Efeu - Die Kulturrundschau

Hört sich so die Farbe Blau an?

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07.12.2021. FR und FAZ feiern mit Rimski-Korsakows Märchenoper "Die Nacht vor Weihnachten" das undramatische Drauflos. Die SZ erlebt im Pariser Musée Marmottan, wie eng die Impressionisten den großbürgerlichen Salons dann doch verbunden waren. In der NZZ attackiert Rainer Moritz Naivität und Geschichtslosigkeit des sensivity readings. Wo ist Friedrich Kittler, wenn man ihn braucht, fragt die taz nach der Meldung, dass Spotify-Gründer Daniel Ek seine Musik-Millionen jetzt in Militärtechnologie investiert.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.12.2021 finden Sie hier

Bühne

Durch die tanzenden Sterne: Nikolai Rimsky-Korsakows "Nacht vor Weihnachten". Foto: Monika Rittershaus / Oper Frankfurt

An der Frankfurter Oper hat Christof Loy Nikolai Rimski-Korsakows Märchenoper "Die Nacht vor Weihnachten" nach einer Erzählung von Gogol inszeniert. In der FAZ bejubelt Jan Brachmann diesen Abend als "eines der größten Theaterwunder der Frankfurter Operngeschichte": "Loy gönnt sich und uns den Spaß, die Hexe Solocha mit dem Besen durch die Luft fliegen zu lassen; Enkelejda Shkoza sieht dabei aus wie Marina Abramović auf Speed. Der Teufel geht senkrecht am Schrank herunter und fliegt mit dem Schmied Wakula nachts durch die tanzenden Sterne - eine echt akrobatische Leistung der Tenöre, inklusive mehrerer Überschläge um die eigene Bauchachse - nach Sankt Petersburg, um von der Zarin Katharina der Großen goldene Pantoffeln zu holen, ohne die seine angebetete Oksana ihn nicht heiraten würde. " In der FR ist auch Judith von Sternburg hingerissen von der "bezaubernden Gutmütigkeit" und dem "undramatischen Drauflos": "Süße Opernarien von Liebe und Leid, knackige amouröse und freche Ensembleszenen, fromme, weltliche sowie gespenstische Chöre, dazu Tanzmusiken aus dem Dorf und vom Zarenhof."

Weiteres: Erleichtert nimmt Christian Wildhagen in der NZZ die Meldung auf, dass Matthias Schulz, Intendant der Berliner Staatsoper, ab 2025 die Oper Zürich leiten wird (ein Intendant, kein Künstler, kein Kollektiv). In der Nachtkritik erzählt der Dramaturg Wolfgang Behrens vom Gastspiel des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden beim Baghdad International Theatre Festival.

Besprochen werden Barrie Koskys Inszenierung von Mozarts "Don Giovanni" an der Wiener Staatsoper (die Standard-Kritiker Ljubisa Tosic oft subtil und poetisch findet, aber gelegentlich auch allzu unbeschwert), der "Coolhaze"-Abend des Hamburger Trios Studio Braun (der Till Briegleb in der SZ zufolge aus Kleists "Michael Kohlhaas" eine "rasend komische Hollywood-Rächer-Parodie" macht), Falk Richters Inszenierung von Thomas Bernhards "Heldenplatz" (FR) und Gustavo Dudamel Einstand als Leiter der Pariser Nationaloper mit Puccinis "Turandot" (FAZ).
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Film

In der "Nichts Neues"-Reihe der SZ denkt Johanna Adorján über Anouk Aimées Frisur in Claude Lelouchs "Un homme et une femme" nach - einen Bob ohne Pony, der hier auf einen Haarwuchs trifft, "der, wie es aussieht, ein Gesicht vorne eigentlich nicht vorgesehen hat." Und so "vergeht in Lelouchs Film kaum eine Minute, in der die Hauptdarstellerin sich nicht die Haare zurückstreicht. Eingangs ist das noch charmant, irgendwann nervt es einen - für sie. Man fühlt mit ihr. Und würde dieser anmutigsten aller rätselhaften französischen Schauspielerinnen eine andere Frisur wünschen in diesem sagenhaft schönen Film, in dem ein Mann und eine Frau trotz einiger Hindernisse zuletzt zusammenfinden. Ach, denkt man, hoffentlich hält wenigstens das." Ein kleiner Zusammenschnitt auf Youtube lädt zum Mitzählen ein:



Weitere Artikel: Andrey Arnold wirft für die Presse einen Blick ins Programm des Wiener Filmfestivals "This Human World", das in diesem Jahr online stattfinden muss.

