Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Lied gegen jede Tyrannei

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02.08.2022. In Bayreuth wurde Wagners "Rheingold" in der Regie von Valentin Schwarz ausgebuht und beklatscht: Die nmz fand's spannend, die FAZ verwirrend, die SZ feministisch. Bei Zeit online denkt die Kunstwissenschaftlerin Annekathrin Kohout über den Einfluss Instagrams auf die Kunst nach. Die taz sagt Nichelle - Lieutenant Nyota Uhura - Nicols leise Adieu. Teodor Currentzis hat ein internationales Orchester namens "Utopia" gegründet. Gut, wenn er damit seine russischen Finanziers los wird, meint die Welt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.08.2022 finden Sie hier

Bühne

Die armen weiblichen Sprösslinge, unterdrückt und gequält. Foto: Enrico Nawrath


In Bayreuth wurde Wagners "Rheingold" in der Regie von Valentin Schwarz kräftig ausgebuht. nmz-Kritiker Joachim Lange kann das nicht verstehen. Die Sänger waren großartig und die Inszenierung, naja: "Es fehlte zwar viel, was eigentlich ins Rheingold gehört - vor allem fehlte der Ring selbst. Dafür gab es aber jede Menge von Personal und Anspielungen, die es bislang dort noch nicht zu sehen gab. Schwarz hatte im Vorfeld angekündigt, dass der Ring für ihn eine Art Gesellschaftsroman oder eine Netflix-Serie ist, mit der eine Familiengeschichte erzählt wird. Dazu gehört, dass man am Ende gespannt auf die Fortsetzung ist und getrost spekulieren kann (und soll) wie es wohl weitergeht."

Auch Welt-Kritiker Manuel Brug lobt: "Radikal heutig, noch sehr direkt erzählt, mit äußerst geringer Fallhöhe. Das gefällt nicht allen Zuschauern. Es wurde gebuht, aber die Begeisterten waren deutlich trampelnd in der Überzahl. Unbedingt unterhaltsam ist das bis jetzt."

So gnädig ist Jan Brachmann in der FAZ nicht, er hat einfach nichts verstanden. Erst nachdem er das Programmheft gelesen hatte, dämmerte es ihm: "Schwarz nimmt Umdeutungen vor, was legitim und üblich ist, aber er beherrscht die Technik szenisch evidenter Zuordnung nicht. Wenn von anderen Dingen gesungen wird als jenen, die gezeigt werden, muss man klarmachen, wie die Neuzuordnung funktioniert. Wir sehen zum 'Rheingold'-Vorspiel beispielsweise einen Film über das Innere einer Gebärmutter. An zwei Nabelschnüren hängen zwei Föten. Die Idee ist schön, weil Wagners Musik auch das vorgeburtliche Glücksgefühl vom Schwimmen im Fruchtwasser in uns wachruft, weshalb ihm Theodor W. Adorno attestierte, kein revolutionärer, sondern ein im Grunde regressiver Komponist zu sein. Nun greift ein Fötus dem andern ins Auge. Es blutet aus. Valentin Schwarz will damit erzählen, dass Wotan und Alberich Zwillingsbrüder sind, die schon vor ihrer Geburt in Fehde miteinander lagen. Bei Wagner steht das nicht. Bei Wagner sind Alberich und Mime Brüder. Um die Neuzuordnung zu verstehen, muss man das Programmheft lesen."

Es geht dem Regisseur "um ein feministisches Narrativ, das von der ewigen Unterdrückung der Frau durch den Mann erzählt, die schon im Mutterleib beginnt. Der Ursprung allen Lebens ist der Ursprung allen Übels", meint in der SZ Helmut Mauró, der ebenfalls das Video mit den Föten aufgreift. Für Schwarz geht die Geschichte "so weiter, dass der kleine männliche Spross, von Alberich geraubt und nun in dessen Fußstapfen unterwegs, die armen weiblichen Sprösslinge unterdrückt und quält. Wo Wagner ein Bergwerk mit geknechteten Nibelungen einrichtet, finden wir nun einen gläsernen Kindergartenkubus, in dem kleine Mädchen Bilder malen müssen, schikaniert von einem gleichaltrigen Jungen." Das "kann man machen, läuft aber Gefahr, dass man das aufs Ganze gehende Kunstwerk der Ringerzählung mehr und mehr reduziert auf einen kleinbürgerlichen Geistesraum".

