Efeu - Die Kulturrundschau

Die Versicherung sah Klärungsbedarf

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24.10.2018. Die SZ durchleuchtet die Geschäfte des hinter dem geplatzten DAU-Projekt stehenden Oligarchen Sergey Adoniev im Kokain-, Obst- und Holzhandel. Der Tagesspiegel erkennt mit Beatriz González in Orange, Lila und Grün die Farben Kolumbiens. In der taz überlegt Nancy Hünger​, ob im Bild des Autors das Schreiben sichtbar werden kann. Und die NZZ entdeckt bei den Donaueschinger Musiktagen zu wenig Schönheit und zu viel Kunsthandwerkerspaß.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.10.2018 finden Sie hier

Kunst

Beatriz González, Decoración de Interiores, 1981, Installationsansicht, Kunst-Werke, Foto: Frank Sperling.

Im Tagesspiegel freut sich Birgit Rieger, dass die kolumbianische Künstlerin Beatriz González endlich auch in Berlin eine Ausstellung erhält, und zwar in den KunstWerken: "Leuchtendes Orange, Lila und Grün sind tief in ihr und ihrer kolumbianischen Heimat verankert. Sie mag ähnliche Methoden verwenden wie ihre Pop Art-Kollegen im Westen, aber es geht ihr nicht um die Konsumkultur der 70er Jahre, sondern um das spezifische politische und soziale Klima ihres Heimatlandes. Sie hat lokale Geschichten für internationale Kunst genutzt - zu einer Zeit, als noch niemand Lokales und Globales zusammendachte."

Peter Laudenbach und John Goetz wollen sich nicht festlegen, ob die Absage des Mauerprojekt DAU Berlin als Provinz erschienen lässt, die Aura des Regisseurs  Ilya Khrzhanovsky noch steigert oder vielleicht auch ganz richtig war. Aber sie haben die anrüchigen Hintergründe des dahinterstehende Oligarchen Sergey Adoniev recherchiert: "Ein enger Geschäftspartner, Oleg Popov, mit dem er schon bei seinen Anfängen im Obst- und Holzhandel zusammengearbeitet hatte, wird 1994 in Sankt Petersburg erschossen. Im Vorjahr hatte er eine amerikanische Lebensversicherung über 1,5 Millionen Dollar abgeschlossen. Die Versicherung sah Klärungsbedarf und verweigerte die Zahlung. Im Gerichtsverfahren, in dem Popovs Witwe ihre Ansprüche durchsetzen wollte, arbeiteten sich die Anwälte der Versicherung durch Popovs Vergangenheit. Die Los Angeles Times berichtet, dass in diesem Prozess FBI-Dokumente zitiert wurden, die Popov und Adoniev in den Neunzigerjahren mit einem Fund von 1,1 Tonnen Kokain an der russisch-finnischen Grenze in Verbindung bringen."

Weiteres: Im Monopol-Magazin interviewt Daniel Völzke mit der NZZ-Kunstkritikerin Antje Stahl, die für ihre Kritik zur Ausstellung "Frau Architekt" im Frankfurter Architekturmuseum den Michael-Althen-Preis erhielt und dabei nicht nur von den Machern der Ausstellung, sondern auch von Laudator Jürgen Kaube ordentlich was mitbekam (nachzulesen hier).

Besprochen werden eine Ausstellung der britischen Künstlerin Tacita Dean im Kunsthaus Bregenz (Standard), eine große Kunstschau zur Afro-Atlantischen Geschichte im Sao Paulo Museum of Art (New York Times), die Hilma-af-Klimt-Retrospektive im Guggenheim Museum in new York (Hyperallergic), die Ausstellung "Fifty Years of Subversion and the Spirit" des Sex-Pistols-Künstlers Jamie Reid in der Humber Street Gallery, Hull (Guardian) und die Retrospektive des österreichischen Künstlers Franz West im Centre Pompidou (SZ).
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Literatur

