Efeu - Die Kulturrundschau

Wachaugemäß trunken schief

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03.07.2019. Hyperallergic sucht die Sinnlichkeit in Anne Imhofs ultra-hipper Millenial-Ästhetik. Die SZ feiert mit Jannis Kounellis die Schlichtheitsideale südeuropäischer Großmütter. Außerdem bewundert sie die verdrehte Landesgalerie im niederösterreichen Krems. Die NZZ schreibt eine Poesie der ersten Sätze. Die Welt blickt auf die sich selbst erschöpfende Blockbuster-Industrie. Und ZeitOnline staunt über die Beiläufigkeit, mit der das Coming-Out des Rappers Lil Nas X quittiert wurde
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.07.2019 finden Sie hier

Kunst

Anne Imhof: Sex, 2019, Art Institute of Chicago. Foto: Nadine Fraczkowski, Galerie Buchholz


Anne Imhofs Performance "Sex" im Art Institute of Chicago gibt dem Hype um die deutsche Künstlerin noch einmal neuen Auftrieb, macht ihn für Nicholas Chittenden Morgan auf Hyperallergic aber auch schwerer zu verstehen. Grenzt ihre ultra-hippe Ästhetik nicht ans Nihilistische? "'Sex' ist dramatisch, sogar melodramatisch, doch das Drama ist kein sinnliches; es ist aller körperlicher Bedürfnisse entzogen. Angeblich haben Millenials erkennbar weniger Sex als viele Generationen vor ihnen. Teenager-Schwangerschaften gehen zurück. Vielleicht bevorzugen sie andere Formen erotischer Aktivitäten, Fantasien oder Begegnungen. Mit ihrer Millenial-Hipness und dem Herunterspielen von Fleischlichkeit zugunsten von rituell leeren Gesichtern hat Imhof dieser Generation genau das gegeben, was sie verdient, was aber auch genau das ist, was sie haben will: ein Bild ihrer selbst."

Kommt in einem venezianischen Adelspalast besonders gut zur Geltung: Jannis Kounellis' Arte Povera. Foto Agostino Osio - Alto Piano/Fondazione Prada

In der SZ erkennt Kia Vahland in einer große Retrospektive zu Jannis Kounellis in der Fondazione Prada in Venedig, wie zeitgemäß die Arte Povera ist: Sie "ahnte schon in den Sechzigern, dass die Feier des Konsums, wie sie auch Teile der Pop Art betrieben, Grenzen haben wird. Im noch lange sehr ländlichen Italien wohnte dieser Rückbesinnung auf Holz, Erde, Wolle, Feuer und Kohle damals eine Hommage an die Großmütter inne. Arte Povera war der Versuch, industrielle und traditionelle Lebenswelt zu versöhnen und dabei doch etwas Neues zu entwickeln, das für die Zukunft taugen könnte. Noch nicht absehbar war zu der Zeit, wie das Digitale das physisch Erfahrbare im Alltag zurückdrängen würde. Von heute aus gesehen strahlen Kounellis' Werke eine Kontemplation aus, die aus weiter Ferne kommt."

Weiteres: In der Berliner Zeitung freut sich Ingeborg Ruthe, dass das Berliner Brücke-Museum Karl Schmidt-Rottluffs Porträt der "herbstschönen" Kunsthistorikerin Rose Schapire ersteigern konnte. Im Tagesspiegel erklärt zudem die Leiterin des Brücke-Museums, Lisa Marei Schmidt, wie sie wieder mehr Interesse an den Künstlern in ihrem Haus wecken will. Besprochen wird eine Ausstellung des Holsteiner Impressionisten Hans Olde in Schloss Gottorf in Schleswig (FAZ).
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Architektur

Landesgalerie von Niederösterreich in Krems: Marte.Marte Architekten. Foto: Roland Horn

