Im Kino

Die Enden von Amerika

Die Filmkolumne. Von Lutz Meier
03.09.2018. Venedig 2018: In zwei Western von den Coen-Brüdern und von Jacques Audiard endet Amerika schon ganz am Anfang. in Yorgos Lanthimos neuem Film "The Favourite" sind es Frauen, die Kälte und Einsamkeit der Macht ausagieren. Anders als Cannes und Berlin öffnet sich Venedig den Produktionen von Netflix und Amazon.
Geht das hier jetzt schon so schnell direkt gegen Trump und gegen das, was er aus seinem Land gemacht hat? Solche Fragen muss man sich neuerdings stellen, wenn man sich auf dem Lido in Venedig ein lustiges Western-Potpourri anschaut, das Joel und Ethan Coen mit sicherer und leichter Hand für Netflix gefertigt haben. Denn "The Ballad of Buster Scruggs" hat schon ganz am Anfang so eine Szene, in der die große Frage auf einen kleinen Punkt gebracht wird, was das Recht noch gilt, und ob es eigentlich nicht ohnehin längst egal ist. Buster Scruggs, ein singender Cowboy, den der Coen-Stammspieler Tim Blake Nelson virtuos spielt, kommt da in seiner ganzen weißgewandeten Fröhlichkeit in einen düsteren Saloon. "Einen Whiskey", verlangt er. "We're a dry county", bedauert der Wirt. "Und was trinken die da?", fragt Scruggs mit Blick auf zwei dunkle Gestalten. "Whiskey." "Warum?" "Die sind Outlaws". Die Outlaws schauen sehr finster drein. Und haben bald eine Kugel im Kopf. Und ebenso schnell katapultiert Buster Scruggs, katapultieren die Coen-Brüder das Amerika, in dem irgendwelche Regeln irgendwie für die einen gelten sollen, für Outlaws aber nicht, in den gänzlich regellosen Zustand zurück, der bei der Eroberung des Landes herrschte. Buster Scruggs, der gutgelaunte Virtuose der Rechtlosigkeit, schießt schneller als sein Schatten. Und dann kommt irgendwann doch einer, soviel darf man hier verraten ohne alles kaputtzumachen, der schießt noch schneller. Und dann ist das Märchen auch schon vorbei.

Tom Waits in "The Ballad of Buster Scruggs"



In sechs Episoden deklinieren die Coens unbekümmert die Gründungsmythen Amerikas durch. Das wird erzählt wie das vergilbte Geschichtenbuch, das zwischen jeder der Episoden eingeblendet wird, so abendsonnensatt, so voll vom Blei aus den Läufen der Pistolen, so weit die Landschaften, so getreulich die Figuren, so chancenlos die Ureinwohner, man merkt kaum, wie die Komödie in eine immer melancholischer werdende Tragödie abgleitet.

Wie kann man da nicht fragen, ob das auch ein Film über Trumps Amerika ist?

In einer anderen Episode fährt ein fahrender Schausteller im Planwagen übers Land, gespielt von Liam Neeson. Die Attraktion seiner Schaustellerei ist ein treuherziger junger Mann, dem alle Gliedmaßen fehlen, und den der Impresario allabendlich auf die Bühne hievt, anschließend füttert und bettet, ohne allerdings je ein Wort mit ihm zu wechseln. Aber auf der Bühne kann der Arm- und Beinlose so ergreifend Abraham Lincolns Gettysburg Adress deklamieren, jene wegweisende Rede über die Grundlagen der amerikanischen Demokratie "and that government of the people, by the people, for the people". So ergreifend, dass die Massen strömen und zahlen, jedenfalls eine Zeitlang. Als sie dann nicht mehr strömen, werden Programm und Protagonist durch den Schausteller nach allen Regeln Coenscher Kunst rückstandsfrei ausgetauscht.

Wie kann man da noch anders als fragen?

Jede der Episoden der Coens ist so sorgfältig erzählt wie ein Langfilm. Es gibt laute Lacher und herrliche Auftritte von Tom Waits und James Franco und Zoe Kazan. Netflix hatte zunächst wohl eine Serie bei den Coens bestellt, die Brüder haben es dann vorgezogen, einen liebevollen Episodenfilm daraus zu machen. Das ist die bessere Wahl, weil sie so viel virtuoser den Bogen des schleichenden Stimmungswandels spannen können. Und uns nebenbei zeigen, wie auch ein unpolitischer Film in diesen Zeiten als politischer Film gemeint sein muss. Ein Western, der ja immer schon ein Film über den Anfang von Amerika ist, kann gleichzeitig heute auch ein Film über das Ende von Amerika sein. Oder über den Anfang und das Ende der Freiheit, was ja mal das Gleiche sein sollte wie Amerika.

