Efeu - Die Kulturrundschau

Ein lebendiger Humus aus Tönen und Stimmen

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13.06.2019. Theater-Berlin ist nach der Ernennung von Rene Pollesch zum Volksbühnen-Intendanten in Aufruhr: Der Pate kehrt zurück, meint der TagesspiegelNeuanfang sieht anders aus, rufen auch SZ und Zeit-Online. Die Entscheidung ist ein "Meilenstein der Theatergeschichte", findet indes die Berliner Zeitung. taz und SZ  blicken in László Nemes "Sunset" auf den Vorabend des Ersten Weltkriegs zurück. Die FR reist mit zwölf internationalen Fotografen auf hohem Niveau verwirrt durch Israel und das Westjordanland. Die SZ öffnet mit der Krautpop-Band Von Spar eine Wundertüte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.06.2019 finden Sie hier

Bühne

"Ich bin ganz klar von Castorf zu unterscheiden", sagte Rene Pollesch gestern bei der offiziellen Pressekonferenz zur Ernennung als Volksbühnen-Intendant, um im gleichen Atemzug die Rückkehr des unter Chris Dercon geflüchteten Volksbühnen-Hofstaats - Martin Wuttke, Sophie Rois, Fabian Hinrichs etc. - zu verkünden. "Was ist mit dem ganzen Neuanfang geworden?", fragt sich denn auch Johannes Schneider auf Zeit Online, der bei der ganzen "Restauration" Vergangenheitsbewältigung vermisst und daran erinnert, "wie wild und unwürdig sich die restaurativen Kräfte im Volksbühnenkosmos gebärdeten, als die Macht einmal - durchaus demokratisch legitimiert - auf einen neuen Herrscher übergehen sollte. Im Angesicht von Dercons zugegebenermaßen wabernden Plänen für ein interdisziplinäres und internationales Haus mit allerlei Kunst, Tanz und englischer Sprache wirkten die alten Herrscher nicht nur wie Marie-Antoinette, der gerade ein Sansculotte gegen den Wandteppich geschissen hatte; sie verfielen auch in einen Blut-und-Boden-Ton, der stark am linken, oder allgemeiner: emanzipatorischen, Anspruch zweifeln ließ." Radikaler Neuanfang sieht anders aus, meint auch eine enttäuschte Christine Dössel in der SZ: "Diese Kuschellösung hätte man schon viel früher, wenn nicht sofort nach Dercons Demission haben können, um die Gemüter und die Volksbühnen-Mitarbeiter zu beruhigen."

"Reichlich angemoosten Volksbühnen-Mythos" vernimmt auch Andreas Fanizadeh in der taz bei der Pressekonferenz und seufzt: "Es klingt von Pollesch arg selbstbezüglich, wenn er, der Antiautoritäre, mit Verweis auf die eigene Praxis und die tolle Schauspielkunst des (alten und) künftigen Ensembles weiteren Fragen zum Theater ausweicht oder einen abgehalfterten (autoritären) Salonmaoisten wie Alain Badiou rhetorisch ins Felde führt, von dem er annehmen kann, dass ihn keiner der anwesenden Theaterkritiker*innen hier kennt."  Im Tagesspiegel ahnt auch Rüdiger Schaper: "Pollesch ist der Chef. Die anderen sind der 'Arbeitszusammenhang'. Von Begriffen wie Team oder Kollektiv will er nichts wissen." Und weiter: "Berlin und der Rest der Theaterwelt wird also nun Teil II und vielleicht auch Teil III des 'Paten' erleben, Pollesch liebt Filmstoffe."

"Der Volksbühnenschlüssel kommt in gute Hände", meint hingegen Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung und ergänzt: Man kann die Entscheidung "problemlos als Meilenstein der Theatergeschichte deuten, schließlich übernimmt erstmals jemand aus dem Gießener Stall der Angewandten Theaterwissenschaften die Verantwortung für ein derart prominentes Stadttheater." "Pollesch denkt nicht von biologistisch fixierten Identitäten her, sondern von den Strukturen, in denen sich Gender-Rollen festschreiben", kommentiert Nachtkritiker Christian Rakow, ebenfalls ganz zufrieden mit der Wahl. Im taz-Interview mit Anselm Lenz begrüßt Sarah Waterfeld von Künstler*innenkollektiv Staub zu Glitzer die Entscheidung. In der Zeit porträtiert Peter Kümmel Rene Pollesch.

