Efeu - Die Kulturrundschau

Gute Rahmung

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30.04.2020. Die taz porträtiert die 73-jährige Experimentalfilmemacherin Helga Fanderl, die seit den achtziger Jahren ausschließlich mit Super-8-Film arbeitet. Die nachtkritik baut eine digitale Theaterwelt um die Inszenierungen herum. In der FR erklärt das Mannequin Michelle Elie die transformierende Kraft der Kleider von Rei Kawakubo. Der Tagesspiegel beobachtet das Wettrennen um die Corona-Bestseller. Die Welt warnt Kunst und Künstler: mehr Geld vom Staat macht euch stumm.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.04.2020 finden Sie hier

Film

Michael Freerix porträtiert für die taz die in Berlin lebende 73-jährige Experimentalfilmemacherin Helga Fanderl, die erst in den Achtzigern das Filmemachen - und zwar ausschließlich auf Super8 - für sich entdeckt und dabei eine "einprägsame Formsprache" entwickelt hat. Super8 ist allerdings eine mehr und mehr randständige Form des Filmemachens: "Auf weitaus billigere digitale Techniken umzusteigen kam für Fanderl nie infrage. Dies würde bedeuten, eine klar bestimmbare, künstliche Ästhetik durch die Anwendung von technischem Wissen herzustellen. Das wäre das Gegenteil ihres Ansatzes. Und überhaupt: ihre analogen Filme sind Unikate, die bei jeder Vorführung ein paar Schrammen mehr bekommen. Die Zeit schreibt sich ihnen ein." Ein Beispiel findet sich auf Vimeo:



Sebastian Grüner begrüßt im Golem-Kommentar die Entscheidung der Academy, sich für das Streaming zu öffnen und sich mit teils schwer anachronistischen Regelungen für die Jury-Arbeit der Oscars nicht mehr zufrieden zu geben: Die Juroren können die Filme nun auch streamen. "Eigentlich sollte damit das Problem der vielfach kritisierten Homogenität der Jury und ihrer Preisvergabe angegangen werden. Denn vor allem Filme in der Kategorie Bester internationaler Film haben oft überhaupt keinen Verleiher in der USA und laufen, wenn überhaupt, nur sehr beschränkt in Kinos. Darüber hinaus mussten Filme für die Zulassung zum Oscar-Wettbewerb bisher lediglich in Kinos in Los Angeles gezeigt werden. Letzteres beschränkt die Möglichkeit von Juroren massiv, den Film überhaupt sehen zu können. Für eine diverse Entscheidung sind das keine gute Voraussetzungen."

Weitere Artikel: Tim Caspar Boehme schreibt in der taz über das unter Beteiligung von zwanzig internationalen Filmfestivals - darunter die Berlinale und Cannes - ins Leben gerufene Online-Filmfestival "We Are One", das ab 29. Mai auf Youtube stattfinden, allerdings keine prestigereichen Wettbewerbsfilme zeigen wird. Im Standard spricht Willem Dafoe über seinen neuen, auf Disney+ gezeigten Film "Togo". Im taz-Gespräch gibt sich Antje Strohkarm von der Hamburger Dokumentarfilmwoche zuversichtlich, Teile des nun ausgefallenen Programms im Herbst nachholen zu können. Urs Bühler schreibt in der NZZ einen Nachruf auf den indischen Schauspieler Irrfan Khan. Bei The Film Stage kann man Jean-Luc Godards auf Instagram gegebene Masterclass sehen. Der Guardian meldet, dass die dänische Erfolgsserie "Borgen" von Netflix ein Comeback beschert bekommt. SZ-Kritiker Egbert Tholl empfiehlt Will Trempers wunderbaren Film "Die endlose Nacht" von 1963, in dem zahlreiche Reisende auf Berlin-Tempelhof stranden. Die letztes Jahr verstorbene Hannelore Elsner hat hier einen ihrer ersten Auftritte:



Besprochen werden Denis Côtés als VoD angebotene "Ghost Town Anthology" (Zeit), Jasco Viefhues' per VoD ausgewerteter Dokumentarfilm "Rettet das Feuer" über den Fotografen Jürgen Baldiga (taz) und Sebastian Heinzels auf DVD veröffentlichter Dokumentarfilm "Der Krieg in mir" über aus der Großvätergeneration weitergegebene Kriegstraumatisierungen (FAZ).
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Design

Michelle Elie (links) in Comme des Garçons


Manuel Almeida Vergara unterhält sich für die FR mit dem Model Michelle Elie über Rei Kawakubo. Elie sammelt Kleider, die Kawakubo für das von ihr gegründete Label Comme des Garçons entwirft. Sogar eine Ausstellung im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt ist geplant. Gesammelt hat Elie immer nur Kleider, die sie auch tragen wollte. "Als ich später zum ersten Mal schwanger war, hat sich dieser persönliche Bezug verstärkt. Ich habe mich in einem Kleid aus Kawakubos Kollektion 'Body Meets Dress, Dress Meets Body' aus dem Jahr 1997 porträtieren lassen. Das war ein sehr interessanter Moment, weil dieses Kleid mit meinem eigenen Zustand korrespondierte. Das Kleid veränderte massiv den Körper und die eigene Wahrnehmung davon, so wie auch eine Schwangerschaft die Körperform und die Gedankenwelt verändert. Das waren zwei physische und mentale Transformationen, sie sich krass gegenüberstanden und doch miteinander harmonierten."
Archiv: Design

Literatur

Kerstin Decker vom Tagesspiegel beobachtet das Wettrennen um die Corona-Bestseller: Die Genreliteratur brachte schon Mitte März die ersten Reißer, zahlreiche Verleger wühlen in den Back-Katalogen, ob sich da nicht noch der eine oder andere vergriffene Pandemie-Thriller findet, den man nun wieder auf den Markt werfen kann. Etwas reflektierter sei Paolo Giordanos ursprünglich auf Italienisch abgefasster Text "In Zeiten der Ansteckung", der in kürzester Zeit auch auf Deutsch erschien. "Die Vorgabe der Italiener war klar: Herauskommen müsse der Text ungefähr so schnell, wie der Autor ihn geschrieben hat. Dabei, überlegt die Lektorin, dauert es gemeinhin Monate, bis überhaupt die Verträge gemacht sind. Der Zeitbegriff der Verlage stammt gewissermaßen noch aus der vorindustriellen Ära. Verlage denken in Jahren, nicht in Monaten oder gar Wochen. Traust du dir das zu, fragte die Lektorin ihre Italienisch-Übersetzerin Barbara Klein. Die zögerte und versprach zurückzurufen. Kurz darauf meldete sich eine vor Entschlossenheit vibrierende Stimme: 'Ich schaffe das!' Ein Arbeitstag hat acht Stunden? Falsch. Notfalls hat er 24."

Ziemlich skeptisch zeigt sich Kai Spanke in der FAZ über diesen Buchtrend: Einschätzungen brauchen Zeit und eine klar sortierte Faktenlage. "Man ist geneigt, von einem neuen Genre zu sprechen, dessen Urheber auf die Notwendigkeit sozialer Distanz mit der Aufgabe historischer Distanz reagieren. Während Virologen hervorheben, wir stünden womöglich noch am Beginn der Pandemie, behandeln viele Zeitdiagnostiker Covid-19 und die Folgen wie ein Ereignis, das sich bereits gut überschauen lässt."

Außerdem: Dlf Kultur stellt die Empfehlungen des Lyrik-Kabinetts für neue Gedichtbände vor. In der NZZ steigern sich die Schriftsteller Franzobel und Robert Schneider angesichts der Coronakrise gegenseitig in eine veritable Panik hinein. Für die SZ spricht Nicolas Freund mit Téa Obreht über ihren Westernroman "Herzland". Lars von Törne befragt für den Tagesspiegel Jeff Lemire und Andrea Sorrentino zu ihrer Comicserie "Gideon Falls", deren Held seit Jahren eine Maske trägt. Außerdem hat sich von Törne beim Mosaik-Verlag erkundigt, wie sich in Zeiten der Krise weiter Comics herausbringen lassen.