Im Berlinteil druckt die taz die gekürzte Version von Nancy Hünger​s Essay aus dem Fotoband "Das Gedicht & sein Double: Die zeitgenössische Lyrikszene im Porträt". Darin geht die Lyrikerin, ausgehend von ihrem Unbehagen, betriebsmäßig fotografiert zu werden, der Frage nach, woher die Lust der Öffentlichkeit am Autorenfoto rühren könnte. "Wilhelm Genazino vermutet einen narzisstischen Transfer: Sobald wir als Leser ein Verhältnis zu einem Text entwickeln, entwickeln wir zugleich eine Vorstellung vom idealen Autor dieses Textes, der unseren Vorstellungen und Projektionen entsprechen soll. Wir lavatern in der Physiognomie herum, versuchen das Äußere aufs Innere zu deduzieren, suchen vermutete Ähnlichkeiten, letztlich Ähnlichkeiten zu uns selbst. ... Doch dient zur Wunschgenese nicht nur der narzisstischer Transfer, sondern sicherlich auch die Unsichtbarkeit des literarischen Aktes. 'Das Schreiben kann man nicht sehen', konstatierte Ingeborg Bachmann. Den Autor hingegen, der ein ehedem vorgegebenes Material, mit begrenzten Zeichen, immer wieder wandelt und entgrenzt, sodass selbst Freud nach dem Urgrund des dichterischen Vermögens forschen wollte, schon. Wenigstens er ist habhaft."

Weitere Artikel: Slate.fr gibt einen Überblick über die spannendsten Neuerscheinungen auf dem französischen Comic-Markt. Die NZZ dokumentiert Julia Webers Eröffnungsansprache zum Festival "Zürich liest". Tobias Sedlmaier lobt in der NZZ das "hochkarätige Programm" der Badenweiler Literaturtage. In der SZ gratuliert Lothar Müller dem Schriftsteller Walter Kappacher zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Elena Ferrantes neuübersetztes Debüt "Lästige Liebe" (Zeit), Wolfgang Herrndorfs postumer Band "Stimmen" (Freitag), Michal Hvoreckýs "Troll" (Tagesspiegel), Richard Powers' "Die Wurzeln des Lebens" (SZ), Kamila Shamsies "Hausbrand" (FR), Cristian Berkels "Der Apfelbaum" (NZZ) und Judith Schalanskys "Verzeichnis einiger Verluste" (FAZ).
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Design

Eine Ausstellung im Vitra Design Museum in Weil am Rhein erinnert an das sozial- und umweltverträgliche Design von Victor Papanek, der mit seinem Begriff "Kleenex Culture" gegen die Wegwerfgesellschaft anschrieb. NZZ-Kritikerin Antje Stahl kann das schier "den Verstand rauben: Er schreibt von Hunderttausenden von Einweg-Kleidern, Plastikverpackungen für Hemden und aufblasbaren Sesseln, von neuen lustigen Briefkästen mit Gesichtern und Ohren, die die Einfahrten ganz Amerikas erobert haben, obwohl sie anders als die schöne alte silberne Mailbox die Briefe und Pakete nicht vor Schnee und Regen schützen können. Und natürlich von den Autos, die der Amerikaner alle zwei bis drei Jahre wechselte und die bis zu 50 000 seiner Landsleute jährlich das Leben kosteten. Auch die Umweltverschmutzung, die uns nach dem Dieselskandal ja besonders beschäftigt, prangerte er immer wieder an."
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Bühne

Klaus-Helge Donath berichtet in der taz vom Prozess gegen den kremlkritischen Regisseur Kirill Serebrennikow in Moskau.

Besprochen werden Karin Beiers "geistvoll-improvisierte" Inszenierung von Shakespeares "König Lear" am Hamburger Schauspielhaus und Jette Streckels "Medea und Jason" am Thalia Theater (SZ) sowie Bastian Krafts Inszenierung von Tennessee Williams' Südstaaten-Drama "Endstation Sehnsucht" (FAZ).
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Film

Die Kinos quellen in diesem Jahr wie kaum in einem anderen zuvor förmlich über vor Remakes: Im BR-Feature "Remake-Mania" nimmt Markus Metz das Phänomen kritisch unter die Lupe.