Weitere Kritiken zum "Rheingold" im Tagesspiegel, im Standard, der FR und auf BR Klassik. Die fixe Christiane Peitz schickt im Tagesspiegel schon Eindrücke vom zweiten Teil des Bayreuther Rings, der "Walküre".

Außerdem: In der taz berichtet Katja Kollmann vom Festival "InBetweenFires" im Berliner Hotel Continental mit Produktionen ukrainischer, belarussischer und Berliner Schauspieler. Wiebke Hüster resümiert in der FAZ das Wiener Festival Impulstanz. Besprochen werden Mozarts "Zauberflöte" in Salzburg (Tsp), Giacomo Puccinis "Trittico" in Salzburg (NZZ) sowie Uraufführungen der Choreografien "Modern Chimeras" von Liquid Loft und "Encounters #3" von Archipelago bei Impulstanz (Standard).
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Film



Als Lieutenant Nyota Uhura auf der Brücke des Raumschiffs Enterprise war die Schauspielerin Nichelle Nicols eine Pionierin in Sachen Diversität auf dem Fernsehschirm, halten die Feuilletons in ihren Nachrufen fest. Eigentlich wollte sie die Rolle nach der ersten Staffel hinschmeißen, erzählt Stefan Hochgesand in der taz - doch kein geringerer als Martin Luther King konnte sie davon abbringen: "Als 'Star Trek' startete, war man es gewohnt, eine Schwarze Frau als Zimmermädchen in einer Serie zu sehen - aber sicher nicht als Teil der Brückencrew auf einem Raumschiff. Man mag von Rangabzeichen halten, was man will - aber als Lieutenant ist sie Teil der höheren Kommandoebene. Was für ein Statement zur Hochzeit der Bürgerrechtsbewegung! Und da die Philosophie von 'Star Trek' nicht aufs Ballern, sondern auf Diplomatie setzt, sitzt Uhura als Kommunikationsoffizierin an einer Schlüsselstelle. In ihr bloß die Telefonistin im Minirock zu sehen, wäre ein massives Missverständnis."

Wieland Freund von der Welt relativiert die Freude über "Raumschiff Enterprise" etwas: Der legendäre Kuss zwischen Nichelle Nichols und William Shatner war keineswegs der erste im Fernsehen zwischen einer weißen und nicht-weißen Person. Und "identitätspolitisch" mag die Serie fortschrittlich gewesen sein, doch " aus feministischer Perspektive ist es weniger gut gelaufen." Und dennoch: "'Star Trek' war schon die Utopie einer diversen Zukunft, als 'woke' noch weithin unbekannter Slang-Begriff war." Kurze Nachrufe schreiben außerdem Maria Wiesner (FAZ) und Kathleen Hildebrand (SZ).
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Kunst

In einem Essay für Zeit online untersucht die Kunstwissenschaftlerin Annekathrin Kohout den Einfluss Instagrams auf die Kunst. Für junge Künstler ist es ein willkommenes Marketing-Tool. Aber das ist nicht alles, meint Kohout: "In der Kunstwelt kamen lange Zeit die Ärmsten und Reichsten der Gesellschaft zusammen. ... Trotz gegenseitiger Abhängigkeit konnten sich die einen, die Künstler:innen, vormachen, moralisch, geistig, weltanschaulich in der stärkeren Position zu sein - und die anderen, die gut situierten Sammler:innen, blieben es objektiv finanziell, mit Ausnahme jener wenigen Künstler:innen, deren Erfolg derart groß war, dass sie irgendwann auch zu den Reichen gehörten. Nun läuft dieses Abkommen aber Gefahr, beendet zu werden. Für Wohlhabende ist es nicht mehr von so großer Bedeutung, sich kunstaffin zu zeigen. Heute kann ihnen popkulturelle Bildung einen ebensolchen Statusgewinn verschaffen, wie es einst im eigenen Milieu nur Kenntnis und Unterstützung der Hochkultur vermochte. Ein Kostüm von Lady Gaga oder Art Toys von auf Instagram erfolgreichen jungen Nachwuchskünstler:innen zu besitzen, kann von genauso großer Attraktivität sein, wie ehedem Inhaber eines Gemäldes des heute längst unbezahlbaren Gerhard Richter zu sein. ... Bildende Künstler:innen büßen aus diesem Grund zunehmend ihre Sonderstellung ein."