Krems
entwickelt sich gerade zu einem weiteren lebendigen Kulturzentrum in Österreich, bemerkt Gottfried Knapp in der SZ und freut sich noch mehr, dass die Vorarlberger Architekten Marte.Marte für die Landesgalerie von Niederösterreich nicht einen simplen Kubus entworfen haben wie es gerade Mode ist, sondern einen mehrfach in sich verdrehten "wachaugemäß trunken schief": "Dieser mit einem Schuppenpanzer aus Zinnschindeln verkleidete Baukörper zieht die Blicke von allen Seiten magisch auf sich, wirft sie an einigen Stellen höchst elegant aus der Kurve, lenkt sie aber an anderen Stellen sinnfällig auf den Boden zurück, dorthin, wo der Bau zur Ruhe kommt und sich nach außen öffnet. Jede der vier Außenwände endet unten in einem weitgespannten flachen Segmentbogen, der verglast ist und den Blick von außen ins Innere und von innen hinaus auf den Platz schweifen lässt."

Für die FAZ spaziert Gina Thomas berückt zum Sommerpavillon der Londoner Serpentine Gallery, der in diesem Jahr von Junya Ishigami gebaut wurde und nicht nur die Schwerkraft, sondern auch das Verhältnis von Mensch und Natur aus den Angeln zu heben scheint (mehr hier): "Überhaupt stechen die Beiträge der vier japanischen Architekten, beginnend mit Ito (2002), über Saana (2009) und dem Ito-Schützling Sou Fujimoto (2013) bis hin zu Ishigami, durch ihre poetische Sensibilität im Wechselspiel zwischen Architektur und Landschaft hervor."
Archiv: Architektur

Bühne

Szene aus "Foottit und Chocolat". Foto: Björn Jansen


In der NZZ labt sich Daniele Muscionico an Christoph Nix' Konstanzer Inszenierung des Stücks "Foottit und Chocolat", das nach der Vorlage von "Mosieur Chocolat" die Geschichte des schwarzen Clowns Rafael Padilla erzählt und dabei auf alle politische Korrektiheit pfeift: "Denke man sich denselben Anlass in Berlin, der Skandal wäre perfekt und der Urheber ein politisch wie künstlerisch toter Mann. Doch in Konstanz, im Zelt am See, die grüne Grenze zur Schweiz verläuft wenige hundert Meter dahinter, wird das pure Leben zelebriert. Der Abend ist hochmusikalisch dank dem Zirkusorchester unter der Leitung von Rudolf Hartmann; und wenn die Schauspieler (unter anderen Harald Schröpfer) und Schauspielerinnen (unter anderen Anne Simmering) des Theaters singen, ist das konzertreif. Handwerk und Poesie, Politikunterricht und Unterhaltung, 'Foottit und Chocolat' ist ein Mehrsinnenvergnügen."

FAZ-Kritikerin Kerstin Holm begibt sich mit der Performance-Gruppe Transformator des Moskauer Theaterregisseurs Vsevolod Lissovsky auf einen interventionistischen Stadtspaziergang durch Berlin: "Das Stück, das er als Forschungsprojekt am sozialen Körper versteht, entwickelt sich nach dem Zufallsprinzip. Zahlen auf Jetons, die an die Zuschauer ausgehändigt werden, und die die Performer ihnen abnehmen, bestimmen die Szenen und die Bewegungsrichtung im Stadtraum." Im Tagesspiegel greift Rüdiger Schaper die Affäre um rassistische Beleidigungen am Theater an der Parkaue auf.

Weiteres: Auf ZeitOnline pocht die Autorin und Theatermacherin Dagrun Hintze auf die Wirksamkeit partizipativer Kulturprojekte. Besprochen wird Peter Konwitschnys Inszenierung von Meyerbeers Grand Opéra "Die Hugenotten" an der Dresdner Semperoper (Tsp, NMZ).
Archiv: Bühne

