms: Zumindest in den USA sind sie sehr erfolgreich an den Kassen, kosten dabei aber nur einen Bruchteil der Blockbuster, die ansonsten das Geschäft dominieren.

Besprochen werden Martin Gressmanns Dokumentarfilm "Nicht verRecken" über Holocaust-Überlebende (taz), David Gordon Greens Abschluss seiner Halloween-Trilogie (Tsp, unsere Kritik), die Netflix-Serie "The Playlist" über die Geschichte von Spotify (FAZ) und die Apple-Serie "Shantaram" nach dem gleichnamigen Roman (taz).
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Architektur

Oscar Niemeyers Pavillon in der Provence. Foto: Chateau La Coste


Andrian Kreye besucht für die SZ eines der letzten Bauwerke Oscar Niemeyers, das auf einem Weinberg des Château La Coste in der Provence steht. "Man erkennt Niemeyers Linienführung sofort. Zwar ist der Pavillon kein Kraftpaket, wie seine Arbeiten aus dem 20. Jahrhundert. Seine Museen und Regierungsgebäude in seiner Heimat Brasilien waren monumentale Bekenntnisse zur Aufbruchsstimmung der Moderne, die wie Denkmäler an die Verheißungen der Zukunft in der Tropenlandschaft standen. Der Pavillon beim Château La Coste ist eher eine Weiterführung der Linien, die der Weinberg vorgibt. Ein Betonzylinder verankert den Bau in der Hügelflanke, der sich mit den Glasfronten und dem Reflexionsbecken aus der Drohnenperspektive wie ein Konzertflügel in die Landschaft hinaus verjüngt." Dem Kommunisten Niemeyer hätte es allerdings den Magen umgedreht, hätte er die One-Percenter auf dem Hubschrauberplatz landen sehen, um im Spa-Hotel des Weinguts abzusteigen.
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Stichwörter: Niemeyer, Oscar

Literatur

"Wer die Preisverleihung an Handke kritisierte, bei Ernaux aber kein Problem sieht, misst mit zweierlei Maß", kommentiert Leander F. Badura in der Jungle World den Umstand, dass die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux BDS-nahe Initiativen unterstützt. In Frankreich ist Ernaux' Engagement kein sonderlich großes Thema, hält Claudia Mäder in der NZZ fest: Ihre "politische Haltung gefällt selbstverständlich auch in Frankreich nicht allen. Einen Aufruhr hat ihr Engagement aber bisher nie verursacht. Und auch jetzt, nach der Nobelpreisvergabe, ist von der BDS-Nähe in der Presse kaum die Rede."

Samanta Harvey seziert in ihrem Memoir "Das Jahr ohne Schlaf" ihr zähes Kämpfen mit einer erdrückenden Schlaflosigkeit. Angela Schader führt im Perlentaucher ausführlich durch das Buch, an dessen Ende sie auf ein wirkungsvolles Rezept gegen den sich nicht einstellenden Schlaf stößt: "Schwimmen, schwimmen, schwimmen, mit der Strömung, gegen die Strömung, egal wo und wann, egal wie kalt das Wasser ist, aber kalt muss es sein. Dass dies nicht jedermanns Sache sein dürfte, fällt nicht so sehr ins Gewicht. Denn faktisch war es etwas anderes, das Samantha Harvey in der Zeit jener existenziellen Heimsuchung Halt und die Möglichkeit gab, die zerrissene Textur ihres Lebens wieder zu festigen: das Schreiben. Dadurch gelang es ihr, der amorphen Finsternis aus Erschöpfung und Verzweiflung, die sie in sich spürte, Ordnung und Gestalt zu geben, aus dem Chaos sogar 'eine Illusion von Vollkommenheit' zu schöpfen. Und mehr noch. Sie lernte ihre Gabe als Instrument der Liebe kennen, als eine Kraft, die den tosenden Kerker zu sprengen vermochte, zu dem ihr der eigene Kopf geworden war."