Besprochen werden unter anderem Matthias Bormuths "Die Verunglückten. Bachmann, Johnson, Meinhof, Améry" (online nachgereicht von der FAZ) und neue Bücher über Paul Celan (FAZ).
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Kunst

In der Welt will Boris Pofalla nichts hören von den Rufen nach mehr Geld für die Kunst, wie es Hans Ulrich Obrist (unser Resümee) und andere seit der Coronakrise fordern. Deutschland gebe bereits sehr viel Geld für Kunst und Künstler aus, und den Bedeutungsverlust, den die Kunst gerade erfahre - "Eine Medieninstallation ist eben nicht im gleichen Maß lebensnotwendig wie ein professionell gelegter Venenzugang" - könne Geld eh nicht wettmachen. Es wäre der Kunst auch nicht zuträglich: "Der Staat als großer Lebensretter soll nicht mehr zu stark kritisiert werden, zumal er ja bald auch das Atelier finanziert - und die Rezensionen gleich mit. Das Verstummen der sonst so streitlustigen politischen Künstler und Kritiker während der Pandemie ist ziemlich laut. Nur wenn es um Subventionen geht, wird wieder gerufen. Besser wäre es, sich für fragile Communitys stark zu machen, so wie Wolfgang Tillmans es mit der Plakataktion '2020 Solidarity' tut. Die aktiviert jeden, der mitmachen will. Es geht auch nicht anders. ... Privates Engagement bleibt entscheidend."

Weitere Artikel: Stefan Trinks plaudert für die FAZ mit Moma-Direktor Max Hollein über dessen Haus, dessen Geburtstagsparty zum Hundertfünfzigsten wegen Corona ausfällt.
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Bühne

In der nachtkritik denkt Christiane Hütter darüber nach, was dem digitalen Theater noch alles fehlt. Eine Welt um die Inszenierung herum zum Beispiel: "Wo kommt das Publikum an? Gibt es eine Garderobe? Eine Bar? Einen Abendzettel? Wie spendet man Beifall? Ganz zu schweigen vom Ticketkauf. Beginn und Ende der Erfahrung, individuelle Handlungsoptionen und auch die Wahl der Tools sind hier eben nicht per default definiert. Doch genau wie im physischen Raum möchte das Publikum gerne wissen, wozu es geladen ist! Neben der Erstellung der eigentlichen Inhalte und digitalen Formate bedarf es einer guten Rahmung, mehr noch: einer kohärenten, gestalteten Welt drumherum. Neue Software oder Computerspiele beispielsweise bewerkstelligen dieses Onboarding oft mit einem Tutorial-(Level), eine an den Lernerfahrungen der Benutzer*innen in spe orientierte praktische Schritt für Schritt Anleitung, wie eben dieses Format zu benutzen ist- und zwar DAU-optimiert: Für die dümmsten anzunehmenden User. Denn wer am Anfang nicht einsteigen kann, bleibt sicher nicht."

Ebenfalls in der nachtkritik - erstaunlicherweise das einzige Medium, das sich für die neuen Formen interessiert, die die Theater gerade ausprobieren - berichtet Sophie Diesselhorst vom Zoom-Meeting des Forced Entertainments im Rahmen ihrer Produktion "End Meeting For All": Das Stück "hat drei Folgen, die ohne Unterbrechungen und Nachbearbeitung aufgenommen, aber nicht live gezeigt werden. Folge 2 kommt am 5., Folge 3 am 12. Mai. Die echte Live-Anmutung zur Zoom-Konferenz mit den Forced Entertainment-Performer*innen Robin Arthur, Tim Etchells, Richard Lowdon, Claire Marshall, Cathy Naden und Terry O'Connor besorgt also der Live-Chat auf Youtube, in dem die Zuschauer*innen sich um kurz vor neun zunächst gewaltig auf das bevorstehende Großereignis freuen und das Durcheinander der sechs über weite Strecken mehr gegen- als miteinander antretenden Performer*innen dann während des Streams noch verstärken, indem sie spitzfindige Fragen zu den Geschehnissen in den einzelnen Fenstern stellen, die im unmoderierten Chat meistens unbeantwortet verhallen. Sowohl auf der Zoom-Bühne als auch nebenan im Publikum ist die Stimmung unkonzentriert, unterspannt - und mitunter befreiend albern."