Weiteres: In der FAZ-Serie "Spielplan-Änderung" plädiert Simon Strauss für die Wiederaufnahme von Maurice Maeterlincks "Interieur". In der Zeit schreibt Volker Hagedorn zum 200. Geburtstag des großen Jacques Offenbach: "Jacques Offenbach hat das Musiktheater seiner Zeit weit hinter sich gelassen, er hat das Zerbrechen der großen Erzählungen gespiegelt, den Dünkel jeglicher Autorität zerlegt. Seine Musik bevormundet nie; ihre Freiheit ist gegen Polarisierungen immun. Es könnte keine bessere Zeit geben, ihn wiederzuentdecken." Besprochen werden Ersan Mondtags "De Living/Das Wohnzimmer" im Berliner Hebbel am Ufer (Nachtkritik, taz) Dmitri Tschernjakows Inszenierung von Nikolaj Rimskij-Korssakows "Das Märchen vom Zaren Saltan" in Brüssel (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Anlässlich einer Diskussionsveranstaltung heute Abend in Berlin schreibt Marcel Lepper, der Leiter des Literaturarchivs der Akademie der Künste, im Tagesspiegel über das Schicksal zurückgelassener und neuaufgebauter Bibliotheken von ins Exil getriebenen Intellektuellen. "Welchen Erkenntniswert haben die Büchersammlungen, die in der Nachkriegszeit aus den Exilorten in die Archive gelangten, heute? Sie erzählen von mühsamen Nachkäufen, überraschenden Lernprozessen in neuen kulturellen und sprachlichen Kontexten und vom Festhalten an einem Bildungskanon, über den die Geschichte hinwegging."

Besprochen werden unter anderem Pattis Smiths "Hingabe" (taz), Martin R. Deans "Warum wir zusammen sind" (SZ), Florjan Lipušs "Schotter" (Standard), Vivian Gornicks Memoir "Ich und meine Mutter" (Tagesspiegel) und Helmut Kraussers "Trennungen.Verbrennungen" (FAZ).

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Archiv: Literatur

Film

Konfrontation von Blickregimen: László Nemes' "Sunset"

Mit seinem Konzentrationslager-Drama "Son auf Saul" hatte der ungarische Auteur László Nemes vor wenigen Jahren für Aufsehen gesorgt. Auch sein neuer Film "Sunset", in dem eine Hutmacher-Tochter namens Iris (Juli Jakab) am Vorabend des Ersten Weltkriegs durch Budapest zieht, um ein Geheimnis aufzudecken, zeichnet sich den Kritiken nach zu urteilen wieder durch eine außergewöhnliche ästhetische Herangehensweise auf: "Die Kamera ganz nah bei ihr, wir sehen die Welt mit ihrem Blick", erklärt Philipp Stadelmaier in der SZ. "Wenn Iris geht, ist der Bereich um sie herum akzentuiert und scharf, während der sich entfernende Hintergrund ins Unscharfe und Irreale zurückfällt. Ebenso geht es mit der Tonspur, die man in einer vergleichbar subtilen Ausarbeitung sonst nur in Filmen von Alexander Sokurow findet: Die Welt ist ein lebendiger Humus aus Tönen und Stimmen, die sich stets überlagern, einige sind ohrenbetäubend nah, andere ganz fern."

Es gehe Nemes um einen "weiten gefassten Sinn historischer Orientierungslosigkeit", schreibt Dennis Vetter in der taz. "Mit einem großzügigeren Bildformat versucht er sich an einer breiten Skizze der europäischen Zivilisation am Rande des Zusammenbruchs, allerdings erneut durch den Filter einer einzelnen, absolut gesetzten Wahrnehmung." Für Vetter "verteidigt Neme ein Filmemachen, das sich bei der Konfrontation von Machtrealitäten und Blickregimen nicht hinter erzählerischen Konventionen versteckt."

