Efeu - Die Kulturrundschau
Müssen Künstler denn Helden sein
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Kunst

Schön zornig findet taz-Kritikerin Beate Scheder die Arbeiten der Schweizer Künstlerin Miriam Cahn, der das Kunstmuseum Bern eine Überblicksschau widmet. Bei Cahn könne man sehen, was die Welt mit dem Menschen macht: "Eine Madonna mit schweren Brüsten, erigierte Genitalien, Masturbation, Begierde, Geilheit, ineinander verschlungene nackte Körper mit Strichmännchengesichtern, bei denen nicht immer klar ist, ob sie Liebes- oder Gewaltakte darstellen. Vieles bleibt mehrdeutig, hinterlässt ein Gefühl des Unbehagens. So verhält es sich auch mit Cahns schwarz-weißen Kohle- und Kreidezeichnungen, mit denen sie in den 1970er Jahren begann und die im oberen Stock hängen. Mit simplen Klebestreifen heftete Cahn Transparentpapier zu einer Fläche zusammen, die größer als ihr Atelier war und kritzelte männliche oder weibliche Erfahrungswelten darauf - Kriegsschiffe, Waffen bzw. Interieur oder sich auskotzende Frauenköpfe."

In der NZZ freut sich Gabriele Detterer über die großartige Flintenweiber in der Schau "Im Visier" in Aarau, die nachzeichnet, wie sich die großen Kunstrebellinnen von Niki de Saint Phalle bis Maria Lassnig bewaffneten, um das Bild weiblicher Harmlosigkeit zu demontieren: "Todbringende Waffengewalt in eine Friedensbotschaft umzumünzen, hatte die US-Künstlerinnen-Gruppe Guerilla Girls im Sinn. Die Feministinnen imaginierten explosive Fantasy-Bomben, die mit Östrogen gefüllt waren und auf testosterongeladene, waffenlüsterne Militärs und Staatslenker zielten, um diese - na ja, recht klischeehaft - in Friedensengel zu verwandeln."
Weiteres: Im Standard unterhält sich Stephan Hilpold mit der Performancekünstlerin Renate Bertlmann, die bei drei Biennale in Venedig den österreichischen Pavillon bespielen wird. Besprochen wird eine Ausstellung zur Künstlersiedlung Margarethenhöhe im Ruhr Museum Essen (FAZ).
Bühne

Junge Regie muss nicht krass sein, weiß SZ-Kritiker Egbert Tholl, trotzdem hat ihm beim Festival "Radikal Jung" in München vor allem Ariah Lester fasziniert, der venezolanische Choreograf und Performer mit einer vier Oktaven umfassenden Stimme: "Hätte Susan Sontag ihren Essay über 'Camp' nicht bereits 1964 geschrieben, sie hätte es nach einer Begegnung mit Lester getan. Dessen Produktion 'White [ARIANE]' ist Camp. Schwul, pathetisch, egozentrisch, voll mit Kitsch und einer überbordenden Musik, einer R'n'B-Oper von klebriger Künstlichkeit. Und doch ist die Aufführung umwerfend, großartig, verzaubernd und in jeder Sekunde wahr."
Weiteres: Eine Frauenquote beim Theatertreffen brächte nicht nur etwas mehr Geschlechtergerechtigkeit, sondern auch wohltuende Abwechslung, meint Katrin Bettina Müller in der taz. Als "strukturellen Durchbruch" wertet Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung immerhin den Theaterpreis für das feministische Kollektiv She She Pop. Im Tagesspiegel berichtet Rüdiger Schaper von der Eröffnung mit Simon Stones "Hotel Strindberg". FAZ-Kritikerin Kerstin Holm hat in Moskau eine Aufführung von Kirill Serebrennikows Revolutionsstück "Barokko" gesehen, bei der auch die halbe Kulturschickeria der Stadt anwesend war, wie sie etwas irritiert bemerkt. Nach der Aufdeckung der grausamen Praktiken an der Wiener Ballettakademie stellen sich Andre Heinz in einem Essay grundsätzlichen Fragen: "Müssen Künstler denn Helden sein? Muss man sich für Schwanensee opfern?"
Besprochen werden David Pountneys Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs Holocaust-Oper "Die Passagierin" in Tel Aviv (SZ), Besprochen werden Ernst Tollers "Hoppla, wir leben!" im Nationaltheater Mannheim (FR), Jean Raspail s "Heerlager der Heiligen" bei den Ruhrfestspielen (FAZ), Dave Eggers "The Circle" in Weimar (FAZ), der dreiteilige Ballettabend "Balanchine Forsythe Siegal" in der Berliner Staatsoper (Tsp).
Literatur
Besprochen werden Minna Rytisalos Roman "Lempi" (NZZ), Ruth Schweikerts Buch "Tage wie Hunde" (Tagesspiegel) und Tobias Schwartzs Roman "Nordwestwärts" (Welt) (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).
Architektur

In der SZ stellt Till Briegleb den Berliner Architekten Thomas Kröger vor, der auf die verschrobene Idee verfallen ist, seinen ländlichen Häusern keine Flachdächer aufzusetzen. Seine an traditionelle Bauernhäuser angelehnten Bauten haben Sattel-, Walm- und Schleppdächer, bei ihnen kann der Schnee runterrutschen, der Regen abfließen und die Sonne staut weniger Hitze. Irre, findet Briegleb: "Wer Ziegel auf dem Dach hat, gilt als ästhetisch nicht ganz dicht. Aber es gibt Hoffnung. Ein Mann namens Thomas Kröger praktiziert endlich, was die Moderne so lange gepredigt hat: Kunstarchitektur, die Sinn macht, und zwar mit Dachskalp drauf. Damit tritt er einer Bauauffassung im Greisenalter entgegen, nach der nichts Stil besitzen kann, was vom Land kommt. Thomas Kröger kommt vom Land. Und er sagt mit Leidenschaft: 'Ich liebe Dächer!'"

Voller Bewunderung für die Großherzigkeit und das noble Unterfangen geht Standard-Kritiker Ronald Pohl durch die Ausstellung "Das Rote Wien" im Musa, das an den kommunalen Wohnungsbau im sozialdemokratischen Wien der zwanziger und dreißiger Jahre erinnert: "Gerade bürgerliche Künstler und Intellektuelle wie Robert Musil, Alfred Polgar oder Hans Kelsen ziehen vor den Errungenschaften des neu entstandenen Gemeinsinns bewundernd den Hut. Das Bild lückenloser Behütung reicht vom Montessori-Kindergarten hin zu Arbeitergesängen. Zwölftöner wie der Schönberg-Schüler Anton Webern dirigierten voller Inbrunst Chöre von zu neuem Leben erweckten Subjekten. Ob die Wohnungen in den Gemeindebauten letztlich zu klein und zu eng waren; ob die Gleichstellung der Frauen nicht energisch genug betrieben wurde; ob der Baustil der Architekten zu kleinbürgerlich war, zu sehr befangen in Halbherzigkeit: Dies alles lässt sich heute nicht mehr eindeutig entscheiden."
Film
Weiteres: Susanne Kippenberger und Andreas Austilat unterhalten sich im Tagesspiegel mit der Schauspielerin Eva Matthes.
Musik
Hier der Filmausschnitt: