Efeu - Die Kulturrundschau

Poetisches und Parteitagsbeschlusslagen

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24.08.2022. Beinahe wäre der Tagesspiegel an den Krisen der Zeit verzweifelt, aber dann kam die Longlist des Deutschen Buchpreises! Dem Ravensburgverlag brandet für die zurückgezogenen Winnetou-Bücher die Empörung jetzt von links und rechts entgegen. Die FR fragt allerdings, wie die Filme eigentlich durch die Fördergremien kamen. Monopol erkundet im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe die Materialgeschichte der Fotografie. Die SZ lauscht hypnotisert Matthew E. Whites Neo-Soul-Suite "Only in America", die mit Bläserblech nur sanft beginnt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.08.2022 finden Sie hier

Kunst

Silberbarren im Tresor von Kodak, 1945. Bild: Eastman Kodak Company


Das Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg zeigt die Materialgeschichte der Fotografie, um einmal den eigenen ökologischen Fußbdruck zu untersuchen, wie Kuratorin Esther Ruelfs im Monopol-Interview am Beispiel der Fotofirma Kodak erklärt, die enorme Mengen an Rohstoffen brauchte: "Kodak ist in dieser Zeit nach dem amerikanischen Staat der größte Abnehmer von Silber. Das Bild verdeutlicht eine Eskalation: Anfang des 20. Jahrhunderts ist es noch ein Schrank, in dem das Silber gelagert wird, um 1945 benötigt man dann schon einen Tresorraum. Noch Mitte des 20. Jahrhunderts stammt die größte Menge des Silbers aus den Amerikas. Die Geschichte ist verknüpft mit dem globalen Handel und der Logik der Ausbeutung ... Heute denken wir, mit der digitalen Fotografie sind wir weg von der bösen Chemie und diesem ganzen schmutzigen und giftigen Kram. Es verschiebt sich jedoch nur. Die Cloud klingt vom Wort her zwar erstmal fluffig, aber wenn man sich mal anschaut, was heute in unseren Mobiltelefonen und Digitalkameras verbaut ist, dann spielen da die Seltenen Erden und metallische Rohstoffe eine große Rolle."

Im Tagesspiegel-Interview spricht die Sammlerin Francesca Thyssen-Bornemisza über ihr großes Erbe, die Kunst und die Welt und säuselt: "Philanthropie ist eine Reise zu mir selbst auf den Spuren der Empathie."

Besprochen werden die Ausstellung "Textiler Garten" im Zürcher Museum für Gestaltung (in der sich NZZ-Kritikerin Maria Becker von Kaskaden aus Garn, Wolle und Seide berauschen ließ), eine Dürer-Schau im Musée Condé bei Paris (FAZ), die Kunstschau Rohkunstbau in Altdöbern im Spreewald mit Cindy Sherman (FR) und eine Ausstellung der Künstlerin Manon Awst in der Galerie PMS in Berlin (Tsp).
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Literatur

Die Longlist des Deutschen Buchpreises ist da - in unserem Online-Buchladen Eichendorff21 finden Sie alle nominierten Romane und dazu natürlich, so vorhanden, unsere Rezensionsnotizen. Bei der Durchsicht der präsentierten Titel muss Gerrit Bartels vom Tagesspiegel an Ilja Trojanows Debüt "Die Welt ist groß und Rettung lauert überall" denken, "denn die Welt der deutschsprachigen Literatur, sie ist groß, wenn nicht riesengroß. Und wo, wenn nicht in der Literatur, könnte die Rettung vor der vielen Unbill unserer Gegenwart liegen?" Erneut feiert die Jury "die Vielfalt ihrer Auswahl, die Vielfalt der Stoffe, ob es um Herkunft, Identität oder die Perspektiven eines gütlichen Miteinanders geht."

Dass Bayern Goethes "Faust" als letzte Pflichtlektüre vom Curriculum gestrichen hat, empfindet Roman Bucheli im NZZ - im Gegensatz zu vielen Kulturpessimisten - keineswegs als Katastrophe: "Die Gymnasien werden aus der obrigkeitlichen Bevormundung entlassen, ein alter Zopf wird abgeschnitten. Wer nun aber glaubt, dies sei der Anfang vom Ende der Kulturnation, beweist nur die geringe Meinung, die er von der Literatur einerseits und den Lehrern und Schülern anderseits hat."

