Efeu - Die Kulturrundschau

Fast schon lexikalische Tiefe

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02.03.2019. In der FAZ stellt sich Rolando Villazon leidenschaftlich hinter Daniel Barenboim. Laut taz stehen Ulrich Khuon und Klaus Lederer indes plötzlich nicht mehr hinter der von ihnen präsentierten Broschüre gegen den Kulturkampf von rechts. Die Kritiker von Natascha Süder Happelmann wollen erst gar nicht genannt werden, weiß die Welt. Walter Gropius war kein Frauenfeind und auch kein Nazi, ruft der Guardian. Der Filmdienst blickt hinter die verschlossenen Türen der privaten cinephilen BitTorrent-Tracker und hebt einen Schatz. Und die Welt erkundet die tschechische Literatur.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.03.2019 finden Sie hier

Musik

In der FAZ stellt sich Rolando Villazón felsenfest hinter Daniel Barenboim: Zwar ist der Tenor vom Maestro ebenfalls angegangen worden - doch der Kunst hat es schlussendlich genützt. "Ich könnte diese Geschichten auf zwei Arten erzählen: bitter und frustriert, oder positiv, lustig und selbstironisch. Meine Persönlichkeit, meine Kritikfähigkeit, meine Umstände machen es mir möglich, den zweiten Weg zu wählen. Anderen mag das nicht möglich sein. ... Kunst ist kein Unternehmen. Bedeutet das, dass Respektlosigkeit und Machtmissbrauch akzeptiert werden müssen? Absolut nicht! Es bedeutet aber sehr wohl, dass Leidenschaft und Temperament willkommen sind." Ähnlich sieht es Tilman Krause in der Welt: Barenboims große Zeiten mögen hinter ihm liegen, doch die Staatskapelle, wie sie heute dasteht, verdankt ihm zweifellos alles. Und "Kunst kommt nicht von kuscheln", schreibt Krause. "Menschen, die hoch hinaus, ja über sich hinauswachsen wollen, haben ein anderes Verhältnis zu diesen Dingen. Nicht alle, aber doch erstaunlich viele sehnen es förmlich herbei, drangsaliert zu werden. ... Despotische Dirigenten sind von alters her eher die Regel als die Ausnahme."

Die Feuilletons trauern um André Previn, dem Grenzgänger zwischen Jazz und Klassik, Hochkultur und Unterhaltung, "der den kleinen, aber eben doch sehr tiefen Abgrund nachhaltig übersprungen hat, der zwischen der Klassik und der populären Musik klafft", wie Manuel Brug in der Welt schreibt. "Er tat das als Glückskind gleich mehrfach, elegant, tänzerisch, traumsicher und sehr begabt." Weitere Nachrufe schreiben Stefan Schickhaus (FR), Marco Frei (NZZ), Frederik Hanssen (Tagesspiegel), Wilhelm Sinkovicz (Presse), Harald Eggebrecht (SZ) und Jan Brachmann, der uns in der FAZ an Previns Duett mit Doris Day von 1961 erinnert:



Weitere Artikel: Die Umsätze der US-Musikindustrie sind im vergangenen Jahr im Vergleich zum Vorjahr um 12% gestiegen und der Anteil von Streaming am Gesamtumsatz liegt mittlerweile bei satten 75%, meldet The Quietus (hier der Umsatzbericht im Detail). Für die taz hat sich Julia Lorenz mit Maurice Ernst von Bilderbuch zum Gespräch getroffen. Robert Matthies schwärmt in der taz von Felix Kubins "feinem Gespür für Verschrobenes", mit dem der Klangkünstler und Labelbetreiber seit geraumer Zeit seinen fremdartigen Soundkosmos gestaltet. In der Zeit porträtiert Ulrich Stock den Kontrabassisten Lukas Kranzelbinder. Christian Wildhagen gratuliert in der NZZ dem Dirigenten Bernard Haitink zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden Jungstötters Album "Love Is" (Freitag), Nicki Minajs Berliner Konzert (Tagesspiegel, Berliner Zeitung) und das neue Album der Young Gods (NZZ).
Archiv: Musik

