Efeu - Die Kulturrundschau

Auf dem Karussell der samtigen Verführung

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29.05.2020. Die Filmkritiker trauern um die wunderbar trotzige, unerschrockene Schauspielerin Irm Hermann. ArtReview staunt über den kronenartigen Umfang der Bilder von Ida Applebroog aus den Sechzigern. Die deutschen Theater bitten Angela Merkel um Geld, damit sie nicht von den Kommunen kaputtgespart werden. In der taz erklärt Berliner Songwriter Hans Unstern, wie er mit seiner selbstgebauten Harfe aus Holz und Stahl und vierzig automatisierten Hubmagneten spielt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.05.2020 finden Sie hier

Film



Irm Hermann ist tot. Sie war eines der prägenden Gesichter des Neuen Deutschen Films: Zahlreiche Male stand sie für Fassbinder vor der Kamera, daneben gab es Auftritte bei Werner Herzog, Hans W. Geißendörfer, Karin Brandauer, Percy Adlon und Reinhard Hauff, später bei Rudolf Thome, Loriot und Christoph Schlingensief, mit dem sie eng zusammenarbeitete. Georg Seeßlen verneigt sich auf ZeitOnline tief vor der Schauspielerin, der er einige seiner spannendsten Stunden Kino verdankt: "Denn sie spielte nicht, sie war die junge Frau aus dem süddeutschen Kleinbürgertum, die davon träumte, 'mal was ganz anderes' zu machen als das, wozu sie vom Klassenschicksal bestimmt zu sein schien. Aber der Inhalt ihres Spiels war genau das: Die Formalismen, die Begrenzungen, die Traurigkeiten, auch die Gewalt des Kleinbürgertums. ... Ihr Stil war eine besondere Form der Abstraktion. Die Worte kamen aus ihr heraus wie etwas Fremdes, das man sich mit großer Anstrengung und großem Trotz aneignen muss, und ihr Körper bewegte sich, als wäre er gewöhnt, immer ganz buchstäblich anzuecken."

Christine Dössel ergänzt in der SZ: "Das puppenhaft Starre an ihrem Spiel, diese ausgestellte Bewegungslosigkeit, begleitet oft von einem maliziösen Lächeln, wurde zu Irm Hermanns Markenzeichen. Dazu ihre explizite Art des Sprechens (mit bayerischem Einschlag), die sich wie eine Kunstsprache anhört." Andreas Busche erinnert im Tagesspiegel daran, dass Irm Hermann sich nach zahlreichen Filmen aus Fassbinders Schatten heraus emanzipierte: "Unerschrocken war Irm Hermann. Und dabei verstand sie es wie kaum eine zweite, mit ihrem leicht quecksilbrigen Blick in die Kamera zu schauen, als könne sie kein Wässerchen trüben." Bei Schlingensief trat sie dann völlig aus sich heraus:



Weitere Nachrufe in FAZ, FR ,Welt und in der Berliner Zeitung. Im Dlf Kultur erinnert sich Rosa von Praunheim an Hermann und widmet ihr ein spontan verfasstes Gedicht. Ebenfalls beim Dlf Kultur steht das Hörspiel "Teure Schwalben" mit Irm Hermann online. Zu hören ist sie auch im dritten Teil des Kempowski-Hörspiels "Der Krieg geht zu Ende - Chronik für Stimmen". Daneben haben RBB Kultur, WDR5 und Dlf Kultur große Gespräche mit der Schauspielerin aus ihren Archiven online gestellt. 2014 war sie zu Gast beim Deutschen Filmmuseum in Frankfurt:



Besprochen werden die DVD-Veröffentlichung von Christian Braad Thomsens Porträtfilm "Fassbinder - lieben ohne zu fordern" (taz), eine Netflix-Doku über Jeffrey Epstein (FAZ, Presse) und Fernando Frias' Netflix-Film 'I'm No Longer Here" (Tagesspiegel).
Archiv: Film

Literatur

"Zunächst etwas ratlos" schaut Tagesspiegel-Kritiker Gerrit Bartels auf die Teilnehmerliste des Bachmannwettbewerbs, auf der in diesem Jahr viele eher unbekannte Namen stehen.