Der Streit um die Documenta nimmt kein Ende. Ein Gremium aus sieben Beratern, unter dem Vorsitz der Politologin Nicole Deitelhoff soll jetzt die Documenta vor weiteren Antisemitismusskandalen bewahren, berichtet Leon Holly auf Zeit online. Zuerst mal kritisierten sie die Geschäftsführung der Kunstschau, heißt es in einem zweiten Artikel. "'Die von ihr vertretene Position, dass weder weitere Kunstwerke aufgrund antisemitischer Inhalte entfernt werden müssten noch eine systematische Prüfung der Werke notwendig sei, widersprechen einem fachlichen und ergebnisoffenen Dialog', teilten die Fachberater mit."

In der FAZ Hannes Hintermeier würdigt den Galeristen und Kunstsammler Heiner Friedrich, dessen Werke man in den Nordhallen der ehemaligen Munitionsanstalt St. Georgen im etwas unwirtlichen Traunreut sehen kann. "Die gezeigte Kunst selbst ist von vorzüglicher Qualität, da würde kein Sammler, kein großes Museum zögern. Allein die unheimlich aktuell wirkenden Gemälde Uwe Lausens, der 1970 im Alter von neunundzwanzig Jahren starb, lohnten eine wiederholte Wiederkehr. Als einzige Frau im Umkreis von Documenta-und Biennale-Haudegen fällt die heute einundsechzigjährige Maria Zerres mit ihren farbsprühenden Großleinwänden aus dem Rahmen. Malerei pur, die, als Zerres in den Achtzigerjahren durchstartete, ganz aus der Mode war."

Besprochen werden die Schau "Foto-Reflexionen" in der Kieler Stadtgalerie (taz), eine Ausstellung mit Fotos aus Nordkorea von Andreas Taubert in der Fotogalerie Friedrichshain (BlZ) und die Ausstellung "Frei.Schaffend.", mit der das Städel Museum das Werk der deutsch-schweizerischen Malerin Ottilie W. Roederstein vorstellt (taz).
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Literatur

Isabel Allende wird 80, zugleich erscheint ihr neuer Roman "Violeta" - die Feuilletons gratulieren spürbar verhalten. Erneut schreibt Allende einen Roman über die chilenische Geschichte, stellt Gerrit Bartels im Tagesspiegel fest: "Die Schauplätze sind die 'Hauptstadt' und der 'Süden', die Colonia Dignidad kommt vor, hier verfremdet zur Colonia Esperanza, die Ereignisse zur Zeit unter Allende und der Pinochet-Diktatur werden intensiv behandelt" - und das immerhin "fast kitschfrei". Der erneut über mehrere Generationen hinweg erzählende Roman rahmt zusammen mit ihrem Debüt "Das Geisterhaus" Allendes Werk ein, findet Burkhard Müller in der SZ: "Selbstverständlich gibt es grundsätzliche Einwände dagegen, Historie in Form der Saga zu verhandeln, einer Form, die ein enges Feld über eine lange Zeit begleitet und dabei unausweichlich eindimensional wird, bis nichts mehr übrig bleibt als Zeit überhaupt. Einräumen muss man aber in jedem Fall, dass Allende diese Form zu ihrer Konsequenz geführt hat. Viele, sehr viele Leserinnen und auch Leser scheinen es als beruhigend, sogar als tröstlich zu empfinden, wenn ihnen so vom Gang der Welt erzählt wird." Die Autorin ist schon seit geraumer Zeit "unter Kitschverdacht geraten", schreibt Michael Wurmitzer im Standard. "Gut gemeint, wird auch 'Violeta' sie da nicht mehr herausreißen."

Außerdem: In ihrer Lyrikkolumne beim Perlentaucher liest Marie Luise Knott die von Mwanza Mujila herausgegebene Anthologie "Kontinentaldrift. Das Schwarze Europa" und eine Anthologie mit belarussischen Gedichten. Der Schriftsteller Wolf Haas erinnert sich in der SZ an seine schlimmste Lesung, die in China stattfand - und er war völlig heiser: Die Studenten im Saal "denken womöglich bis heute, dass gutes Deutsch, wie es Schriftsteller sprechen, mit heiserer, tonloser Stimme zu sprechen ist." Mark van Huisseling erzählt in der NZZ von seiner Reise nach Montana. Rüdiger Schaper gibt im Tagesspiegel Lesetipps für den Sommer. Tilman Spreckelsen gratuliert in der FAZ dem Kinderbuchautor Guus Kuijer zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Klaus Bittermanns Biografie des linken Publizisten Wolfgang Pohrt (Tsp), Garry Dishers Krimi "Stunde der Flut" (FR) und Sigrid Nunez' "Eine Feder auf dem Atem Gottes" (SZ).
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Musik