Und da muss man gleich noch etwas fragen: Warum der Western so sichtbar auf die Filmbühne zurückdrängt. Es gab gefühlt zunehmend mehr davon bei den großen Festivals der letzten Jahre. Und hier in Venedig läuft zwei Tage nach dem Film der Coen-Brüder "The Sisters Brothers" von Jacques Audiard. Der französische Goldpalmengewinner Audiard legt damit seinen ersten englischsprachigen Film vor, mit John C. Reilly und Joaquin Phoenix in den Hauptrollen. Es ist die Geschichte eines Brüderpaars, das sich zum wiederholten Mal als Auftragskiller quer durch den Westen Amerika schießt. Aber soweit wie dieses Mal, bis zum Pazifik und nach San Francisco und bis ins Zentrum des Goldrausches kamen sie noch nie. Am Ende dann geht ihr Weg wieder zurück.

An das Ende Amerikas? Wo liegt es hier? Es liegt in dieser Geschichte eigentlich schon in den Wurzeln. "The Sisters Brothers" fehlt die präzise Unterschwelligkeit, mit dem der Film der Coen-Brüder seine aktuellen Bezüge herstellt. Auch das elegante Spiel mit den Stimmungen vermisst man im Vergleich. Es ist eine schnörkellose Western-Geschichte, die ihre Spannung aus den Beziehungen ihrer Hauptfiguren zieht. Und die dennoch etwas über das Ende Amerikas an seinem Anfang zu erzählen hat: Da ist die Figur, wegen der die ganze Hatz überhaupt erst beginnt, Hermann Kermit Warm, ein Glückssucher und Idealist.

Szene aus "The Sisters Brothers"




Der eher naiv wirkende Chemiker setzt der allgemeinen Brutalität und Rechtlosigkeit eine Vision von gemeinsamen Regeln und Gerechtigkeit entgegen. Und er schafft es erstaunlicherweise, die Schurken damit eine Zeitlang in seinen Bann zu ziehen. Gut, das funktioniert auch, weil er eine Formel zu haben scheint, mit der man ohne Mühe und Glück an Gold gelangt. Aber eben nicht nur. Naja, am Ende bleibt doch alles beim Alten. Und es geht zurück auf Anfang. Das neue Amerika, das kurz aufgeschimmert ist wie das mühelose Gold, es findet doch nicht statt.

Das Festival in Venedig spielt in diesem Jahr seinen Vorzug gegenüber Berlin und Cannes bequem aus. Anders als die Konkurrenten in Frankreich und Berlin wird Venedig nämlich noch frei Haus mit ambitionierten US-Produktionen beschickt, weil der Zeitpunkt im September gut passt, um Aufmerksamkeit im alljährlichen Oscar-Rennen auf sich zu ziehen. Jetzt kommt noch ein zweiter Vorteil hinzu: Venedig umarmt Netflix und den Streaming-Konkurrenten Amazon geradezu, während sich Cannes abweisend und Berlin abwartend zeigt. Allein Sechs Netflix-Produktionen laufen in Venedig und drei Filme, die ursprünglich in Cannes laufen sollten, aber wegen des Streaming-Banns zurückzogen. Dazu gehört Alfonso Cuaróns vielgelobtes mexikanisches Dienstmädchendrama "Roma", das hier mangels Anschauung nicht näher besprochen werden kann. Es gilt manchem schon als Favorit auf den goldenen Löwen.

Einen anderen Favoriten aber präsentierte der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos ("Lobster", "The Killing of a Sacred Deer"). Der neue Film, "Favourite" ist ein ausgekochtes Königinnendrama um Macht und Intrigen. Es führt mitten in die verdorbene politische Spitze eines England, in dem die abgehängten Leute und die geopolitischen Großentscheidungen nur Gegenstand launischer Nicht-Entscheidungen und lagerpolitischer Zufälle sind. Wenn man der von Olivia Colmann brillant teilnahmslos gespielten Queen Anne in ihrem Hof an der Wende zum 18. Jahrhundert so zuschaut, fällt es manchmal schwer, nicht an Theresa May zu denken, auch wenn der Vergleich im Detail dann doch nicht so richtig passt. Der Film ist in einem eindrucksvollen zeitgenössischen Schloss gedreht. Er bedient sich einer oft extremen Weitwinkelperspektive, die die Entwicklungen distanziert zeigt und gleichzeitig Beziehungen herstellt.

