Efeu - Die Kulturrundschau

Akribie und Leidenschaft

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.08.2018. Der Filmdienst singt ein Loblied auf die Off-Festivals, die Filme jenseits aktueller Diskursinteressen zeigten. In der taz erkundet der spanische Comiczeichner Miguelanxo Prado die Folgen der Finanzkrise. Totale Illusion, lernt die FAZ in der Kunsthalle München, ist schlechte Kunst. Die Welt vermisst den kreativen Glanz in der Marke Sasha Waltz. Die SZ allerdings wünscht sich mehr Gärtnerinnen für den Tanz.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.08.2018 finden Sie hier

Literatur

"Leichte Beute" von Miguelanxo Prado (Bild: Carlsen)
Für die taz spricht Ralph Trommer mit dem spanischen Comiczeichner Miguelanxo Prado über dessen neueste Arbeit, den Thriller "Leichte Beute", der die bedrückenden Folgen der Finanzkrise 2008 in Spanien zeigt: "Ich las von dem Selbstmord des Rentnerehepaars und war fassungslos, wie so etwas heute passieren konnte. Ich begann mit der Recherche über diesen Fall, der in Spanien einer der ersten und zugleich aufsehenerregendsten war, die im Zusammenhang mit der Finanzkrise standen. Es wurden immer mehr Fälle bekannt von Menschen, die all ihr Gespartes verloren." Die Banken "gaukelten alten Leuten vor, es sei eine sichere Anlage, ihr Geld in Genussscheine zu investieren. In Wirklichkeit waren das Hochrisikogeschäfte. Später kamen diese Geschäfte vor Gericht; die betrogenen Anleger bekamen recht und konnten ihr Geld zurückfordern. Doch aufgrund des hohen Alters dieser Betroffenen waren schon viele verstorben, was eine zusätzliche Tragik bedeutete."

Weitere Artikel: Die FAZ hat Hannes Hintermeiers Gespräch mit Schriftsteller Friedrich Ani aus der Ausgabe vom Samstag online nachgereicht. Jan Jekal (taz) und Gregor Dotzauer (Tagesspiegel) berichten vom Sommerfest des Literarischen Colloquiums in Berlin, wo Maxim Biller und Sven Regener Auftritte hatten. Für die taz plaudert Jan-Paul Koopmann mit "Werner"-Autor Rötger "Brösel" Feldmann.

Besprochen werden Gianna Molinaris "Hier ist noch alles möglich" (Tagesspiegel, NZZ), Isabel Allendes "Ein unvergänglicher Sommer" (online nachgereicht von der FR), Helene Hegemanns "Bungalow" (online nachgereicht von der FAZ), Anne Tylers "Launen der Zeit" (Berliner Zeitung), Inger-Maria Mahlkes "Archipel" (Tagesspiegel), Heinz Strunks Erzählband "Das Teemännchen" (Zeit), Iman Humaidans "50 Gramm Paradies" (Tagesspiegel), Wolf Wondratscheks "Selbstbild mit russischem Klavier" (SZ), Bergsveinn Birgissons "Die Landschaft hat immer recht" (Welt), Bernhard Strobels "Im Vorgarten der Palme" (SZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Ursula Poznanskis "Thalamus" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Mathias Mayer über Hermann Hesses "Der erhobene Finger":

"Meister Djü-dschi war, wie man uns berichtet,
Von stiller, sanfter Art und so bescheiden,
..."
Archiv: Literatur