Weitere Artikel: Sehr skeptisch betrachtet Patrick Straumann in der NZZ die immer wieder laut werdende Kritik, wenn etwa homosexuelle oder transsexuelle Filmfiguren nicht von entsprechend homosexuellen oder transsexuellen Menschen gespielt werden. In der taz empfiehlt Ekkehard Knörer dem ostdeutschen Dokumentarfilmer Volker Koepp gewidmete Veranstaltungen im Filmmuseum Potsdam und im Berliner Kino Krokodil. Barbara Schweizerhof denkt im Freitag über den Erfolg der HBO-Miniserie "Chernobyl" nach. David Steinitz meldet in der SZ, dass der neue "X-Men"-Blockbuster ziemlich gefloppt ist - der Hollywood Reporter bietet dazu eine Vielzahl von Gründen.

Besprochen werden Philipp Eichholtz' "Kim hat einen Penis" (taz), Jim Jarmuschs starbesetzter Zombiefilm "The Dead Don't Die" (taz, Tagesspiegel, mehr dazu bereits hier), Fred Cavayés "Le Jeu" (NZZ), Elena Tikhonovas Austrokomödie "Kaviar" (Standard) und das Reboot des "Men in Black"-Franchise (Perlentaucher, Welt, Standard).
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Musik

Bill Calahan war bislang der ganz große stoische Loner im Gegenwartspop, doch sein neues Album "Shepherd in a Sheepskin Vest" ist geradezu ein Manifest der Häuslichkeit, erklärt Jayson Greene auf Pitchfork - sogar um eine Monatsblutung geht es an einer Stelle. "Jede Note, wie spontan sie auch klingen mag, antwortet leicht und unmittelbar auf Callahans Stimme, die als zentrale Figur bestehen bleibt. 'I never thought I'd make it this far/Little old house, recent-model car/And I've got the woman of my dreams', singt er in dem Stück 'Certainty'. Und gerade so, als ließe ihn die Unwahrscheinlichkeit all dessen ein wenig erschauern, schlägt die Musik beim Wort 'Dreams' für einen Moment in zwei Mollakkorde um. Schließlich kann Zufriedenheit erschreckend fragil wirken, besonders wenn man sie gerade voll auskostet. 'True love is not magic, it is certainty/And what comes after certainty', fragt er sich. Eine Antwort bleibt er schuldig. Callahan schreibt über seine Zufriedenheit in derselben lebhaften, zärtlichen und elegischen Weise wie einst Leonard Cohen."



Sehr viel Freude hat SZ-Kritiker Martin Pfnür am gediegenen Popkonzept der Kölner Gruppe Von Spar, die einst vom Post-Punk kam, dann in psychedelische Krautrock-Gewitter abgedriftet ist, um sich schließlich als experimentell-krautige Softpop-Band neu zu erfinden, die sich den Luxus gönnt, nur alle halbe Jahrzehnte ein Album herauszubringen, dafür aber im Studio extra lange daran zu feilen. Auch "Under Pressure" bietet wieder eine Wundertüte: "Von Spar führen mit der zweiteiligen Suite 'A Dream' von trockener Jaki-Liebezeit-Gedenk-Trommelei über strahlende Synthies hinüber in melancholische Disco-Gefilde; brechen zusammen mit der Stereolab-Sängerin Laetitia Sadier das Immer-Weiter des Krautrock im luftig kreiselnden 'Extend The Song' auf vier Minuten herunter; oder gönnen sich im finalen Prog-Rock-Song 'Mont Ventoux' gegen Ende auch mal eine jaulende Classic-Rock-Gitarre im Van-Halen-Stil. So viel Freiheit muss schon sein." Auf YoutubeMusic steht das Album in voller Länge:



Zurück zum Gesang, fordert der Geiger und Musikhochschullehrer Alois Kottmann im FAZ-Gespräch: "Die Geige ist nicht da, um zu geigen, sondern um etwas zu sagen. Und dabei ist das Singen wichtig. Denn der Gesang ist das Ursprünglichste in Tönen. ... Der Gesang macht das ganze Gemüt aus und war schon da, bevor die Sprache sich in ihrer ganzen Komplexität entwickelt hatte. Und da müssen wir im Geigenspiel wieder hin, zu dieser Ursprünglichkeit, dieser Ganzheit des Gemüts, aus der heraus sich erst wieder tonsprachlich arbeiten lässt."