Rachel Weisz and Olivia Colman in "The Favourite"



So kann man die Kälte und Einsamkeit der Macht fast greifen, die Beliebigkeit einer Macht, die ihren Zweck verloren hat. "Wir müssen für das kämpfen, für das wir kämpfen", sagt die Königin irgendwann entlarvend. So klingt das doch heute wieder! Knisternd ist der Kampf, den Lady Marlbourough (Rachel Weisz) und ihre verarmten Cousine Abigail (Emma Stone) bei Hofe austragen, und in diesem Kampf geht es auch um zwecklose Macht, um Status und Gunst der maladen Herrscherin. Sie ist ein wandelndes Machtvakuum, das derjenigen, die in dasselbe springt, mehr Einfluss verspricht, als die Herrscherin jemals hatte. Der Kampf wird mit allen Regeln der Kunst gefochten, mit Tricks, mit Gewalt, mit Sex, und schließlich mit tödlichem Gift im Nachmittagstee.

So entsteht ein teuflisches weibliches Dreigestirn in einer Welt, in der die Männer nur Ornament sind und in der das Politische die gleiche Bedeutung hat, wie irgendwelcher Hoftand um niedliche Tierchen oder inszenierte Stürze.

Diese Form des Matriarchats, in dem man die Männer nicht einmal vermisst, weil die Frauen alle Rollen können - das ist auch der intelligente Kniff von "Favourite".

Umso erstaunlicher, dass eine ähnliche Konstellation - ebenfalls inszeniert von männlichen Regisseuren - gleich zwei Mal im Wettbewerbsprogramm wieder auftaucht. Der eine ist der Horrorfilm "Suspiria" des italienischen Regisseurs Luca Guadagnino, übrigens eine Amazon-Produktion, über die gleich noch zu reden sein wird. Der andere ist "La Quietud", der außer Konkurrenz laufende Film des argentinischen Regisseurs Pablo Trapero. Das ist die Geschichte zweier Enddreißigerschwestern und ihrer Mutter. Die Schwestern (Martina Gusmán und Bérénice Béjo) sind ungewöhnlich dicke: Am Anfang sieht man sie einträchtig gemeinsam zu den gleichen Fantasien masturbieren, am Ende bekommen sie gemeinsam ein Kind. Wer jetzt an Pedro Almodóvar denkt, den muss man leider enttäuschen, es ist halt (wenn das die Messlatte ist) nur ein viel zu weichherzig erzählte Geschichte aus der argentinischen Oberschicht, die sich um ein dunkles Familiengeheimnis aus der Zeit der Militärdiktatur dreht. Aber die Konstellation mit den Frauen bleibt interessant.

Und dann war da "Suspiria". Erst war von einem Remake des gleichnamigen Horrorfilms von Dario Argento die Rede, später von einer Hommage. Der Film arbeitet zwar mit viel Kunstblut und geschundenen, entstellten Körpern, produziert aber weniger Angst und Schrecken, als vielmehr eine recht verstörte Stimmung. Im Berlin des Jahres 1977, die RAF-Geschichte ist auf dem Höhepunkt und die Mauer direkt vor der Tür, dirigieren drei hexengleiche Wesen eine Pina-Bausch-artige Tanzschule. Tilda Swinton hat dafür wohl lange lässig rauchen gelernt wie die Meisterin, Angela Winkler trägt diabolisch-gutmütig In-die-Luft-Gucken bei. Danach wird es schwer, auseinanderzuhalten, was Wahn und was (Film-)Wirklichkeit ist, aber das macht auch den Reiz des Werks aus. Jedenfalls verschwinden Tänzerinnen in einem faustischen Untergeschoss des faschistischen Bauwerks, das sich die jungen Mädchen mit Haut und Haar einverleibt. Der Film hat zugegebenermaßen Rhythmus und versucht sich an einer gewissen Strenge. Aber ob er selber weiß, worauf er hinauswill, darüber lässt sich lange rätseln. Und falls irgend jemand da draußen einen älteren Berliner Psychoanalytiker namens Lutz Ebersdorf kennt (vielleicht ist er auch was anderes), kann er eines der großen Rätsel des Films lösen. Denn dieser Ebersdorf steht im Cast des Films für die einzig nennenswerte männliche Figur. Viele aber wollen bis heute nicht glauben, dass es den Mann wirklich gibt. Manche vermuteten gar, dass noch einmal Tilda Swinton (unter einer besonders guten Maske) hinter der Sache steckt.

Dann wäre das faustische Matriarchat ja gänzlich komplett. Die Wirklichkeit sieht übrigens so aus, dass von 21 Wettbewerbsfilmen in Venedig 20 von männlichen Regisseuren kommen. Wenn allerdings weibliche Machtausübung in dieser Wirklichkeit auch aussieht, wie in den diesjährigen Venedig-Filmen, dann würden wir vorher noch mal kurz überlegen wollen.

Lutz Meier

Am Donnerstag folgt ein zweiter Bericht!