Weiteres: Im Interview mit dem Tagesspiegel spricht die Schauspielerin Sandra Hüller über Frauenklischees, ihren Hamlet und das Theater in der Krise. Die nachtkritik streamt noch bis heute 18 Uhr Franz Grillparzers "König Ottokars Glück und Ende", inszeniert von Dušan David Pařízek, in einer Aufzeichnung vom Gastspiel des Wiener Volkstheaters beim Festival des deutschsprachigen Theaters in Prag. Und hier der große Online-Spielplan.
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Musik

Frederik Hanssen schreibt im Tagesspiegel über die betrübliche Corona-Lage freier Konzertmusiker. Deutliche Worte über den Umgang mit den Freien findet der Sänger Georg Nigl im VAN-Interview: "Wie soll man das Argument der höheren Gewalt bitte verstehen, wenn die ganze Welt stillsteht? Der Intendant des Wiener Musikvereins hat im Interview über den Ausfall seines Festivals gejammert und die damit verbundenen Einnahmeverluste - dann aber gesagt, dass er die abmildern könne, da er nun ja keine Gagen zahlen muss. Ein Hoch auf die höhere Gewalt? Uns Freien schnürt das die Luft ab. Was ist das für eine Rechnung? Heißt das, dass die Krise auf uns Freischaffende abgewälzt wird, während überall versucht wird, mit Kurzarbeit und enormen Milliardenbeträgen die Wirtschaft am Laufen zu halten? Warum werden unsere Verträge nicht so umgewandelt oder verstanden, dass auch wir die Möglichkeit haben, aus diesen Töpfen bezahlt zu werden?"

Die Berliner Philharmoniker spielen am 1. Mai ihr traditionelles Geburtstagskonzert, berichtet Manuel Brug in der Welt. Die Vorsichtsmaßnahmen sind enorm: "Zweimal wurden alle auf Corona getestet. Die Streicher müssen auf 1,5 Meter Abstand spielen, die Bläser auf fünf Meter."

Weiteres: Für VAN schreibt die Konzertagentin Sonia Simmenauer die Lage ihres Berufsstandes auf, der unter der momentanen Situation ebenfalls erheblich leidet - nicht zuletzt aufgrund des Modells "Künstler zahlt Agent", was zur Folge hat, dass derzeit erhebliche Vorleistungen rückabgewickelt werden müssen und unbezahlt bleiben. Auch in der Schweiz fallen derzeit die für den Sommer vorgesehenen Festivals aus, schreibt Christian Wildhagen in der NZZ. Live-Streaming gab es schon vor 100 Jahren, erinnert Volker Hagedorn in VAN: Damals wurden Konzerte per Telefon in die Häuser übertragen, wo sie unter anderem Marcel Proust begeisterten. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker über Antonia Bembo. Auch eine Form der Würdigung: Jeffrey Arlo Brown rankt für VAN Beethovens schlechtesten Werke. Karl Fluch erinnert im Standard an Kris Kristoffersons vor fünfzig Jahren veröffentlichtes Debütalbum, das "Country und linke Ideen" verschmolz. Dieser Song war Johnny Cash und June Carter gewidmet:



Besprochen werden Spike Jonzes auf Apple+ veröffentlichte Musikdoku "Die Beastie Boys Story" (FAZ) und ein Buch von Jon Savages über Joy Division (Zeit).
Archiv: Musik