Außerdem: Bei seiner Laudatio auf Thilo Sarrazin (hier unser Resümee) wirkte Uwe Tellkamp auf tazlerin Tania Martini "wie ein Wutbürger auf Kokainentzug". Der Schriftsteller Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort.

Besprochen werden unter anderem Joshua Groß' "Prana Extrem" (ZeitOnline), Miguel de Unamunos "Nebel" (FR), Alexa Hennig von Langes "Die karierten Mädchen" (SZ), Bernd Wagners literaturhistorische Studie "Verlassene Werke" (Freitag), Mariette Navarros "Über die See" (Dlf Kultur), Elina Penners "Nachtbeeren" (FR), Manfred Krugs "Ich sammle mein Leben zusammen - Tagebücher 1996- 1997" (Standard), Peter Kurzecks "Und wo mein Haus?" (Tsp) und Meret Oppenheims "Mein Album" (FAZ).
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Film



In der Haut des Ravensburger Verlages möchte man nicht stecken: Wegen zweier Merchandise-Produkte zum Kinoflop "Der junge Häuptling Winnetou" (hier unsere Kritik) wurde der Puzzle- und Gesellschaftsspieleverlag auf Social Media zunächst von Linken verbal vermöbelt und nun von Rechten, weil der Verlag die Produkte aus Gründen der Imagepolitur vom Markt genommen hat - und "diese zweite Kritikwelle ist um einiges brachialer", schreibt Kathleen Hildebrand in der SZ. "Die zu erwartenden Schlagwörter von 'Cancel Culture' bis 'Kulturmarxismus' werden dem Verlag nun auf Instagram um die Ohren gehauen. Natürlich steht da auch, dass es bis zu Bücherverbrennungen ja nun auch nicht mehr weit sei."

Dass Karl Mays Vorstellungen vom indigenen Leben in der Prärie gelinde gesagt nicht auf Kenntnissen aus erster Hand basieren, unterstreicht auch der FR-Filmkritiker Daniel Kothenschulte und fragt sich verwundert, wie so eine filmische Fantasie vom "edlen Wilden" im Jahr 2022 überhaupt noch durch die Fördergremien kommt. Claudia Roth verweist auf seine Anfrage auf Diversityprogramme der Kulturförderung. "Was bedeutet das aber für die Verwendung rassistischer Stereotype? Wie weit ist das Bewusstsein für Diversität in der deutschen Kulturpolitik entwickelt, wenn sie durch alle Raster fallen? Wäre es nicht sinnvoller, die Filmförderung wieder als das anzusehen, als das sie einmal gegründet wurde, als ein Instrument, die Qualität deutscher Filme zu verbessern?"

Ronald Pohl und Christian Schachinger vom Standard haben sich den Spaß gegönnt und das vom Markt genommene, dank großzügiger Bebilderung leicht in 20 Minuten bewältigbare Kinderbuch zum Film durchgearbeitet und dabei bemerkt, dass "weder das böse Wort 'Indianer' vorkommt noch irgendwelche 'Rothäute' herumtapsen. Möglicherweise wurden die das Volk der Apachen gebenden Weißbrote allerdings vor den Dreharbeiten ins Sonnenstudio geschickt. ... Wirklich übel kommen im Film wie im Buch die eindimensionalen weißen Schurken weg." Den Vorwurf, May blende in seinem literarischen Kosmos den Kolonialgenozid der Weißen aus, können wirklich nur Unkundige in die Welt setzen, ärgert sich Velten Schäfer im Freitag: "Die ganze Winnetou-Saga ist ja um das wortbrüchige, rücksichtslose und gewaltsame Eindringen einer Eisenbahngesellschaft in das Apachengebiet gestrickt. Dabei beschreibt er die weißen Landvermesser als unzivilisierte, gierige, meist betrunkene Wüteriche, vor deren tumben Rothautfresser-Sprüchen sich das Publikum ekeln soll. Im ausfransenden Kontext des originalen Winnetou-Plots lernt man zudem, den Ku-Klux-Klan zu verabscheuen. "