Film

In einem längeren Essay im Filmdienst nimmt sich Lukas Foerster die Festivalkultur vor und singt ein Loblied auf die Arbeit der Off-Festivals, die Filme frei von Relevanz- und Diskursinteresse zeigen, so etwa der "STUC", der sich auf "stählerne Filme" spezialisiert hat: Eine Erprobung in Leidensfähigkeit, von der Foerster sehr beglückt nach Hause fährt: "Plötzlich erkennt man: Bei den meisten anderen Festivals, insbesondere bei den größeren, bei jenen, die Schlagzeilen machen, geht es gar nicht darum, Filme zu zeigen und anzuschauen. Sondern es geht darum, diskursive Mechanismen aufzurufen, die die gezeigten Filme mit Relevanz aufladen. ... Die Rhetorik der Neuheit ist in der Film- und Festivalkultur erdrückend allgegenwärtig. Hier wird sehnsüchtig der neue Film von Regisseur X erwartet, dort eine 'neue Welle' im Land Y herbeigeschrieben. Und wenn das alles noch nicht ausreicht, sind die Filme, laut Katalogtext, 'am Puls der Zeit', oder sie behandeln, im Fall von Wiederaufführungen, Themen, die 'gerade heute wieder aktuell' sind. So sind insbesondere Filme, die auf großen Festivals Premiere feiern, in mehrfacher Hinsicht überdeterminiert, bevor auch nur ein einziges Bild auf der Leinwand erschienen ist."

Besprochen werden Spike Lees "Blackkklansman" (Freitag, unsere Kritik hier), Mike P. Nelsons laut Till Kadritzke "in seinem Innersten herrlich dreckiges" Debüt "The Domestics" (Tagesspiegel), Sedak Kirtans auf Heimmedien erschienenes Gangsterdrama "Familiye" (SZ) und die von Thomas Pynchons "Die Versteigerung von No. 49" inspirierte Amazon-Serie "Lodge 49", in deren "scheinbar ziellos dahinmäandernden Plotlinien" man laut FAZ-Kritiker Oliver Jungen auf "zahlreiche Reflexionsanker" stößt.

Und falls Sie den Film bei der ersten Runde verpasst haben: Regina Schillings Essayfilm "Kulenkampffs Schuhe" ist dank einer Wiederholung im SWR jetzt wieder für einige Tage online abrufbar.
Archiv: Film

Kunst

Livia Marin: Nomad Patterns, 2018 © Livia Marin

Für die FAZ besucht Stefan Trinks die große Illusionsschau "Lust der Täuschung" in der Kunsthalle München, die nichts mit professioneller Realitätsanzweiflung im Sinne habe: "Eine Formel lässt sich der großen Münchner Illusions-Schau wohl abgewinnen: Nur schlechte Künstler wollen die totale Illusion und Immersion; echte Künstler beharren auf einer Reflexion des Bildseins im Bild, dem verräterischen, vielleicht falsch positionierten Detail, dem winzigen - gemalten! - Nagel, an dem das Auge des Betrachters hängenbleibt, der das Geschaffene als kunstvolles, aber eben künstliches Gebilde offenbart."

Weiteres: Für den Tagesspiegel besucht Philipp Lichterbeck die Holocaust-Überlebende und Fotografin Claudia Andujar in Sao Paulo, die sich der Rettung der brasilianischen Yanomami verschrieben hatte und nun dafür die Goethe Medaille erhält. Besprochen wird die Schau "Drag: Self-Portraits and Body Politics" in der Hayward Gallery in London (die laut Peter Conrad im Guardian in etwas überholten Stereotypen steckenbleibt).
Archiv: Kunst

Design

Gabriele Detterer porträtiert in der NZZ Christien Meindertsma, die derzeit mit einer Ausstellung im Vitra Design Museum in Weil am Rhein gewürdigt wird. Die Designerin hat sich darauf spezialisiert, ihre Arbeiten aus Müll und anderen recycelten Werkstoffen herzustellen.
Archiv: Design

Bühne

"Exodos" von Sasha Waltz & Guests. Foto: Carolin Saage

In der Welt nimmt Manuel Brug Sasha Waltz' jüngste Choreografie "Exodus" zum Anlass, grundsätzlich zu werden. Denn im Gegensatz zu den positiven Kritiken vom Samstag (unser Resümee) sieht er bei Waltz vor allem Recyceltes. Von kreativem Glanz keine Spur: "Das ist pittoresk und dekorativ, doch aus den bekannten Schnittmustern kombiniert; zudem immer öfter gespeist aus ihren längst zur modischen Marke gewordenen Raumabtastungen in vorzugsweise spektakulär zu eröffnenden Kulturgebäuden. Sasha Waltz ist eine Marke geworden, sie klont und variiert sich, wirklich Neues sieht man nicht." Auch Tagesspiegel-Kritikerin Sandra Luzina hat sich von "Exodus" mehr erwartet.