Film

Für einen epischen Filmdienst-Essay ist Lukas Foerster tief eingetaucht in die Welt der privaten cinephilen BitTorrent-Tracker, hinter deren verschlossenen Toren Filmkunst, Filmgeschichte, Entlegenes und äußerst Rares getauscht und am Leben erhalten wird, was es unter anderem auch Menschen an der globalen Peripherie ermöglicht, den kulturellen Wissensvorsprung zu reduzieren. Bestaunenswert sind "die Vielfalt und fast schon lexikalische Tiefe des angebotenen Materials. In dieser Hinsicht sind die Torrentseiten schlicht unschlagbar. Besonders deutlich wird das seit dem Videothekensterben. Die kommerziellen Streamingdienste, die an die Stelle der älteren Heimkinodistributionssysteme getreten sind, haben ihr von Anfang an spärliches Repertoireprogramm inzwischen fast komplett eingedampft." Außerdem stellen diese Communitys "eine Infrastruktur für die Erstellung von Untertiteln bereit, wodurch Filme zugänglich werden, die auf dem Markt schlichtweg nirgendwo angeboten werden." Wobei, wie Foerster melancholisch feststellt, Netflix und Konsorten offenbar auch in solchen Communitys für Schwund sorgen: "Die Torrents gehören zum Internet der Blogs, Wikis und Foren, nicht zu dem der Apps und sozialen Medien."

Weitere Artikel: In der Langen Nacht des Dlf Kultur würdigt Rainer Praetorius Stanley Kubrick, der am 7. März vor 20 Jahren gestorben ist. Dazu passend schreibt Rudolf Worschech in epdFilm ausführlich über Kubrick. Für die SZ plaudert Matthias Kolb mit Matthew McConaughey über dessen neuen Film "White Boy Rick".

Besprochen werden Jia Zhang-kes "Asche ist reines Weiß" (Georg Seeßlen liest den Film in der Zeit "als Geschichte der Geburt eines neuen weiblichen Subjekts von Gesellschaft und Geschichte"), Ali Abbasis "Gräns" (Filmbulletin), Chiwetel Ejiofors auf Netflix gezeigtes Regie-Debüt "Der Junge, der den Wind einfing" (FAZ), der Dokumentarfilm "Maria Ressa: War on Truth" (NZZ), die Serie "8 Tage" (Berliner Zeitung, FAZ) und Marc Dugains Kostümfilm "Ein königlicher Tausch" (FAZ).
Archiv: Film

Bühne

Die staatlich finanzierte Broschüre zum Kulturkampf gegen rechts, die behauptet, Ulrich Greiner habe die migrationsfeindliche "Erklärung 2018" unterschrieben, darf nach einer Unterlassungsklage des Ex-Zeit-Feuilletonchefs in dieser Form nicht mehr herausgegeben werden. (Unser Resümee). In der taz hat Barbara Behrendt Zweifel, ob Ulrich Khuon und Klaus Lederer die Broschüre vor der Präsentation überhaupt gelesen haben: Khuon "weist im Gespräch jede Verantwortung zurück. Er sei nur Gastgeber bei der Präsentation der 'Handreichung' gewesen. Eine 'Handlungsanweisung' im Kulturkampf gegen rechts findet er 'richtig', inhaltlich sieht er allerdings 'Differenzen' zur Broschüre. Auch Kultursenator Klaus Lederer zieht sich aus der Affäre. Er sei, so sein Pressesprecher, gefragt worden, ein paar Worte bei der Präsentation zu sagen - das habe er getan, da ihm die Verteidigung der Kunstfreiheit ein zentrales Anliegen sei."

