Efeu - Die Kulturrundschau

Sogar das Bildformat ist g'spürig

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16.07.2020. Die FAZ bewundert in Paris die strahlend-farbigen Abstraktionen von Otto Freundlich. Außerdem zeigen die Modedesigner in Paris Männermode für den nächsten Sommer, die von Architektur, Keramik, Korbflechterei und Shibori-Techniken beeinflusst ist, berichten das Blog Disneyrollergirl und die Vogue. Die Filmkritiker gratulieren Trey Edward Shult zu seinem Drama "Waves". Im Van Magazin erklärt Musikprofessorin Kirsten Reese, warum so wenige Frauen in den Musikhochschulen reüssieren - trotz Gleichstellungsbeauftragter. Die FAZ liefert Hintergründe zur schlechten Stimmung im Literaturarchiv Marbach.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.07.2020 finden Sie hier

Kunst

Otto Freundlich, Kompositon, 1911. Musée d'Art Moderne de Paris


Schade, dass dem Werk des 1943 von den Nazis ermordeten Künstlers Otto Freundlich in Deutschland weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird als Kandinsky, Mondrian oder Klee, bedauert in der FAZ Bettina Wohlfarth anlässlich einer Freundlich-Retrospektive im Pariser Musée Montmartre. Andererseits passe der französische Ausstellungsort sehr gut, weil Freundlich in Montmartre 1911 zur Abstraktion fand: "'Composition' ist das erste abstrakte Gemälde von Otto Freundlich. Es übersetzt den Geist der figurativen Zeichnung - die Bewegung, das Miteinander, das individuelle Allgemeine der sieben Figuren - in eine abstrakte Farben- und Formensprache. Von diesem Zeitpunkt an wird Otto Freundlich in der Malerei wie in der Bildhauerei mit den Möglichkeiten der Auflösung und Zusammenwirkung von Formen und Farbfeldern experimentieren. Die 'décomposition' sei geheimnisvoller als die 'composition', denn sie sei die Tendenz des Lebens und der Schönheit, schreibt er 1914". Ebenfalls über die Ausstellung berichtet das Paris-Blog.

Weitere Artikel: In der Zeit berichtet Alice Bota von der russischen Künstlerin Julia Zwetkowa, der im schlimmsten Fall sechs Jahre Haft drohen wegen "Verbreitung von Pornografie", so die Anklage. Ihr Vergehen: Sie hat "Vulven, gezeichnet mit Bleistiften, gemalt mit Aquarellfarben, gestickt, gehäkelt", auf dem russischen Facebook, Vkontakte, ausgestellt.

Besprochen werden außerdem die Werkschau von Otobong Nkanga im Martin Gropiusbau in Berlin ("eine poetische Warnung an die Egoisten: Selektive Fürsorge für Land, Körper und Gesellschaft führt ins Systemversagen", freut sich Till Briegleb in der SZ)
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Design

In Paris zeigen die Modedesigner gerade ihre Frühlingskollektionen für die Herren 2021, zumeist online. Navaz Batliwalla haben besonders die Kollektionen für Berloti und Loewe gefallen, erzählt sie in ihrem Blog Disneyrollergirl. Für Berloti ließ sich Designer Kris van Assche von den Arbeiten des Keramikers Brian Rochefort, seinem Umgang mit Farben und Texturen inspirieren. Die Prints, die Assche in diesem Video zeigt, in dem er sich auch mit Rochefort über die Zusammenarbeit unterhält, sind wirklich fantastisch!



Gut gefallen hat Batliwalla auch Jonathan Andersons Show für Loewe: "Andersons Herrenkollektion ist wunderschön ohne den 'Lärm' des Showbusiness. Sie zeigt Ankläge an Korbflechterei, Shibori-Techniken und Wandteppiche, die in architektonische Formen übersetzt wurden, die auf Schaufensterpuppen in einer ruhigen Studioumgebung ausgestellt wurden. Das funktioniert gut, aber noch besser, wenn man die dazugehörige Erklärung hat. Die Trenchcoats und Shibori-Stücke sind meine Favoriten, zusammen mit den Taschen. Ich dachte zuerst, dies sei die Vorkollektion der Frauen, was zeigt, dass geschlechtsspezifische Kleidung irgendwie sinnlos ist." Hier das Video zu Loewe, in dem Anderson auch seine Ideen erklärt:



Wenn wir schon mal über Architektur in der Mode reden, sei auch noch auf die Kollektion von Dolce und Gabbana hingewiesen, die sich von Gio Pontis Parco dei Principi Hotel in Sorrento inspirieren ließen. "Oft waren die Verbindungen einfach kosmetischer Natur", meint in der Vogue Luke Leitch: "die schönen blauen Kachelmuster im Hotel waren hübsche Ergänzungen für einen Seidensarongs, einen gerippten 'Neoprenanzug' (der mit einem urkomischen kleinen Surfbrett gemodelt wurde), für Bademäntel, Hosen und Hemden. Komplexer war die Reproduktion in voll proportionierten Strickpullovern oder anders gewaschenen Patchwork-Teilen auf Jeans. Pontis Hotel war kein Neubau, sondern um ein bereits bestehendes Gebäude aus dem 17. Jahrhundert herum gebaut worden, das sich ebenfalls in den mediterranen Kontext einfügen sollte, daher die blauen Fliesen. Heute haben Dolce & Gabbana etwas Neues aus der bereits bestehenden Architektur der Schneiderei gemacht, indem sie breite Hosen mit gefältelter Rückseite als Grundlage für schlanke Jacken vorschlugen, deren Abnäher mit Stecknadeln markiert waren."

Hier die ganze Kollektion. Und hier das Video:



Außerdem: In der Jungle World stellt Tal Leder das israelische Modelabel Palta vor, das inklusive Mode entwirft.
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Bühne

In der Zeit singt Daniel Kehlmann ein Loblied auf Lin-Manuel Mirandas Rap-Musical "Hamilton". Besprochen wird Stefan Kaegis Phantomtheater für 1 Person "Black Box" am Staatstheater Stuttgart (nachtkritik).
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Film

Höchste Höhen: "Waves" von Trey Edward Shults

Breit besprochen wird Trey Edward Shults' Drama "Waves", in dem eine afroamerikanische Familie einen traumatischen Verlust bewältigen muss. Der Regisseur kommt vom Horrorfilm und auch dieser Film lebe von einer "einer unheilvollen Spannung, die den knalligen Bildern zu widersprechen scheint, bis Männlichkeitswahn und hochtouriger Stilwille ganz logisch implodieren", erklärt Philipp Bühler in der Berliner Zeitung: "Der Filmemacher hat beim ätherischen Altmeister Terrence Malick hospitiert, das sieht man."

Der Film "will von den höchsten Höhen zu den tiefsten Tiefen, stürzt sich per Kopfsprung in gefährliche Gefühlsbecken, statt an der Oberfläche herumzudümpeln", freut sich Andrey Arnold in der Presse über diese "begrüßenswerte Tendenz im US-Kino", das sich zusehends aus der Ironiefalle befreie: "Nahaufnahmen und Berührungsbilder, Blendflecken und flimmernde Farben verleihen dem zuweilen doch enorm schematischen Geschehen berückenden, impressionistischen Glanz. ... Sogar das Bildformat ist g'spürig, passt sich der Atmosphäre an." Andreas Busche lobt im Tagesspiegel die "erstaunliche psychologische Reife" des noch recht jungen Regisseurs, der hier seinen dritten Film vorlegt. Weitere Besprechungen in SZ und taz.

Weitere Artikel: In der Filmbranche kursiert ein Katalog mit Forderungen nach einschneidenden Maßnahmen in Sachen ökologisches Filmdrehen, berichtet David Steinitz in der SZ. Im Freitag spricht Burhan Qurbani über seine "Berlin Alexanderplatz"-Verfilmung (unsere Kritik). Jörg Seewald beobachtet für die FAZ die ersten Drehtage der Filmbranche unter Coronabedingungen. In der SZ empfiehlt Fritz Göttler die Online-Retrospektive Wolf-Eckart Bühler des Filmmuseums München.

Besprochen werden Marjane Satrapis "Marie Curie" (Perlentaucher, Intellectures), Patricio Guzmáns Dokumentarfilm "Die Kordillere der Träume" (taz), Justine Triets "Sibyl" (Perlentaucher, Tagesspiegel), Ruth Schweikerts und Eric Bergkrauts "Wir Eltern" (SZ), Cathy Yans Superschurkinnenfilm "Birds of Prey" mit Margot Robbie als Harley Quinn (taz) und ein Dokumentarfilm über Wim Wenders (FR).
Archiv: Film

Literatur

Von der offenbar ziemlich schlechten Stimmung in der Belegschaft des Literaturarchivs Marbach dringt mehr und mehr nach außen. In der FAZ liefert Rüdiger Soldt Hintergründe zu den Konflikten zwischen den Mitarbeitern und der dort seit Januar 2019 tätigen Direktorin Sandra Richter: Einige nach Amtsantritt rasant durchgesetzte und im Kollegium immens unpopuläre Personalentscheidungen haben hier einiges ins Rutschen gebracht. Doch "die Probleme in Marbach haben auch institutionelle Ursachen: Dass die Schillergesellschaft mit schwindender Mitgliederzahl als Verein eine Kultureinrichtung von nationaler Bedeutung trägt, ist ungewöhnlich und ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert. Seit der Satzungsreform 2012 sind die Geldgeber, also das Land und der Bund, im Kuratorium der Schillergesellschaft deutlich stärker vertreten. Besser wäre es vermutlich, das Literaturmuseum der Moderne, das Archiv, die Bibliothek und das Schiller-Nationalmuseum in eine Stiftung zu überführen und das DLA von einer Doppelspitze, also einem wissenschaftlichen und einem geschäftsführenden Direktor, führen zu lassen."