Teodor Currentzis hat ein internationales Orchester namens "Utopia" gegründet, das ab Oktober in die Öffentlichkeit treten will, meldet der Standard. "Das klingende Utopia wird just in einem Moment präsentiert, wo Currentzis, diesem höchst umstrittenen Fackelträger der Klassik, der Kragen eng wird", kommentiert Manuel Brug in der Welt und bezieht sich damit auf die von Currentzis mit hartnäckigem Schweigen ausgesessene Kritik daran, das dessen Ensemble Music Aeterna von einer russischen Bank finanziert wird. "Currentzis, der wie viele der Achse des Bösen die Hand gereicht hat, um seine an sich guten Kunstprojekte finanziert zu bekommen, steht sicher unter gewaltigem Druck. Nichts ist umsonst, auch nicht im Künstlerleben. ... Utopia ist ein deutlicher Schritt von Currentzis, seine beruflichen Verhältnisse zumindest teilweise und sauber neu zu ordnen."

Die FAS hat Thilo Komma-Pöllaths Gespräch mit der Dirigentin Keri-Lynn Wilson online nachgereicht, die im Zuge des russischen Angriffs auf die Ukraine das Ukrainian Freedom Orchestra ins Leben gerufen hat, das gerade durch Deutschland tourt. Sie versteht das Orchester auch als "Symbol für die Wehrhaftigkeit des ganzen Landes." Sie können "zeigen, dass Putin nicht recht hat, wenn er sagt, so etwas wie eine ukrainische Kultur gebe es nicht. Unser kulturelles Erbe ist viel zu groß und zu vielfältig, als dass es zum Schweigen gebracht werden könnte. ... 'Abscheulicher' ist unsere Message, direkt an Putin gerichtet. Ein Lied gegen jede Tyrannei. Und am Ende siegen die Hoffnung und die Liebe."

Komplett umgehauen kehren die Kritiker von Daniil Trifonovs Klavierabend in Salzburg zurück. Der Pianist spielte Musik von um 1900. Insbesondere die Interpretation von Karol Szymanowskis dritter Klaviersonate zog Helmut Mauró von der SZ in ihren Bann: Sie "sprengt Grenzen, und ist doch ganz auf sich selber konzentriert, schafft einen hochkomplexen Kosmos aus Hoffnung, Trauer, Schmerz und Exstase. Für einen Pianisten wie Trifonov ein Geschenk. ... Wieder einmal wird man daran erinnert, welche avantgardistischen Strömungen vor dem Ersten Weltkrieg und danach die europäische Moderne prägten. Dass es keineswegs nur eine Richtung gab." Auch deshalb suchen derzeit viele "nach anderen Quellen der Moderne. Davon gibt es reichlich, und man kann sich nur wünschen, dass die Komponisten östlich der Oder nicht nur aus aktuellem politischen Anlass wieder mehr Gehör finden." Auch FAZ-Kritiker Jürgen Kesting kommt aus dem Staunen über diesen Abend, an dem auch Debussy, Prokofjew und Brahms je meisterhaft gegeben wurden, nicht heraus und flüchtet sich abschließend mit einem Zitat in die Erschöpfung der Ekstase: "Der Dank für das seelenschwere Konzert sei von Robert Schumann ausgesprochen: 'Er trug, auch im Äußeren, alle Anzeichen an sich, die uns ankündigten: das ist ein Berufener. Am Klavier sitzend fing er an, wunderbare Regionen zu enthüllen. Wir wurden in immer zauberischere Kreise hineingezogen.'"

Besprochen werden neue Bücher über den Freejazz (taz), ein Buch über den Studio-Hexenmeister Rick Rubin (FR), Iggy Pops Auftritt in München (SZ) und das erste gemeinsame Album des Tuareg-Sängers und -Gitarristen Ag Kaedy mit Johannes Schleiermachers Berliner Jazz-Quintettormation Onom Agemo (taz).
Archiv: Musik