Besprochen werden unter anderem Sabine Scholls "O" (Standard), Otto Jägersbergs Prosaband "Liebe auf den ersten Blick" (ZeitOnline), Jean-Henri Fabres "Erinnerungen eines Insektenforschers. Band 10" (NZZ) und Uli Oesterles Comic "Vatermilch. Buch 1: Die Irrfahrten des Rufus Himmelstoss" (SZ).
Archiv: Literatur
Stichwörter: Scholl, Sabine

Kunst

Ida Applebroog (b. 1929) Mercy Hospital 1969 © Ida Applebroog. Courtesy Hauser & Wirth

Im Londoner Freud-Museum steht Tom Denman (ArtReview) staunend vor den Bildern der amerikanischen Künstlerin Ida Applebroog, die sie Ende der Sechziger während eines sechswöchigen Aufenthalts im Mercy Krankenhaus in San Diego gezeichnet hatte. Sie hatte sich wegen schwerer Depressionen selbst dort einweisen lassen. "Die Kühnheit der Umrisse, die Veränderungen der linearen Textur und die Professionalität, mit der jede Linie ausgeführt ist (was wiederum ein Beweis für ihre Ausbildung als Grafikdesignerin ist), und der Kontext des Krankenhausaufenthalts, in dem Applebroog diese Zeichnungen anfertigte, verleihen ihnen eine organische Zellularität, die bedrohlich ist. 'Ich bin mehr daran interessiert, dem Betrachter etwas anzutun, als ihm etwas zu sagen', würde Applebroog später in einem Dokumentarfilm sagen, der 2016 von Beth B, ihrer Tochter, gedreht wurde. Sie ähneln auf einmal den zellularen Formen, die man durch ein Mikroskop sieht, und den geografischen Formationen, die man makroskopisch aus großer Höhe oder aus dem Weltall betrachtet. Inmitten einer Pandemie ist es in der Tat nicht zu übersehen, dass sie eine unheimliche Ähnlichkeit mit vergrößerten (und viralen) fotografischen Bildern des Coronavirus haben, das seinen Namen von dem durchbohrten, kronenartigen Umfang seiner Membran hat."

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Kunst zwischen 1933 und 1945" im Landesmuseum Oldenburg (taz) und eine Ausstellung zur Sammlungsgeschichte der Familie Burda im Museum Frieder Burda in Baden-Baden (FAZ)
Archiv: Kunst

Bühne

"Wir möchten die Theater wieder aufmachen dürfen, wir möchten arbeiten und spielen und wieder für die Stadtgesellschaft da sein! Und hoffen hierbei auf Ihre Unterstützung", schreiben deutsche Theater in einem Brief an Angela Merkel, berichtet Kristian Teetz in der FR. "Dazu macht der Brief konkrete Vorschläge. Die Vertreter der Theaterhäuser betonen, man müsse als Folge der Corona-Krise mit Sparhaushalten und massiv einbrechenden Steuereinnahmen rechnen, insbesondere in den Kommunen. 'Der Reflex, auf kommunaler Ebene ineffizient, aber symbolisch wirksam bei Kultur und Kunst zu sparen, ist traditionell hoch und ökonomisch nicht zielführend. Wie kann man verhindern, dass die Kommunen in ihrer Not die Institutionen kaputtsparen (müssen)?', fragen die Unterzeichnenden des offenen Briefs." Ihr Vorschlag: Bundesmittel zur Unterstützung der Theater und der freien Bühnenkünstler.

Die Streamingangebote deutscher Theater werden erstaunlich gut angenommen, meldet Nicholas Potter in der taz mit Blick auf die Zahlen. Er selbst kann sich allerdings gut noch Verbesserungen vorstellen: "Ein Vorteil von Streaming ist seine örtliche und zeitliche Flexibilität. Allerdings werden die Aufzeichnungen vieler Häuser nur für 24 Stunden oder gar weniger online zur Verfügung gestellt. Das hat seine Gründe: Wenn alle schon das ganze Repertoire gebingewatched haben, kommt vielleicht keine*r mehr nach der Krise. Trotzdem ist es eine verpasste Chance des digitalen Mediums. Und mit den Lockerungen der Schutzmaßnahmen verpasse ich immer häufiger die engen Streamingzeitfenster." Da hilft wenigstens ein bisschen der Online-Spielplan der nachtkritik.