Außerdem: In der Berliner Zeitung spricht Franka Klaproth mit dem Schauspieler Christoph Maria Herbst, der gestern Abend mit dem Ernst-Lubitsch-Preis geehrt wurde. In der SZ erinnert Peter Richter an den DEFA-Klassiker "Die Legende von Paul und Paula" und kommt beim Wiedersehen aus dem Staunen nicht heraus: "Es ist wirklich irre, wie hier dauernd Privates und Politisches, Poetisches und Parteitagsbeschlusslagen dermaßen eng verleimt werden, dass man diesen Film genauso gut auch in einem zeithistorischen Seminar einsetzen könnte." Fritz Göttler empfiehlt in der SZ eine Online-Retrospektive zum Kino der Weimarer Republik. Für ZeitOnline plaudert Dirk Peitz mit dem Bestsellerautor Marc-Uwe Kling, der für die neueste (hier besprochene) Verfilmung aus seinem "Känguru"-Kosmos nun auch selbst Regie geführt hat. Besprochen wird der "Game of Thrones"-Nachfolger "House of the Dragon" (Freitag).
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Bühne

Vor Beginn der neuen Spielzeit an der Volksbühne resümiert Jakob Hayner erwartungsgemäß enttäuscht in der Welt die erste Spielzeit des Intendanten René Pollesch, der eigentlich lieber nicht Intendant sein möchte und sich deshalb hinter ein Kollektiv zurückzieht, das mal Intendanz genannt wird, dann wieder nur Plattform: "Das kann Kollektiv nämlich auch bedeuten: Alles wird irgendwie laufen gelassen, alle wollen bei allem mitsprechen, alle versuchen Einfluss auf alles zu nehmen. Womit am Ende alle gegeneinander und nicht miteinander agieren. Als beispielsweise eine Lesung mit Caroline Fourest ('Generation beleidigt' und 'Lob des Laizismus') angekündigt wurde, führten der Widerstand und Versuche der Einflussnahme aus dem Haus letztlich zur Absage durch die Autorin. Das Kollektiv zeigte seine Macht, vor allem auch gegenüber der langjährigen Mitarbeiterin, die die Veranstaltung organisiert hatte. Und die kollektive Intendanz? Hielt sich vor allem kollektiv zurück. So blieb der Eindruck, dass hinter der Schwärmerei vom Gemeinsamen die eigentliche Aufgabe, nämlich Formen zu schaffen, in denen politische und inhaltliche Auseinandersetzungen vernünftig geführt werden können, zurückblieb."
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Stichwörter: Pollesch, Rene

Musik

SZ-Kritiker Jakob Biazza schwärmt in der SZ von 18-minütigen Suite "Only in America", mit der der Neo-Soul-Sänger Matthew E. White rassistische Polizeigewalt in den USA anprangert. Es ist ein Ritt durch die Geschichte amerikanischer Glücksversprechen und deren bitterer Enttäuschung. Zu Beginn ist das "geigenschmeichelig, flötenlieblich, sehr sanftes Bläserblech", doch "dann geht es um den american dream, dessen Lied durch den Süden weht - 'Blut an den Händen und Blut am Mund'. Die USA haben auch da, bei der musikalischen Verarbeitung des Hasses, ihre eigene Historie", durch die sich Matthew E. White systematisch durcharbeitet.



Weiteres: Thomas Mießgang berichtet in der Zeit von seinem Besuch in der Waldhütte, in der Gustav Mahler lange Zeit komponiert hat. In der taz porträtiert Jens Uthoff die dissidente russische Band Shortparis. Christoph Wagner schreibt in der NZZ zum Tod des Schlagzeugers Fredy Studer. The same procedure as every year: Weil die israelische Botschaft israelischen Künstlern Reisezuschüsse gewährt, um am Berliner Festival Pop-Kultur teilzunehmen, haben nun drei Künstler ihre Teilnahme abgesagt, sich auf den BDS beziehend wie auf die Initiative Weltoffen, meldet unter anderem Stefan Hochgesand in der Berliner Zeitung.

Besprochen werden Sophia Blendas Debütalbum (Standard), Berliner Auftritte von Bauhaus (Tsp) und Christin Nichols (Tsp), ein von Cristian Măcelaru dirigiertes Konzert des WDR-Sinfonieorchesters in London (FAZ) sowie neue Popveröffentlichungen, darunter "Strapazen und Genesung" von Geier aus Stahl (manche Stücke "belegen mit ihrem Gesang aus der Grabkammer und schrottiger Elektronik auch, dass die frühe Deutsch-Amerikanische Freundschaft und die Einstürzenden Neubauten brav studiert wurden", erkennt Christian Schachinger vom Standard an).

Archiv: Musik