Besprochen werden unter anderem die ersten zwei Bände der Gesamtausgabe des Entencomic-Zeichners Don Rosa (Dlf Kultur),  Wiglaf Drostes postumer Gedichtband "Tisch und Bett" (Tagesspiegel), Khaled Khalifas "Keine Messer in den Küchen der Stadt" (Tagesspiegel), Albrecht Selges "Beethovn" (online nachgereicht von der FAZ), Siegfried Unselds "Reiseberichte" (SZ) und Georg M. Oswalds "Vorleben" (FAZ).
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Architektur

In der FAZ stellt Matthias Alexander den neuen Grand Tower von Architekt Magnus Kaminiarz in Frankfurt vor, eine beschwingte Skulptur, lobt er. Dass dort keine einzige Sozialwohnung zu finden ist, findet er verständlich. Besprochen wird eine Ausstellung im Aedes Architekturforum Berlin zu den Arbeiten des norwegischen Architekturbüros Snøhetta (taz).
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Musik

Eigentlich wollten die Berliner Verkehrsbetriebe die seit langem für ihre Bezeichnung kritisierte Berliner U-Bahnstation Mohrenstraße in U-Bahnhof Glinkastraße umbenennen, nur um einen rasanten Rückzieher zu machen, als es hieß, der so zu Ehren kommende Komponist sei Antisemit gewesen. Der russische Komponist Vladimir Tarnopolsky kann das im Van Magazin nicht nachvollziehen: Nicht nur Michail Iwanowitsch Glinkas Reisefreudigkeit und Neugier auf andere Kulturen sprächen dagegen, sondern auch sein "Jüdisches Lied" in der Oper "Fürst Cholmski". Dass Glinka den Komponisten Anton Rubinstein als "frechen Zhid" bezeichnet haben soll, sei ein Fall für die Philologen, meint Tarnopolsky: "Zwar ist die Benutzung des Wortes 'Zhid' im modernen Russisch eindeutig antisemitisch, es hatte aber zwischen dem 13. und dem 19. Jahrhundert völlig andere Konnotationen - wie ein Artikel des russischen Nationalkorpus besagt. Demzufolge 'existierten die Wörter Zhid und Jude und ihre Ableitungen in der literarischen Sprache im 18. und 19. Jahrhundert parallel, wobei die Form Zhid bis zum letzten Viertel des 19. Jahrhunderts die bevorzugte war; in den 1870er Jahren wurde dann Jude zur Hauptform.' Glinka starb 1857. Im Polnischen lässt sich das Wort 'Jude' immer noch als 'Żyd' übersetzen. Glinka verwendete das Wort 'Zhid', wie auch der berühmte Schriftsteller Alexander Puschkin, wahrscheinlich ohne jede Abfälligkeit."

In VAN spricht die Musikprofessorin Kirsten Reese über die Ergebnisse einer Studie, die vor Augen führt, wie wenig Frauen in den Musikhochschulen auf Führungspositionen vordringen: "Bei den Professuren ist das Problem, dass die Berufungsverfahren sehr reglementiert sind. Es gibt eigentlich schon ganz viele Gleichstellungsaufträge zu diesen Verfahren, die gibt es auch schon ewig. Aber man hat sich fast angewöhnt, die zu missachten. Bei gleicher Qualifikation einer Bewerberin und eines Bewerbers muss eine Stelle laut Berliner Landesgleichstellungsgesetz eigentlich der Frau gegeben werden, aber danach kräht kein Hahn. Stattdessen sagt man einfach: Es ist doch nicht ganz die gleiche Qualifikation."

Weitere Artikel: Thilo Eggerbauer wirft für die SZ einen Blick in die geradezu bedrückend öde Welt des Musik-Marketings unter neuen Social-Media-Bedingungen. In VAN spricht Daniel Glatzel über die Lage seines Andromeda Mega Express Orchestras unter Coronakrisenbedingungen. Gunnar Leute erinnert in der taz daran, dass Berlin vor 100 Jahren Schallplatten-Metropole war. In der VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker über Camilla de Rossi.

Besprochen werden Sam Auingers und Hannes Strobls Klanginstallation "tamtam" im Berghain in Berlin (Tagesspiegel) sowie neue Alben von Haiyti (taz), L.A. Salami (Berliner Zeitung, Tagesspiegel) und Coriky (Pitchfork).
Archiv: Musik