Efeu - Die Kulturrundschau

Figuren, Ichs und Wesenheiten

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09.12.2019. Olga Tokarczuk und Peter Handke haben ihre Nobelpreisreden gehalten. Die SZ feiert Tokarczuks  konkretisierende Poesie. Die NZZ begreift Tokarczuks Rede auch als Statement gegen die "verblasene Gegenwartslosigkeit" Handkes, dessen Selbstergriffenheit auch FR und FAZ unangenehm berührte. Außerdem tummelten sich die Opernkritiker in Mailand, wo die Scala mit großem Pomp ihre Saison eröffnete. Die taz porträtiert die Regisseurin Leonie Böhm. Die FAZ trifft den Free-Jazz-Pionier Joe McPhee.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.12.2019 finden Sie hier

Literatur



In Stockholm haben erst Olga Tokarczuk und dann Peter Handke ihre Reden zur Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis gehalten. Im Falle Handkes spricht Andreas Platthaus in der FAZ von einem irritierenden Auftritt, nicht zuletzt weil Handke auch versuchte, die Rede mit einer Rezitation von Tomas Tranströmers Gedicht "Romanische Bögen" im schwedischen Original abzuschließen. Anders als angekündigt, stellte sich Handke in seiner Rede, die der Standard dokumentiert, nicht seinen Kritikern, sondern wühlte in den Tiefen des eigenen Werks, das er ausgiebig zitierte. Besser gefiel Platthaus Olga Tokarczuks an einer Kritik des Subjektivismus in der Gegenwartsliteratur geschärftes Plädoyer (hier die englische Übersetzung) für "ein Erzählen aus der vierten Person: eines, wie es in der Bibel vorgeführt werde, wo ein Erzähler auftritt, der über Gottes Absichten Auskunft gibt. ... Zärtlichkeit erklärte die polnische Nobelpreisträgerin zum zentralen Antrieb der Literatur: eine Zärtlichkeit gegenüber allen anderen Daseinsformen."



Handke, kommentiert Roman Bucheli knapp in der NZZ, vermied es konsequent, über Jugoslawien zu sprechen, sprach aber immer wieder seine slowenische Familiengeschichte an. "Man konnte darum die Rede trotzdem als einen stillen Kommentar zu seiner Haltung verstehen. Als wollte er erklären, woher er nicht nur literarisch kommt, sondern welche Erinnerungen, welche Erzählungen und welche Schicksale sein Leben und sein Denken geprägt haben." Der Schriftsteller suchte "Zuflucht beim eigenen Werk", hält Lothar Müller in der SZ fest: "An die Stelle des Nichtgesagten trat die Herkunftsgeschichte der Autorschaft des Redners." Schlussendlich wog es schwer, "dass Handke, indem er sich in weiten Passagen der Rede in die Ergriffenheit vom eigenen Werk zurückzog, aus dem Schatten des (in eigener Sprache, in eigenen Worten) Nichtgesagten nicht heraustreten konnte." Diese Selbstergriffenheit stößt auch Gerrit Bartels vom Tagesspiegel auf. Bei der Deutschen Welle kommentiert Norbert Mappes-Niediek Handkes Rede.

Im Standard hält der Germanist Hans Höller dagegen fromme Andacht und versteigt sich zu einer etwas anmaßenden Überlegung: "Man versteht, dass die heute dreißig oder vierzig Jahre jungen Romanschriftsteller den Handke angreifen, mit Jugoslawien, wo sich niemand so genau auskennt, und es gut und billig ist, das zu tun. Handke kennt Jugoslawien, auch aus den familiären Beziehungen." In der FR nimmt es Thomas Kaspar positiv: "Das Hoffnungsvolle, was nach Handke übrig bleiben wird: Eine jüngere Schriftstellergeneration hat auch politisch wieder etwas zu sagen." Außerdem kommt Bert Rebhandl im Standard nach einer vergleichenden Lektüre mit Martin Heidegger zu dem Schluss, dass Handkes "Eigentlichkeitssehnsucht und sein "Kontrarianismus in Bezug auf Jugoslawien" zusammengehören.