Besprochen werden Agnès Jaouis und Jean-Pierre Bacris "Champagner & Macarons" (SZ), David Gordon Greens "Halloween"-Remake (Standard), Daniel Alfredsons Verfilmung von Håkan Nessers Thriller "Intrigo" (Welt, epdFilm), Cécile Allegras Arte-Reportage "Libyen - Vergewaltigung als Waffe" (FAZ), die von Facebook produzierte Serie "Sorry for your Loss" (Freitag) und die von Amazon produzierte Serie "Jack Ryan" (NZZ).
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Architektur

Eine feste Burg ist unser Kulturzentrum. Foto: Gasteig

In München sind das Kulturzentrum Gasteig und seine Architekten in einen heillosen Streit um die Renovierung geraten. Streitum ist vor allem der Charakter der Bastion, erklärt SZ-Kritiker Gerd Matzig und da hat er selbst ganz eindeutige Ansichten: "Diese Situierung gehört zum konzeptionellen Narrativ des Gasteigs. Vor allem das Wehrhafte des Kulturzentrums, das Dasein als 'Bastion', ist den Urhebern wichtig. Genau das muss man grundlegend infrage stellen. Als der Gasteig erbaut wurde, war das Kulturzentrum umtost vom Autoverkehr. Heute kommen die meisten Menschen per S-Bahn (deren Lage damals noch gar nicht absehbar war), also letztlich durch den Hintereingang in den Gasteig. Daher: Nein! Ein Kulturzentrum muss sich architektonisch dem Stadtraum öffnen und die Kultur des Einladendseins pflegen."
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Stichwörter: Gasteig, München

Musik

In der NZZ zieht Eleonore Büning Bilanz nach den Donaueschinger Musiktagen, die in zwei Jahren immerhin ihr Hundertjähriges begehen, nach Ansicht der Musikkritikerin aber derzeit kaum eine Programmatik für die Gegenwartsmusik vorweisen können. Die "Schönheit" kam "neben all dem sich multiplizierenden, hochachtbaren Kunsthandwerkerspaß" nach Bünings Geschmack eindeutig zu kurz. Einige Uraufführungen konnten sie zumindest etappenweise trösten: "'Parthenon' von Klaus Lang gehört unbedingt dazu, mit seinen schwebenden, leuchtenden, wie aus der Luft gezogenen Klangsäulen - vom Cikada-Ensemble exzellent realisiert. Auch die kargen, formklaren Klanginstallationen des Berner Künstlers Zimoun muss man dazurechnen, in denen Schönheit quasi aus der Unterforderung entsteht, dass einzig das Material zu uns spricht: '125 prepared dc-motors, filler wire 1.0mm', zum Beispiel, singen ein zärtliches Continuolied. Und letztlich zählen, im Rückblick, auch die wortlosen Widersprüche zu den wenigen poetischen Inseln des Festivals, die in Isabel Mundrys umstrittenem politischem A-cappella-Stück 'Mouhanad' auftauchen."

Weitere Artikel: Ljubiša Tošić bringt im Standard knappe Hintergründe zum neugegründeten Wiener Orchester Klangkollektiv.

Besprochen werden Neneh Cherrys neues Album "Broken Politics" (Pitchfork), ein von Kent Nagano dirigiertes Mahler-Konzert des Deutschen Symphonie-Orchesters (Tagesspiegel), der Auftakt des 49. Deutschen Jazzfestivals in Frankfurt (FR), neue Popveröffentlichungen, darunter Thom Yorkes Soundtrack zu Luca Guadagninos "Suspiria"-Remake (SZ), und "Heavy Listening" der Sängerin Farce, der damit laut Standard-Kritiker Christian Schachinger zwischen den Koordinaten "House-Rhythmen, Trap Beats, Trance Pop ...  ein Album des Jahres" geglückt ist. Hier ein Eindruck:

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