Efeu - Die Kulturrundschau

Kein böses Wort mehr

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13.10.2021. In der Irish Times versichert Sally Rooney, dass sie ihren Roman sofort ins Hebräische übersetzen ließe, wenn sich dies im Einklang mit den Boykott-Regeln gegen Israel der BDS-Bewegung bewerkstelligen ließe. In der SZ versichert Nele Pollatschek, dass Abdulrazak Gurnah nicht nur politisch, sondern auch literarisch interessant ist. Außerdem erlebt die SZ die Poesie Alban Bergs, indem sie sich mitten in den Klang setzt. Die taz hört den Sound Charlie Parkers in den Bildern Lee Friedlaenders.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.10.2021 finden Sie hier

Literatur

In helle Aufregung versetzte gestern die Medienwelt Sally Rooneys Entscheidung, ihren dritten Roman, "Schöne Welt, wo bist Du", zumindest vorerst nicht ins Hebräische übersetzen zu lassen (unser Resümee). Die Irish Times zitiert eine Pressemitteilung, in der die Schriftstellerin ihre Beweggründe noch einmal darstellt: Ja, sie unterstütze die BDS-Bewegung, nein, sie sei nicht generell gegen eine Übersetzung ihrer Bücher ins Hebräische: "Sollte ich einen Weg finden, diese Rechte im Einklang mit den Boykottrichtlinien der BDS-Bewegung zu verkaufen, wäre ich darüber sehr froh und stolz darauf." Was dann aber wohl darauf hinauslaufen müsste, dass sie einen Verlag außerhalb Israels findet, der ihr Buch ins Hebräische übersetzt, ohne dabei irgendwas mit Israel zu tun zu haben.

Kultureller Boykott, wie Rooney ihn betreibt, "verhindert einen kulturellen Transfer, er verhindert Kommunikation und Diskurs", kritisiert Miryam Schellbach in der SZ. "Damit wird Sally Rooney interessanterweise zur Zweiflerin an ihrem eigenen Roman, dem sie nicht zutraut, dass seine Handlung, seine Sprache, seine Ideale, für eine Welt einstehen könnten, die Rooney und andere mit ihrem Kulturboykott eigentlich erreichen wollen." Zudem fragt sich Schellbach, ob es nicht vielleicht gereicht hätte, wenn Rooney ihr Buch einfach in einem israelischen "Verlag am linken Rand des politischen Spektrums" veröffentlicht hätte.

In der taz hält Nele Sophie Karsten Rooneys Entscheidung (nach etwas langem Hin und Her) letzten Endes doch für "antisemitisch", denn es liegt darin "ein ausschließendes Moment für viele Juden und Jüdinnen, denen ein Kulturgut bewusst verweigert werden soll". Ein "Doppelstandard" zeichne sich ab: "Bislang ist von keinem anderem Land, dem Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, die Rede, in dem ihr dritter Roman lieber nicht veröffentlicht werden soll."

Themenwechsel: Literaturnobelpreis. Ist Abdulrazak Gurnah, dessen Romane bislang nur wenige deutsche Kritiker gelesen haben (unser Resümee), wirklich gut, fragt Nele Pollatschek mit Blick auf die von der Schwedischen Akademie durch ihre Begründung noch befeuerte Skepsis, dass sie ihre Entscheidung weniger aus literarischen, sondern aus ideologischen Gründen getroffen hat. Pollatscheks Antwort: Ja, Gurnah ist gut - und zwar gerade und besonders nach europäischen Literaturkriterien: "Da ist der sanfte Realismus einer George Eliot, in dem auch die unsympathischste Figur noch eine psychologische Tiefe erhält - und kein noch so brutaler, sexuell-übergriffiger deutscher Offizier ohne die Erinnerung an einen verstorbenen Bruder mit poetischen Ambitionen auskommen muss. Da sind Schnurrbärte und Haartrachten und Nebenfiguren, denen eine 'Verliebtheit in den Geruch von Holz' (besotted with the smell of wood) zugeschrieben wird und deren verschwenderische Beschreibungen an Zadie Smith erinnern und damit in verlängerter Tradition an Charles Dickens. Da ist eine junge Frau, die lesen will und schreiben und wort-Virginia-Woolf-wörtlich a room of her own. Da ist diese ganze Ambivalenz, die wir modernen Europäer so vergöttern."