Besprochen werden ein von Paul Duncan zusammengestellter Prachtband über die James-Bond-Filme (Standard), Filip Christensens und Even Sigstads Filmbiografie "Aksel" über den Skisportler Aksel Lund Svindal (FAZ) und Mel Brooks' Autobiografie (TA).
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Kunst

Berthe Moristo: Julie Manet. Julie Manet et sa levrette, 1893. Bild: Musée Marmottan Monet

Einblick in die bürgerlichen Zirkel der Impressionen bekommt SZ-Kritiker Joseph Hanimann mit der Ausstellung zu Julie Manet im Pariser Musée Marmottan Monet. Julie Manet war die Tochter Berthe Morisots und die Nichte Edouard Manets, ihr Vater war sein Bruder. Künstler gingen in diesem Haus ein und aus, Julie Manet selbst malte eher zur Lebensbereicherung als aus Ambition, sie war Modell und Muse, später Mäzenin und Erbverwalterin: "Im Mittelpunkt steht die Blüte der impressionistischen Jahre, betrachtet aus dem Blickwinkel einer ins Milieu hineingeborenen Zeugin, die aufschnappte und mitschrieb. Denn die tagebuchführende und malende Julie Manet, deren Bilder hier zum ersten Mal im Zusammenhang ausgestellt werden, verstand sich nicht wie ihre Mutter und ihr Onkel als authentische Künstlerin. Sie malte aus der Gelegenheit und durch die Anregung ihres Milieus. Interessant ist die Schau dann, wenn vorgeführt wird, wie nah die impressionistische Malerei am großbürgerlichen Lebensstil zwischen Salon und inszenierter Natur in Park und Kunstlandschaft gedieh."

Der kurdische Künstler Ahmet Güneştekin hat in einem Festungsturm der Stadtmauer von Diyarbakır 34 bunt gestrichene Särge ausgestellt, die an Verbrechen erinnern sollen, die an Kurden begangen wurde. Jetzt hagelt es Angriff von allen Seiten, berichtet Susanne Güsten im Tagesspiegel, vom nationalistischen Innenminister, von kemalistischen Kolumnisten und kurdischen Extremisten: "Vom Ausmaß der Anfeindungen ist der Künstler erschüttert: Mit Kritik habe er gerechnet, aber nicht mit einem tätlichen Angriff auf die Kunst. Was ihn vor allem schmerze, sei die Tatsache, dass niemand im Land gegen den Angriff protestiert und die Freiheit der Kunst verteidigt habe."

Besprochen werden eine Ausstellung über die Künstlerfreunde "Manet und Astruc" in der Kunsthalle Bremen (SZ), die opulente Modigliani-Ausstellung in der Wiener Albertina (die Sabine Vogel in der NZZ zufolge sehr schön nachzeichnet, "wie Modigliani zu seiner einzigartigen Bildsprache fand") und die Schau "Life Between Islands" zu britisch-karibischer Kunst in der Tate Modern in London (die Laura Cummings im Observer als berauschend, kraftvoll, radikal, zart und so verstörend wie schön feiert)
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Literatur

Von den Versuchen, in Filmen, Serien und in der Literatur niemandem auf die Füße zu treten und vor den Kopf zu stoßen, fühlt sich NZZ-Kritiker Rainer Moritz ganz erheblich auf die Füße getreten und vor den Kopf gestoßen. Triggerwarnungen, das Streichen heikler Stellen und vor allem das "sensivity reading" - eine paternalisierende Zusatzstufe im Lektoratsprozess, die Verletzungen bei der Lektüre verhindern soll - sind ihm ein Graus: "Es geht den 'feinfühligen' Lesern darum, Stereotypen auszumerzen und stattdessen Texten zu einer 'authentischen Darstellung' und einer 'authentischen Repräsentation' zu verhelfen, um 'negative Auswirkungen' auf die vermeintlich falsch Dargestellten zu vermeiden. Naiver als in diesen selbstgerechten Statements ist selten über Literatur gesprochen worden. Was 'authentisch' ist und was nicht, scheint für die selbsternannten Tugendwächter des 'sensitivity reading' kein Problem zu sein. Sie wissen es ja und stehen für ein ahistorisches Denken, das so tut, als hätte man die Weisheit für sich gepachtet, den Gipfel an Aufgeklärtheit erreicht und könnte von nachfolgenden Generationen gar nicht mehr widerlegt werden."