Weitere Artikel: Felix Michel hat für die NZZ Kent Naganos Proben mit dem Tonhall-Orchester in Zürich besucht, mit dem er Charles Ives' vierte Sinfonie aufführen will. Ueli Bernays listet in der NZZ zahlreiche Gründe dafür auf, warum es plausibel ist, Phil Collins nicht ausstehen zu können.

Besprochen werden Martin Scorseses für Netflix gedrehter Dokumentarfilm "Rolling Thunder Revue" über Bob Dylans Tour im Jahr 1975 (SZ, Pitchfork bespricht die begleitende CD-Box), das neue Madonna-Album "Madame X" (Standard, Presse), Polo Gs neues Album "Die a Legend" (Pitchfork), ein neues Bruce-Springsteen-Album (Presse), ein Strauss-Abend der Staatskapelle Berlin unter Zubin Mehta (Tagesspiegel) und Plaids neues Album "Polymer", das beste der IDM-Meister seit vielen Jahren, sagt Quietus-Kritiker Bob Cluness. Wir hören rein:

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Kunst

Nick Waplington. Ohne Titel.

Angeregt und "auf hohem Niveau" verwirrt kehrt Susanne Lenz in der FR aus dem Berliner Jüdischen Museum zurück, das derzeit das internationale Fotoprojekt "This Place" zeigt, für das zwölf internationale Fotokünstler zwischen 2009 und 2012 Israel und das Westjordanland erkundeten: "Den 81-jährigen Josef Koudelka hat die Mauer interessiert, die Israel vom Westjordanland abtrennt und palästinensische Selbstmordattentäter daran hindern soll, nach Israel zu gelangen. Koudelka hat einst hinter dem 'eisernen Vorhang' gelebt. Er stammt aus Tschechien, vielleicht daher die Faszination. Aus der Düsternis seiner Schwarz-Weiß-Bilder spricht sein Widerwille gegen die Sperranlage, die Landschaften zerteilt, dem weiten Blick Stacheldraht in den Weg stellt und Menschen demütigt, wie die Bauern, die einen Kontrollpunkt passieren müssen, um auf ihr Land zu gelangen."

Keinen besseren Ort als das Centre Pompidou Metz kann sich FAZ-Kritiker Stefan Trinks für die große Rebecca-Horn-Retrospektive mit dem Titel "Theater der Metamorphosen" vorstellen: Horns symbolische "Körpererweiterungen" korrespondieren mit den zahlreichen surrealistischen Werke des Hauses perfekt, meint er: "Obwohl Horns Körperkunst (…) permanent Signale des Sich-Näherns und Berührens sendet, gibt es immer auch sensuelle Dornen in den Arbeiten, die diese Annäherung und Vereinnahmung hintertreiben. Das kopfüber von der Decke hängende Klavier 'Concert for Anarchy' wirkt zugleich betörend und verstörend; in unberechenbaren Abständen stürzt es aus heiterem Himmel nach unten, wobei die weißen und schwarzen Elfenbein- und Ebenholztasten wie Gedärme aus dem Leib des alten Tonmöbels quillen. Der Klang ist dabei ohrenbetäubend dissonant und reizt auch andere Sinne, da selbst bei Nichtsynästhetikern beim lauten Absacken des Klaviers ein Farbspektrum grell aggressiver Rottöne aufblitzt."

Weitere Artikel: Auch nach dem Besuch des Virtual-Reality-Festivals in Hamburg kann SZ-Kritiker Till Briegleb trotz virtuellem "Besuch bei Gott" und Bad in Monets Seerosenteich nicht viel mit Immersion anfangen: "Wie ein LSD-Trip ohne Chemie", meint er. Für die Berliner Zeitung hat sich Ingeborg Ruthe auf der nach dem Ausschluss des AfD-nahen Malers Axel Krause in die Schlagzeilen geratenen Leipziger Jahresausstellung umgesehen und -gehört: "'Wir hätten Krause in unserer Ausstellung aushalten sollen', so der junge Künstler Felix Leffrank." Besprochen werden die Ausstellung ""Im Licht des Nordens. Dänische Malerei der Sammlung Ordrupgaard" in der Hamburger Kunsthalle (Tagesspiegel) und die Ausstellung "200 × Badesaison - Seebad Wyk auf Föhr 1819 bis 2019" im Museum Kunst der Westküste in Alkersum auf Föhr (FAZ).
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