Außerdem: Im Dlf Kultur spricht Colson Whitehead über seinen neuen Roman "Harlem Shuffle". Peter Richter schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Literaturwissenschaftler Jost Hermand.

Besprochen werden unter anderem Marie NDiayes "Die Rache ist mein" (Dlf Kultur), Stephan Thomes "Pflaumenregen" (FAZ), Ariane Kochs Romandebüt "Die Aufdrängung" (ZeitOnline), J.K. Rowlings neues Kinderbuch "Jacks wundersame Reise mit dem Weihnachtsschwein" (SZ) und Maxim Billers "Der falsche Gruß" (FAZ).
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Kunst

Lee Friedlander: New Mexico, 2001 Bild: C/O Berlin

In der taz preist Ulf Erdmann Ziegler die Arbeiten des amerikanischen Fotografen Lee Friedlander, die im C/O Berlin zu sehen sind. Ihre Deutung mache genau dort Halt, wo der soziale Kommentar einsetzt, so Ziegler: "Diese Fotografie ist beobachtend, analytisch, laid-back, unsentimental. Sie hängt sich nicht an das, was konsensbildend wirkt: das Schöne, das Rare, das Prominente, das Narrativ. Insofern verkörpert sie nordamerikanische Befindlichkeiten: die gemütliche Unbehaustheit, das Sich-Einrichten im Ephemeren, die verspielte Freude an Nebensächlichem. Fotografen erklären sich das gern mit der eigenen Chronik, in der Nachfolge des kühnen Werks von Walker Evans zum Beispiel. Aber das alles ist viel zu eng. Gewiss hat Friedlander, so kurios das klingt, die Musik Charlie Parkers die Augen geöffnet. Er ist ein Leser Prousts, also einer Literatur der Indirektheit mit gewaltigen gesellschaftlichen Implikationen. Und Friedlander war ein enger Freund des Malers Kitaj, dessen Bilder aus einem tiefen Sinn für die Gleichzeitigkeit des Unvergleichlichen gespeist sind."

Weitere Artikel: In der NZZ bedauert nun auch Philipp Meier die zu defensive Dokumentation des Zürcher Kunsthauses in Bezug auf die Sammlung Bührle: "Manchmal braucht es eben die richtigen Worte, um den richtigen Ton zu treffen - auch wenn 'Rüstungsindustrieller' und 'Waffenfabrikant' im Grunde ja dasselbe sein mögen. Leider sind es aber gerade solche Unterschiede, die in der vom Kunsthaus selber erstellten Dokumentation auffallen. Es soll kein böses Wort mehr fallen. Solches wird tunlichst vermieden." In der FAZ schreibt Freddy Langer zum Tod der Fotografin Evelyn Richter: "Evelyn Richter hatte eine klare Vorstellung vom Auftrag der Fotografie. Ein gutes Bild, erklärte sie, müsse ein Sinnbild sein, müsse die Kraft des Erlebnisses enthalten, Emotionen verdichten und Inhalte transportieren."

Besprochen werden Anickas Yis fliegende Organismen in der Tate Modern (die der enttäuschte Adrian Searle im Guardian dann doch zu lahm fand, um zu bezaubern oder zu erschrecken), eine Nicolas-Poussin-Schau in der National Gallery in London (Observer), die Schau "Der geteilte Picasso" über die unterschiedliche Rezeption in Ost und West im Kölner Museum Ludwig (Tsp), Ilana Lewitans Ausstellung "Adam, wo bist du?" in der Berliner Parochialkirche (Tsp) und eine Ausstellung über die Theaterfotografin Ruth Walz im Museum für Fotografie in Berlin (Standard).
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Bühne

Im Pandaemonium: Alban Bergs "Wozzeck" am Staatstheater Kassel. Foto: N. Klinger

Ein Musiktheater der Zukunft hat SZ-Kritiker Egbert Tholl mit Florian Lutz' Eröffnungspremiere am Staatstheater Kassel mit Alban Bergs "Wozzeck" erlebt. Die ZuschauerInenn saßen nicht im Parkett, sondern im Pandaemonium, einer Raumbühne: "Im Geschehen, irgendwo in dem spektakulären, mehrgeschossigen Stahlgestänge, mit dem Sebastian Hannak den Bühnenraum gefüllt hat, die Seitenbühnen und die Hinterbühne, um das Portal herum und auch ein bisschen in den 'normalen' Zuschauerraum ragend. Unter einem, auf dem leicht terrassierten Boden der Bühne, sitzt das Staatsorchester Kassel, weit aufgefächert, und Francesco Angelico dirigiert es mit so bei diesem Stück noch nie erlebter Poesie. Alban Bergs 'Wozzeck', per se schon ein Schrei nach Humanität, wird hier zu einem ganz neuem Erlebnis, weil man im Klang sitzt, der den Raum ausfüllt, weil man wirklich jedes einzelne Instrument orten kann und man so ganz unmittelbar erfährt, was die Arbeit eines großen Orchesters ja immer ist: ein Gesamtergebnis hergestellt von vielen Individuen."