Besprochen werden unter anderem die deutsche Neuausgabe von Abdulrazak Gurnahs "Das verlorene Paradies" (FR, Tsp), Arundhati Roys Essay "Azadi heißt Freiheit" (Tsp), Harald Walsers "Ein Engel in der Hölle von Auschwitz. Das Leben der Krankenschwester Maria Stromberger" (Standard), Daniel Schreibers "Allein" (online nachgereicht von der FAZ), Teresa Nentwigs Biografie über den Sexualpädagogen Helmut Kentler (taz) und Rachel Cusks "Der andere Ort" (FAZ).
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Musik

In der Welt ärgert sich Manuel Brug über Orchestermusiker, die die Impfung verweigern und damit auch ihren Kollegen die Arbeit schwer machen, und über ein im Oktober online veröffentlichtes Manifest, das für den Konzertbetrieb einfordert, auf 3G- und 2G-Regelungen verzichten zu dürfen. "Die schaufeln sich da sehenden Auges ihr eigenes Berufsgrab" und "scheinen dabei doch die sich wieder verschärfende Pandemie und ihre Folgen, zu denen die drohende Schließung auch des Kulturbetriebs gehört, komplett zu negieren. Auch Kulturmenschen haben natürlich ein Recht darauf, Wirrköpfe zu sein. Nur wird es dann mit der Forderung nach Unterstützung schwierig und der Ruf nach dem Offenhalten von Theatern und Konzerthäusern bekommt einen seltsamen Beigeschmack."

Daniel Ek, der mit Spotify - anders als die vielen Musiker dort - Milliarden verdient hat, investiert nun in Militärtechnologie, schreibt Julian Weber in einer Notiz in der taz: Die so mit einem Geldesegen bedachte Deeptech-Firma Helsing will Künstliche Intelligenz einsetzen, um die Feindaufklärung zu verbessern und eine Software zu entwickeln, die Muster hinter den Daten aus Kameras, Wärmebildern und anderen Sensoren erkennt. Dieses sogenannte Edge-Computing kommt notfalls ohne Datenverbindung aus - etwa im realen Einsatz, wenn der Feind den Funk stört. ... Wo ist Friedrich Kittler, wenn man ihn braucht? Denn der Philosoph legte vor langer Zeit dar, dass in der Popmusik gebräuchliche Instrumente wie Synthesizer und Vocoder 'Missbrauch von Heeresgerät' seien. 'Jede einzelne dieser Techniken geht auf den Zweiten Weltkrieg zurück.' Eher unwahrscheinlich, dass Daniel Ek sich mit den Gedanken von Friedrich Kittler auseinandergesetzt hat. Die Reaktion schläft leider nicht."

Außerdem: Für die taz porträtiert Philipp Weichenrieder den Londoner Produzenten Parris, dessen gerade veröffentliches Debütalbum "Soaked in Indigo Moonlight" dem Kritiker synästhetische Erfahrungen beschert: "Hört sich so die Farbe Blau an?" Die letzte verbliebene Klage gegen den Blogger Markus Wilhelm, der MeToo-Vorfälle bei den Klassikfestspielen Erl aufgedeckt hatte, ist nun in erster Instanz abgewiesen worden, berichtet Stefan Weiss im Standard. Ken Münster berichtet im Tagesspiegel vom We Jazz Festival in Helsinki. Andrian Kreye schreibt in der SZ einen Nachruf auf John Miles. In der FAZ gratuliert Anja-Rosa Thöming dem Dirigenten John Nelson zum 80. Geburtstag. Außerdem kürt Pitchfork die 100 besten Songs des Jahres. Auf der Spitzenposition:



Besprochen werden Paul McCartneys Autobiografie "Lyrics" (Freitag), das neue gemeinsame Album von Alison Krauss und Robert Plant (NZZ), ein Berliner Auftritt der Sängerin Mariana Sadovska mit Ensemble (taz), ein Konzert des Orchestra dell'Accademia unter Daniil Trifonov (FR) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter neue Frank-Bridge- und Elgar-Aufnahmen des Cellisten Gabriel Schwabe (SZ).

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