Szene aus Zeiten des Aufruhrs. Foto: Arno Declair

Jene feinen Zwischentöne, die Richard Yates' Roman "Zeiten des Aufruhrs" vor allem in der Schilderung der menschlichen Beziehungen prägten, hat Jette Steckel in ihrer Inszenierung am Deutschen Theater leider überhört, seufzt Nachtkritiker Michael Wolf vor allem mit Blick auf den von Alexander Khuon gespielten Frank: "An einer anderen Stelle erreicht die Verabschiedung der Männerfigur einen peinlichen Höhepunkt. Im Buch versucht April ihrem Gatten und nicht zuletzt sich selbst einzureden, er sei 'das Kostbarste und Wundervollste', was es auf dieser Welt gebe: 'Du bist ein Mann!' Klar, dass dieser Satz im Jahr 2019 bescheuert klingt, aber warum dann ihn nicht einfach streichen? Im Deutschen Theater heißt es stattdessen: 'Du bist das Schönste und Wunderbarste, was es auf der Welt gibt: ein Mensch!'" Auf Spiegel-Online meint Wolfgang Höbel: "Selten wurde (...) so schamlos der alten Schule des psychologischen Realismus gehuldigt wie in vielen Szenen dieser 'Zeiten des Aufruhrs'-Inszenierung." Im Dlf verdankt Barbara Behrendt dem Schauspielduo Alexander Khuon und Maren Eggert indes einen "beklemmenden" Abend.

Weitere Artikel: In der FAZ gratuliert Marc Zitzmann Ariane Mnouchkine, Mitbegründerin des Pariser Theatre du Soleil, zum Achtzigsten.

Besprochen wird Sandy Lopičićs Inszenierung von Ibrahim Amirs Stück "Rojava" über den Krieg in Syrien am Wiener Volkstheater ("Überladenes Lehrstück", meint Norbert Mayer in der Presse; weitere Besprechungen in Standard, nachtkritik), Stefan Ottenis Inszenierung von Katja Hensels Stück "Angela I." für die Bremer Shakespeare Company (Zeit, nachtkritik) und Fabian Gerhardts Oper "Die Fleisch" an der Neuköllner Oper (Tagesspiegel).
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Literatur

Die tschechische Literatur "erkundet ihr einst multikulturelles und mehrsprachiges Terrain gerade geschichtsbewusst neu", schreibt Marc Reichwein in der Literarischen Welt über das Gastland der Leipziger Buchmesse. Er hat den "Eindruck, dass die jüngere tschechische Literatur nach einer postkommunistischen Phase relativ belanglosen Schreibens wieder literarisch relevanter ist. und zwar in dem Sinne, dass sie Themen aufs Tapet bringt, die im politischen Diskurs Tschechiens lange tabuisiert waren." Insbesondere auf Radka Denemarková, Kateřina Tučková und Petr Stančík kommt Reichwein in diesem Zusammenhang zu sprechen.

Weitere Artikel: Egal wo sich derzeit ein Buchstapel auftürmt, Robert Habeck ist fast schon garantiert in Sichtweite, schreibt Marc Reichwein in der Literarischen Welt. Außerdem macht die Literarische Welt heute mit der Erzählung "Die Mandantin" von Ferdinand von Schirach auf und die FAZ bringt Auszüge aus Hans Traxlers Erinnerungsbuch "Mama, warum bin ich kein Huhn?".

Besprochen werden unter anderem Gabriele Tergits "Effingers" (Welt), Anna Giens und Marlene Starks "M" (SZ), Matthias Nawrats "Der traurige Gast" (taz), Dov Alfons Krimi "Unit 8200" (taz), neue Veröffentlichungen von Siri Hustvedt (NZZ) und Daniela Kriens "Die Liebe im Ernstfall" (FAZ).
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Architektur

Walter Gropius war kein Frauenfeind, kein humorloser deutscher Funktionalist und auch kein Nazi, schreibt Gropius-Biografin Fiona MacCarthy in einem engagierten Artikel im Guardian: "Inwieweit Gropius mit den Nazis zusammengearbeitete, als Hitler 1933 Kanzler wurde, ist weitgehend umstritten. Sicherlich beteiligte er sich an nationalsozialistischen Architekturprojekten, entwarf einen (abgelehnten) Entwurf für die Reichsbank in Berlin und nahm an der propagandistischen Ausstellung 'Deutsches Volk, deutsche Arbeit' teil. Die Versuchungen waren offenkundig. Er hatte ein großes Büro zu unterstützen. Er hielt sich für einen patriotischen Deutschen. Er war kein Jude. Er war nicht gezwungen, das Land zu verlassen. Aber das Nazi-Regime lehnte alles ab, woran er glaubte, die künstlerischen Freiheiten, für die er gearbeitet hatte. Seine avantgardistischen Assoziationen und seine engen Beziehungen zu Menschen, die die Nazis als 'entartete Künstler' bezeichneten, ließen ihm keine andere Wahl, als auszuwandern. Ise kommentierte später, dass, wäre er in Deutschland geblieben, Gropius in ein Konzentrationslager geschickt worden wäre."
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Kunst