Eine noch aus den kurzen Zeiten von Deniz Yücel stammende, nun öffentlich gewordene Zuwahlliste von möglichen Neumitgliedern des PEN Deutschland sorgt für milden Trubel (unser Resümee): Nicht nur, weil viele Leute noch von Yücel auf die Liste gesetzt wurden und nun aber schon im neuen PEN Berlin eine Heimat gefunden haben, sondern auch, weil manche der Bürgschaftstexte darauf angeblich auffällig den alten Bürgschaftstexten ähneln, aber nun anders gezeichnet sind, schreibt Carlotta Wald in der SZ. "Als Versuch, die beiden Lager zu versöhnen und einander näherzubringen oder den neuen PEN gar wieder in den alten einzugliedern, kann die Zuwahlliste jedenfalls nicht gelesen werden. Dass sie öffentlich wird, ist sicherlich ein Nebenschauplatz des fortschreitenden Kampfs der zwei PEN-Vereinigungen um Relevanz - und in der Folge um Geld. Welcher PEN künftig staatliche Zuwendungen bekommt, und in welcher Höhe, ist derzeit unklar. Sowohl der neue Berliner wie der alte Darmstädter PEN haben wenigstens darauf bezogen weiterhin ein Interesse, sich als jeweils einzig wahre Vertretung des freien Wortes zu etablieren respektive zu behaupten." Derweil melden die Agenturen, dass der Lyriker José F.A. Oliver den Interimspräsidenten des PEN Deutschland Josef Haslinger ablöst.

Außerdem: Die Schriftstellerin Nadine Pungs erzählt in der Welt von ihrer Abtreibung und warum sie sie nicht bereut. Gerhard Gnauck wirft für die FAZ einen Blick in ukrainische Buchneuerscheinungen auf dem deutschen Markt. In der NZZ schreibt Sergei Gerasimow weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Matthias Heine erinnert in der Welt an die Schriftstellerin und Pazifistin Ricarda Huch.

Besprochen werden unter anderem Daniela Dröschers "Lügen über meine Mutter" (FR), Péter Nádas' "Schauergeschichten" (SZ) und Sergio del Molinos "Leeres Spanien" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Im Mai 2023 will der lautstarke BDS-Unterstützer Roger Waters in München auftreten - und stößt damit bei Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter auf energischen Widerstand. "München muss versuchen, dieses Konzert zu verhindern", kommentiert Joachim Huber im Tagesspiegel. "Schon jetzt steht die Stadt blamiert da, und diese Blamage wird sich nur vergrößern, wenn nicht wenigstens versucht wird, eine Absage auf juristischem Wege zu erreichen." Harry Nutt ärgert sich in der FR nicht nur über diese Diskussion, sondern auch über den Documenta-Skandal und die aktuelle Ernaux-Debatte: "Mit jeder Welle der Empörung über Verbot oder Erlaubnis geht Gratiswerbung für den BDS in Form von diskursiver Auseinandersetzung einher." Und "im Globalen Süden, so lautete eine wiederholte Belehrung, schaue man nun einmal anders auf die Rolle Israels als von Deutschland aus. ... Heraus also aus naiv-aktivistischen Posen, die sich mit der Unterscheidung von Globalem Süden und Norden unter Ausblendung neoimperialer Herrschaftsformen zufriedengeben. Wenn man sich darauf einigen könnte, sollten die Lektüre von Annie Ernaux, die Musik von Roger Waters und Unterweisungen durch indonesische Gastprofessoren eine Selbstverständlichkeit des kulturellen Bildungsangebots sein."

Weitere Artikel: Cosima Lutz widmet sich in einem Essay auf ZeitOnline der Gender-Geschichte des Klavierspielens und wie diese sich im Kino niederschlug. Die taz spricht mit der Indierockband Die Nerven unter anderem über einigermaßen umweltverträgliche Touren. Über die jüngsten, teils derb antisemitischen Exzesse von Kanye West kann Nadine A. Brügger in der NZZ nur noch mit dem Kopf schütteln. In der FAZ gratuliert Tomi Mäkelä der Komponistin Kaija Saariaho zum 70. Geburtstag. Und Queen haben einen bislang unveröffentlichten Song mit Freddie Mercury aus dem Jahr 1988 veröffentlicht, meldet unter anderem der Standard:



Besprochen werden ein Konzert der Düsseldorf Düsterboys aus Essen (Tsp) und ein Auftritt der Klassik-Nachwuchstalente Finnegan Downie Dear, Pascal Deubner und Gigori Gigashvili (Tsp).
Archiv: Musik