Zurück zu Olga Tokarczuk, deren Rede auf NZZ-Kommentator Paul Jandl "wie ein Kommentar auf die verblasene Gegenwartslosigkeit bei Handke" wirkte. "Bei Tokarczuk geht es um eine spezielle Aufgabe des Schreibens: Die immer lauter werdende Polyfonie der Ich-Geschichten zu einem Ganzen zu machen. Zu einer Gegenwartserzählung, in der das Diverse verständlich wird und in der die disparaten modernen Medien in einem altbewährten Medium gebündelt werden: durch die Sprache der Literatur." Auch Arno Widmann in der FR begreift Tokarczuks und Handkes Reden als Gegensatzpaar: Wo Handke ergriffen von sich selbst über die Dörfer zieht, ist Tokarczuk gleich schon von Beginn ihrer Rede an "beim Kosmos und in einer 'süßen Nähe zur Ewigkeit'. Sie spricht vom Rhythmus der Welt. Und sie endet mit den Sätzen: 'Darum glaube ich, dass ich Geschichten so erzählen muss, als wäre die Welt eine lebende, einzige Einheit, die sich vor unseren Augen immer wieder neu bildet und als wären wir ein kleiner, aber doch mächtiger Teil von ihr.'" Von einer Abendstimmung der Literatur berichtet Tomasz Kurianowicz in der Welt: "Tokarczuk sprach über den tragischen Abstieg einer zweckfreien Literatur; Handke wiederum inszenierte deren Rettungsversuch."

Tokarczuks in dieser Rede umrissene und in Werken wie "Die Jakobsbücher" konkretisierte Poetologie sucht "nach einer Literatur, die die Schäden des Informationszeitalters überdauern kann", erklärt Marie Schmidt in der SZ: "Gegen den Begriff der Information stellte Tokarczuk 'Erfahrung' und 'Bedeutung' als Erkenntnisweisen der Literatur, die sich allerdings einen der heutigen Gestalt des Weltwissens entsprechenden Rahmen geben müssten. Eben den einer 'vierten' Perspektive, die auch wahrnimmt, wie Figuren, Ichs und Wesenheiten über verschiedene Räume und Zeiten miteinander verbunden sind". Dlf Kultur hat Sabine Adlers Literaturfeature über Tokarczuk aus dem Jahr 2016 wieder online gestellt.

Außerdem: In Le Monde schildert François Crémieux, heute Redakteuur der ehrwürdigen Zeitschrift Esprit, seinerzeit Blauhelm in Bosnien, den Hintergrund der Geschehnisse, über die Handke lieber schweigt.

Weiteres: In epischer Ausführlichkeit erzählt der Schriftsteller Henning Kober in der FAS davon, wie Hubert Fichte und Willy Brandt einmal zeitgleich in Mexiko waren, sich dabei auch zumindest kurz begegneten und - wer weiß? - vielleicht sogar miteinander sprachen. In der NZZ wandert Paul Jandl mit Theodor Fontane durch Brandenburg. Andrea Köhler bescheinigt derweil Fontanes "Effi Briest" eine ungebrochene Aktualität. Besprochen werden einige erstmals in Deutschland veröffentlichte Comics von Hugo Pratt (taz), Peter Schneiders "Vivaldi und seine Töchter" (Tagesspiegel) und Joachim Schnerfs "Wir waren eine gute Erfindung" (SZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Sehr fragwürdig findet Olga Kronsteiner im Standard, dass Museumsdirektor Eike Schmidt eine Bronze in den Uffizien ausstellen lässt, deren Zuschreibung zum Bildhauer Giambologna in der Fachwelt umstritten ist: "Ein Ritterschlag, der umso schwerer wiegt, als er nachweislich mit kommerziellem Interesse des Leihgebers verknüpft ist... Offiziell wird sie als 'Privatbesitz' geführt, eine Tarnung aus ethischen, vielleicht auch steuerrechtlichen Gründen. Tatsache ist, sie gehört zwei Kunsthändlern, die seit Jahren viel Zeit und Geld in die Recherche, in kunsthistorische und naturwissenschaftliche Gutachten investiert haben: dem Franzosen Guy Ladrière (Paris) und dem Deutschen Alexander Rudigier, die mit ihren Verkaufsambitionen und trotz intensiver Bemühungen bislang gescheitert waren."