Außerdem: Berlins Kultursenator Klaus Lederer erklärt im Interview mit der taz, wie sich die Bühnen auf den Spielbetrieb unter Corona-Maßnahmen vorbereiten.
Archiv: Bühne

Design

Bubble Fußball. Foto: Julkina / Wikipedia unter cc-Lizenz

Gar nicht so einfach: Abstand halten bei gemeinsamen Unternehmungen wie einem Restaurantbesuch oder Fußballspiel. Mit etwas Fantasie findet sich jedoch für alles eine Lösung, erkennt Marcus Boxler bei monopol: "In Pariser Restaurants testen die Betreiber Abschirmung durch gloschenförmige Plastikschutzschilde - sprich eine 'Speiseglocke'. Nachdem der anfängliche Ulk-Effekt verflogen ist, bleibt die subtile Ernsthaftigkeit als B-Note auf der Zunge haften.

Gabrielle Boller denkt in der NZZ unter den Eindrücken vieler Tagesschauen über die Männer- und Frauenmode nach: Während Frauen eine spielerischere, farbenfrohere Palette zur Verfügung steht, liegt für den Mann in der Regel der seriöse Anzug nahe. Schade, denn im Ancien Régime durfte auch der (adlige) Mann sich noch pfauenartig in Szene setzen. Doch mit der bürgerlichen Revolution "unterwirft sich der Männerkörper dem Gebot der Vernunft und wird sachlich, während der Frauenkörper im ständigen Spiel mit der Mode sichtbar erotisch wird. Genau besehen ist das eine Verzichtsleistung der Männer, für die sie zumindest mit dem Universalkleidungsstück Anzug belohnt werden, dem Bauhaus im Garderobenschrank - praktisch und wertbeständig in beherrschter Reduktion. Enttäuschungen drohen allenfalls bei stümperhafter Ausführung. ... Als Frau könnte man fast neidisch werden - oder sind es vielmehr die Männer, die frustriert sind und wieder aufs Karussell der samtigen Verführung aufspringen möchten?"
Archiv: Design

Musik

Der Berliner Songwriter Hans Unstern ist einer und viele zugleich, er heißt vielleicht gar nicht Hans und seinen Körper bilden viele Körper, erfahren wir im taz-Gespräch. Abseits solcher Dekonstruktionsdiskurse fällt die Rede in dem Gespräch auch auf das Kompositionsprinzip, das Unsterns neues Album "Diven" trägt: Die Grundlage bildet eine selbstgebaute, verschieden spielbare Harfe aus Holz und Stahl, der jede Note auf diesem Album entspringt und dies "dank der über 40 automatisierten Hubmagnete zustande, die an Saiten und Harfenrahmen klopfen können." Dabei "verwendeten wir Formen von Aleatorik, also Kompositionsprinzipien, die auf Zufall basieren. Das Arrangement für den Song 'Keine Zeit' zum Beispiel entstand bei einer Improvisation mit der akustischen Harfe zu einem schmatzenden, meditativen Beat. Dieser setzt sich aus vielen rhythmischen Figuren zusammen, die im Sequenzer von einem Zufallsgenerator aneinandergereiht werden. Für die Klangformung des Beats verstärkte Simon Bauer die mechanischen Geräusche der Relais, die die Impulse zum Auslösen der Hubmagnete an die Metallharfe schicken. Statt dieses Klicken als Störgeräusch wahrzunehmen und zu verstecken, betrachteten wir es als Ausgangspunkt für das Arrangement des Songs. Als die V-Harfe durch diese Automatisierung zu einer Maschine wurde, wollten wir ihr möglichst viel Autonomie geben." Ein Video:



Außerdem: Christina Mohr schreibt in der taz über die Fundraising-Aktion "See You Soon" des Offenbacher Clubs Robert Johnson. Artur Weigandt stellt in einem online nachgereichten FAZ-Artikel die russische Elektropopband Shortparis vor. Ebenfalls online nachgereicht hat die FAZ ihr Gespräch mit Rob Overman vom kanadischen Musikkonzern Stingray, der sein Klassikstreaming-Angebot sehr enthusiastisch lobpreist. Besprochen wird das neue Album von Nick Hakim (Berliner Zeitung).
Archiv: Musik