Film

Nur noch wenige Millionen Einspiel fehlen dem Blockbuster "Avengers: Endgame", um "Avatar" als erfolgreichsten Film vom Thron zu stoßen. Früher hätte man sich da als Produzent zurückgelehnt und einfach darauf gewartet, dass die restlichen Millionen schon noch irgendwie in die Kassen kommen, erklärt Hanns-Georg Rodek in der Welt. Doch der heutige Kinomarkt ist völlig anders strukturiert: "Das Kinoleben eines Films, das früher Monate oder Jahre dauern konnte, ist radikal verkürzt, auf das einer Einwochen- oder Einmonatsfliege. Danach sind alle ausgelaugt, die Vermarkter, das Publikum, der Film. ... Die ausgepowerten 'Avengers' brauchen neue Energie. Nicht mehr eine mächtige Träger-, sondern eine kleine Hilfsrakete. Die hat Disney nun gestartet, einen Booster. Das Prinzip des Bonusmaterials von der DVD wird ins Kino übertragen. Wer 'Avengers' dieser Tage im Kino sieht, sieht nicht mehr den Originalfilm, sondern eine um sechs Minuten verlängerte Version."

Weiteres: Für den Tagesspiegel ist Esther Buss nach Bologna zum filmhistorischen Festival Il Cinema Ritrovato gereist, wo "gerade das Nebeneinander von Klassikern und obskuren Werken einen besonderen Reiz ausübt." Besprochen werden Jon Watts' "Spider-Man: Far from Home", der den Kritikern als Sommersause gut mundet (Standard, taz) und Manfred Oldenburgs Dokumentarfilm über den Fußballer Toni Kroos (taz).
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Literatur

Felix Philipp Ingold gibt im Perlentaucher einige Einblicke über Risikominimierung im Literaturbetrieb: "Wer einen der namhaften Literaturpreise für sich buchen kann, ist damit generell als Preisträger habilitiert und wird in der Folge immer wieder in die Kränze kommen. Eine Laudatio bietet sich als Vorlage für die nächste an. Für Sponsoren und Juroren entfällt damit das Risiko von Fehlentscheidungen."

Daniel Ammann schreibt in der NZZ über Poesie und Herausforderung des ersten Satzes. "Einem Vorschlag Alain Robbe-Grillets folgend, könnte man eine Literaturgeschichte schreiben, die nicht die Romane, sondern nur ihre Anfänge untersucht. Eine Poetik der ersten Sätze sähe dagegen ganz anders aus", wie er mit Menasse ausführt: "Denn jeder denkbare erste Satz ist bereits ein Ende - auch wenn es danach weitergeht. Er steht am Ende von Abertausenden von Seiten, die nie geschrieben wurden: der Vorgeschichte."

Weitere Artikel: Yello-Musiker Dieter Meier sinniert in der NZZ über James Salouste Vandangos Wortschöpfung "Dichterpfanne". Erst vor wenigen Tagen wurde überraschend angekündigt, dass heute das letzte Heft des langlebigen Independentcomics "The Walking Dead" erscheint, meldet Lars von Törne im Tagesspiegel.

Besprochen werden Peggy Mädlers "Wohin wir gehen" (SZ), Yoko Tawadas "Sendbo-o-te" (ZeitOnline), neue Kinderbücher, darunter solche, die vom Mond handeln (NZZ) und Yishai Sarids "Monster" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Musik

Auf ZeitOnline erklärt Yasmina Banaszczuk den Außenstehenden in aller Ausführlichkeit, was es mit dem momenanten Social-Media-Ärger um Taylor Swift gerade auf sich hat: Die Musikerin wehrt sich dagegen, dass ihre Masterbänder, die sie als 15-Jährige an ihr Label Big Machine Records verkauft hatte, an den Manager Scooter Braun verkauft wurden. Urheberrecht im Musikbusiness bedeutet nämlich nach wie vor, dass die Labels die Masterbänder - also die Originalaufnahmen - in den Verträgen mit jungen Künstlern für sich beanspruchen.