Gestern frohlockte Daniel Völzke in Monopol noch über Maurizio Cattelans Stunt von der Art Basel in Miami, eine Banane mit Panzer-Tape an die Wand zu kleben und als Ready-Made für 120.000 Dollar zu verkaufen. Heute meldet der Standard, dass sich der Aktionskünstler David Datuna einfach das Kunstwerk geschnappt und mit einem Bissen vernichtet hat.

Besprochen werden die Schau "New Contemporaries 2019" in der South London Gallery (Guardian) und eine Ausstellung des Tierbildhauers August Gaul im Berliner Käthe-Kollwitz-Museum (Tsp).
Archiv: Kunst

Bühne

Anna Netrebko in Puccinis "Tosca". Foto: Scala

Wie jedes Jahr am 7. Dezember eröffnete die Mailander Scala am Sonnabend ihre Saison mit Staatsauftrieb: Anna Netrebko sang Puccinis "Tosca". 3.000 Euro kostete eine Karte, weiß Welt-Kritiker Manuel Brug. In der NZZ bemerkt Christian Wildhagen, dass Riccardo Chailly die Urfassung spielte, freut sich aber auch über die große Oper vor der Oper: "Die Herrscherloge, wo einst Könige und der Duce und noch so mancher andere Finsterling Platz genommen haben, ist ein rot-weiß-grünes Blumenmeer. Inmitten der Blumen taucht unversehens eine weißhaarige Lichtgestalt auf, winkt freundlich, aber würdevoll in die Runde, und der ganze Saal gerät aus dem Häuschen. Es ist der Presidente della Repubblica, Italiens Staatsoberhaupt Sergio Mattarella, den das Publikum mit einer gut fünf Minuten andauernden Ovation ehrt und feiert, als gelte es, dem letzten integren Aufrechten dieses politisch zerrissenen Landes den Rücken zu stärken. 'Das ist halt Mailand, aber schaut bloß nicht in die Provinz', sagt ein Besucher im Designer-Smoking laut in den endlich dann doch wieder abebbenden Applaus, macht eine dieser vielsagenden südländischen Handbewegungen und stimmt mit hellem Tenor in die Hymne ein, die jede Inaugurazione eröffnet: 'Fratelli d'Italia, l'Italia s'è desta . . .'" In der SZ berichtet Ekaterina Kel allerdings, dass die vielen Touristen beileibe nicht textsicher waren, in der FAZ sehnt sich Klaus Georg Koch seufzend nach Zeiten, als Künstler in Mailand noch etwas riskierten.

In der taz porträtiert Sabine Leucht Leonie Böhm als Regisseurin eines anarchischen Mutmachtheaters, das natürlich auch feministisch sei: "Doch mehr als Gender oder Queerness interessiert Böhm 'der durch das spielende Handeln sich emanzipierende Mensch'. Dass der gerne singt, mit Wasser spritzt und durch Zuschauerreihen prescht, gehört dazu: 'Mir ist wichtig, dass man richtig was erlebt', sagt Böhm."

Besprochen werden Viktor Bodós Inszenierung von Ibsens "Peer Gynt" im Volkstheater in Wien (Standard, Nachtkritik), Michael Thalheimers Inszenierung von Karl Schönherrs Alpen-Reißer "Glaube und Heimat" am Berliner Ensemble (den Peter Laudenbach in der SZ lieber als "ideologischen Giftmüll" entsorgt gesehen hätte), Nele Stuhlers und Jan Koslowskis Komödie "1994 - Futuro al dente" im Frankfurter Schauspiel (FR, Nachtkritik), Karol Szymanowskis Oper "Król Roger" am Berner Theater (FAZ), Ersan Mondtags Adaption von Viscontis "Verdammten" am Schauspiel Köln (Nachtkritik, FAZ) und die Barockoper "Getreue Alceste" in Schwetzingen (FAZ).
Archiv: Bühne