Besprochen wird Marie Bues' Inszenierung von Thomas Köcks "Klimatrilogie" am Schauspiel Hannover (taz).
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Film

Reservoir Dogs waren gestern, hier sind die Reservation Dogs (Disney+)

Patrick Heidmann freut sich in der taz über die auf Disney+ gezeigte Serie "Reservation Dogs", die erste, die von Native Americans geschrieben und produziert wurde. Gedreht wurde mitten im Nirgendwo in den USA. "Sehr eindrücklich" fange die Serie "die Trostlosigkeit dieser Welt ein, die Bear und Elora so gerne gegen das Unendliche weit weg und Kalifornien eintauschen wollen." Und auch wenn es unter anderem um die "Alltagsrealität amerikanischer Indigener" geht, ist die Serie dennoch nie "Sozial- oder Milieustudie, sondern immer in erster Linie Komödie. Der Humor ist oft albern und schräg."

Weitere Artikel: Sarah Pines spricht in der Welt mit den Gesellschaftsreportern Daphne Barak und Erbil Gunasti, die für ihre TV-Doku "Struggling for One America" mit Rechten, Konservativen und Trump-Anhängern in Hollywood gesprochen haben, die sich zwar bedeckt halten, was ihre politische Einstellung betrifft, um keine Einbußen hinnehmen zu müssen, aber offenbar sehr gerne in TV-Dokus darüber sprechen. Die ZDF-Kinderserie "Das Zockerhaus" sieht sich Vorwürfen gegenüber, sexistisch und homophob zu sein, berichtet Karsten Laske im Freitag. Schauspieler Christoph Maria Herbst plaudert in FR und ZeitOnline über seinen neuen Film "Es ist nur eine Phase, Hase". In der FR schreibt Daniel Kothenschulte einen Nachruf auf den Filmemacher Helmut Herbst, der aus dem Geist des Jungen Deutschen Films experimentelle Animations-, Kurz- und Dokumentarfilme produzierte. Ein Werkgespräch mit ihm gibt es auf Youtube:



Besprochen werden Ridley Scotts Ritterdrama "The Last Duel" (FAZ), die Netflix-Serie "Midnight Mass" (Freitag) und der ARD-Film "Geliefert" mit Bjarne Mädel (FR).
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Musik

Helmut Mauró freut sich in der SZ über die Gelegenheit zur Wiederenteckung des Komponisten Alexander von Zemlinsky, die sich ihm an der Staatsoper Prag im Rahmen eines kleinen Festivals bot. In der NMZ berichtet Roland H. Dippel. Manuel Brug beugt sich für die Welt über den Taktstock als Fetischobjekt. Wolfgang Sandner resümiert in der FAZ das Festival Haydneum in Budapest. Konstantin Nowotny schreibt im Freitag darüber, wie man Spotify und seiner Regel, dass ein Stream erst nach 30 Sekunden Tantiemen abwirft, ein Schnippchen schlagen kann (etwa indem man acht Stunden lange, in 30 Sekunden gestückelte Alben mit Regengeplätscher als Schlafsoundtrack veröffentlicht). Eric Facon (NZZ) und Jan Wiele (FAZ) gratulieren Paul Simon zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden ein Film über a-ha (NZZ), das neue Album von Low (Jungle World), Joe Sachses Jazzalbum "Die Kleine Freiheit" (FR), Space Afrikas Album "Honest Labour" (taz), Soshi Takedas auf Synthesizern aus den Neunzigern aufgenommenes Vaporwave-Album "Floating Mountains" (Pitchfork) und neue Popveröffentlichungen, darunter das Debüt von Finneas, dem Bruder und Produzenten von Billie Eilish (SZ). Im Video denkt er zurück an die Neunziger:

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