In der New York Times erklären Ben Sisario und Joe Coscarelli das genauer: "Der Eigentümer eines Masterbands kontrolliert alle Rechte zu seiner Verwertung, einschließlich des Verkaufs von Alben oder der Lizenzierung von Songs für Filme oder Videospiele. Der Künstler verdient immer noch Lizenzgebühren aus diesen Aufnahmen, sobald die damit verbundenen Kosten gedeckt sind, aber die Kontrolle des Masterbandes kann ein höheres Einkommen und ein höheres Schutzniveau für die zukünftige Nutzung des Werks bringen. (Diese Rechte sind getrennt von den Urheberrechten für das Songwriting.) ...... Steve Stoute, ein Musik- und Werbefachmann, dessen neue Firma UnitedMasters Künstlern erlaubt, ihre Rechte zu behalten, sah in der Swift-Episode eine schmerzhafte Veranschaulichung dessen, was er 'das grundlegende Problem der Plattenindustrie' nannte. 'Das Musikgeschäft läuft historisch gesehen nach dem gleichen Geschäftsmodell wie die Teilflächenförderung", sagte Stoute. 'Du baust etwas; wir lassen dich denken, dass es dir gehört; du tust so, als ob es dir gehört; aber am Ende des Tages gehört es uns.'"

Der in den USA gerade sensationelle Erfolge feiernde Rapper Lil Nas X hat eben sein Coming-Out verkündet - und die Rapszene nimmt es weitgehend achselzuckend zur Kenntnis, schreibt ein darüber sehr glücklicher Daniel Gerhardt auf ZeitOnline: "Der Nachrichtenwert des Coming-outs von Lil Nas X liegt in dessen Beiläufigkeit", denn "erst als sich abzeichnete, dass Rezensenten und Hörerinnen seiner neuen EP die Botschaft nicht von selbst entschlüsseln würden, stieß er sie mit der Nase darauf. ... Fürs Erste fühlt es sich gut an, den 30. Juni 2019 als ganz normalen Tag im Leben von Lil Nas X in Erinnerung zu behalten." Im aktuellen Video gibt er einen queer angehauchten Cowboy:



Tazler Jens Uthoff porträtiert die Berliner Post-Punk-Band Diät, deren Drummer Christian Iffland er in dessen kleinen, aber exquisiten Plattenladen besucht hat. Verweigerung ist bei Diät Programm, deswegen kennt auch kaum jemand diese Band: Karriereplan - Fehlanzeige. Die Band "nutzt eher die gewachsenen D.I.Y.-Strukturen, um Platten zu veröffentlichen und zu touren. ... Noch ein Punkt, warum Diät eher ein Geheimtipp bleiben: Sie haben nur bedingt Lust, sich ständig in sozialen Medien zu präsentieren." Dabei "zeigt sich auf 'Positive Disintegration' ein enorm entwickeltes Gespür fürs Songwriting und für Arrangements, die Stücke gehören zum Besten, was zuletzt im Bereich Wave/Postpunk veröffentlicht wurde." Wir hören gerne rein:



Weitere Artikel: Im Tagesspiegel schreibt Jana Weiß über die britische Rapszene, die sich angesichts des Brexit zunehmend politisiert. Für die Welt hat Philipp Fritz das Krakauer Festival für Jüdische Kultur besucht. "Sind das die Pet Shop Boys auf deutsch", fragt sich SZ-Popkolumnistin Juliane Liebert nach dem Durchhören des Debütalbums der Kerzen, die New Romantic mit ironischer Kante spielen. Beim Fusion Festival in Mecklenburg-Vorpommern trifft der entzückte tazler Jan Paersch auf viele "sehr freundliche, trotz Augenringen sehr ausgeruhte Menschen." In der SZ gratuliert Julia Spinola Brigitte Fassbaender zum 80. Geburtstag. Jürgen Kesting hat sich für die FAZ zum Gespräch mit Fassbaender getroffen. Die NZZ erinnert an den vor 50 Jahren gestorbenen Rolling-Stones-Gitarristen Brian Jones. In der FR plaudern Rebeka Warrior und DJ Vitalic über ihr neues Elektro-Projekt Kompromat, für das die beiden französischen Musiker extra Deutschunterricht genommen hat. Ein Video:



Besprochen werden Moodymans neues Album "Sinner" (Pitchfork), die beiden wiederveröffentlichten Buzzcocks-Alben "Singles Going Steady" und "A Different Kind of Tension" (Jungle World), eine dem Folksänger Pete Seeger gewidmete Kollektion mit CDs und Buch (FR) und ein Konzert des San Francisco Symphony Youth Orchestras in Berlin (Tagesspiegel).
Archiv: Musik