Hans Danuser. Matographie Kilimandscharo IV

"Wichtig, schön und gefährlich" nennt in der NZZ Angelika Affentranger-Kirchrath die experimentellen Fotografien von Hans Danuser, dem das Kirchner-Museum in Davos derzeit eine Schau widmet: "Die Kunst von Hans Danuser liegt in der Dialektik von Zeigen und Verbergen: Er spricht nichts explizit aus, er spielt mit Ahnungen, Andeutungen und unseren Vorstellungen. Es entstehen Bilder, die uns auf einer mehr unbewussten denn bewussten Ebene ansprechen und nicht loslassen. Darin liegt ihre Gefährlichkeit bei all ihrer Schönheit. Nachdem er sich dem Menschen und seinen Möglichkeiten der Manipulation in Technik und Wissenschaft zugewendet hatte, änderte er die Fragestellung und richtete sich in neueren Zyklen wie 'Erosion' oder 'Landschaft in Bewegung' an die Natur und ihre inneren Gesetze.

In der Welt verteidigt der Schriftsteller Joachim Lottmann die Künstlerin Natascha Sadr Haghighian, die unter dem Pseudonym Natascha Süder Happelmann Deutschland auf der kommenden Biennale in Venedig vertritt, gegen die Kritik, sie sei eine "Akademikerin ohne kreatives Potential": Sie "versteht viel von einem ganzen Strauß von Wissenschaften (vermutlich mehr als alle ihre Gegner zusammen), als da wären Physik, Biochemie, Soziologie, Kommunikationswissenschaft, Sexualwissenschaft, Ökonomie, Philosophie und natürlich Kunsttheorie. Man könnte es auch brutal verkürzt sagen: gender studies und Kapitalismuskritik. Das ist im akademischen Bereich heute sakrosankt. Wer als Künstler dagegen etwas einwendet, hat eine Lobby gegen sich. Deswegen gibt es Kritik an Natascha Sadr Haghighian nur hinter vorgehaltener Hand. Niemand will namentlich genannt werden."

Weitere Artikel: Im Monopol-Gespräch mit Saskia Trebing erklärt der Künstler Michael Rakowitz, weshalb er seine Teilnahme an der Whitney-Biennale absagte, nachdem bekannt wurde, dass im Museumsvorstand ein Fabrikant für Tränengas sitzt. Er fordert "ethische Richtlinien" für das Mäzenatentum. Angenehm klischeefrei findet Alexander Diehl in der taz die von dem Musikjournalisten Max Dax kuratierte Ausstellung "Hyper!" in den Hamburger Deichtorhallen, die Verbindungen zwischen Kunst und Popmusik nachspürt. Im Tagesspiegel erklärt Max Tholl, weshalb der amerikanische Künstler Tyree Gyuton sein Lebenswerk, die farbig gestalteten Häuser in der Heidelberg Street in Detroit, nach 33 Jahren nun selbst zerstört.In der NZZ porträtiert Philipp Meier den in Singapur lebenden Kunstsammler und Konzeptkünstler Guillaume Levy-Lambert.

Besprochen werden die Ausstellung "Jun Yang" im Kunsthaus Graz (Standard), die Ausstellung "Bunny Rogers. Pectus Excavatum" im Zollamt MMK in Frankfurt (SZ) und die Ausstellung "Mantegna und Bellini. Meister der Renaissance" in der Berliner Gemäldegalerie ("die Berliner Muss-Ausstellung des Jahres", findet auch Stefan Trinks in der FAZ)
Archiv: Kunst