Film



In der FAZ porträtiert Nora Sefa die kosovarische Künstlerin und Filmemacherin Lendita Zeqiraj, deren Film "Aga's House", der von der Gewalt gegen Frauen im Krieg und deren Folgen handelt, gerade in Prishtina gezeigt wurde: "'Die Gewalt, die ich beschreibe, ist noch immer allgegenwärtig', sagt sie. Insbesondere die Kriegsvergewaltigungen seien kaum aufgearbeitet worden. ... Die noch immer stark in der kosovarischen Mentalität verankerten traditionellen und patriarchalen Strukturen ertrügen eine von einem befeindeten Soldaten vergewaltigte Frau nicht, die in der Folge gar ein Kind zur Welt bringt. Für manche gelte eine solche Frau als entwürdigt. Bis heute würden viele Frauen daher aus Scham und Angst vor Stigmatisierung schweigen - 'als hätten sie sich schuldig gemacht', sagt Zeqiraj. 'Einem kriegsversehrten Soldaten wird hingegen ein Denkmal gebaut', erklärt sie erbost."

Beim am Samstag verliehenen Europäischen Filmpreis hat sich Giorgos Lanthimos' "The Favourite" (unsere Cannes-Kritik) mit insgesamt acht Auszeichnungen schlussendlich als großer Jury-Favorit entpuppt, berichtet Andreas Busche im Tagesspiegel, der das fast ein bisschen schade findet: "Die Preisflut täuscht über die Vielfalt des europäischen Kinos hinweg, wenn auch der Erfolg für Lanthimos hochverdient ist." FR-Kritiker Frank Junghänel fehlte das Lametta: "So stark der diesjährige Filmjahrgang war, so schwach die Präsenz der Sieger. In allen Hauptkategorien fehlten die Preisträger." Die von Dietrich Brüggemann künstlerisch umgesetzte Verleihung wirkte auf tazlerin Jenni Zylka "jünger als in den letzten Jahren, strotzen - trotz Herzog, Wenders und Konsorten - vor juvenilem Elan vor und hinter der Kamera. Dazu klangen sie auf eine unangestrengte Art politisch." Wie Wim Wenders herumblödelt und Werner Herzog, ausgezeichnet für sein Lebenswerk, dann doch zumindest für einen Moment eine kleine Träne der Rührung im Augenwinkel versteckt, ist allerdings, zumindest im zweiten Fall, sehenswert:



Besprochen werden der neue, an dieser Stelle zwischen 22 und 6 Uhr in der ungekürzten Version online stehende "Polizeiruf 110"-Krimi von Dominik Graf (ZeitOnline, FAZ, NZZ, Berliner Zeitung) Olivier Nakaches und Éric Toledanos "Alles außer gewöhnlich" (Freitag), Fernando Meirelles' "Die zwei Päpste" (SZ), Noah Baumbachs Netflix-Film "Marriage Story" mit Scarlett Johansson und Adam Driver (online nachgereicht von der FAZ) und neue Heimmedien, darunter eine DVD von Rolf Thieles "Labyrinth der Leidenschaften" (SZ).
Archiv: Film

Musik

Ulrich Rüdenauer berichtet in der FAZ von seiner Begegnung mit dem Free-Jazz-Pionier Joe McPhee, der zwar gerade achtzig geworden ist, mit seiner spritzigen Art auf Rüdenauer aber wie jugendliche sechzig wirkt. Mit dem Begriff "Free Jazz" ist er auch nicht recht zufrieden: Diese Musik "braucht diese Art von Definition nicht. Ich verstehe schon, wo das herkommt: Der Jazz sollte sich befreien von Akkordwechseln und so weiter. Dann wurde die Sache politisch, und es gab allerlei Zuschreibungen. Aber für mich ist Jazz von seinem Wesen her frei. Und Jazz war immer eine Musik im Wandel. Ständige Veränderung ist immer ein entscheidender Teil dieser Musik gewesen."

Weiteres: In der NMZ gratuliert Christoph Schlüren dem Komponisten Mieczysław Weinberg zum hundertsten Geburtstag. Besprochen werden ein von Christian Thielemann dirigiertes Konzert der Berliner Philharmoniker (Tagesspiegel), das Abschiedskonzert der BR-Sinfoniker mit Franz Welser-Möst zu Ehren von Mariss Jansons (SZ) sowie und Auftritte von Sinéad O'Connor (Tagesspiegel), Dieter Bohlen (Standard) und der Schweizer Hardrock-Band Krokus (NZZ).

In der Frankfurter Popanthologie schreibt Gisela Trahms über Linkin Parks "Numb":

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