Dorion Weickmann ärgert sich in der SZ, dass Frauen im Tanz - von Wuppertal über Trier bis Paris - zwar das Bühnengeschehen gestalten dürfen, aber nur dann Spitzenposten bekommen, wenn der Mann über ihnen damit einverstanden ist: "Getreu der Devise, die der Choreograf George Balanchine vor Jahrzehnten ausgab: 'Das Ballett ist eine rein weibliche Angelegenheit', nämlich 'ein Garten voller schöner Blumen, und der Mann ist der Gärtner'... Konflikte laufen auch im Tanz nicht selten nach stereotypen Mustern ab. Männer kalkulieren das Risiko und gehen zum Angriff über, sobald sie die Chance auf Durchsetzung ihrer Interessen wittern. Frauen setzen eher auf Diplomatie und Deeskalation und ziehen damit nicht selten den Kürzeren. So erging es offensichtlich nicht nur Adolphe Binder in Wuppertal, auch Aurélie Dupont scheint in Paris von den Ereignissen überrollt worden zu sein."

Weiteres: SZ-Kritikerin Christine Dössel trifft eine von den Salzburger Turbulenzen den nie ganz abgetretene Diva Edith Clever: "Innerlich unruhig, nach außen leuchtend. Schön auch mit ihren 77 Jahren."

Besprochen werden das fünfstündige Immersionsspektakel "Diamante" des argentinischen Regisseurs Mariano Pensotti in der Kraftzentrale eines alten Duisburger Stahlwerks (lang und anstrengend, aber durchweg spannend findet das Martin Kurmbholz in der SZ, Nachtkritik), Constanza Macras Choreografie "Chatsworth" beim Tanz im August (bei der die Zuschauer vor Lachen fast von den Stühen fielen, wie Sandra Luzina im Tagesspiegel versichert), die Performance "17c" des Big Dance Theater ebenfalls beim Tanz im August (Nachtkritik), Dariusch Yazdkhastis Inszenierung von Friedrich Schillers "Maria Stuart" zur Saisoneröffnung in Mainz (Nachtkritik).
Archiv: Bühne

Musik

Kirill Petrenko hat eines seiner raren Vorab-Konzerte mit den Berliner Philharmonikern gegeben, bevor er in einem Jahr endgültig auf die Position des Leiters wechselt. SZ-Kritikerin Julia Spinola freut sich nach diesem Vorgeschmack schon sehr auf Petrenkos Berliner Jahre: "Der Kontrast zu Simon Rattle könnte kaum größer sein." Petrenko "lässt all das sorgfältig Gedrechselte, Gemachte und Manierierte, das die Interpretationen Rattles zuletzt gelegentlich lähmen konnte, hinter sich und bestürmt die Musiker mit einer Lust an der Grenzüberschreitung und der Anarchie, die sie an ihre Grenzen treibt. ... Die explosive Mischung aus Akribie und Leidenschaft, die Petrenko auszeichnet, entfesselt sie an diesem Abend zu einem so rückhaltlosen, hoch emotionalen Spiel, wie man es von diesem hyperkontrollierten Ensemble schon lange nicht mehr kannte." Etwas reservierter klingt Frederik Hanssen im Tagesspiegel, dem Petrenko anfangs etwas arg "zuchtmeisterlich" vorkam.

Weitere Artikel: Für eine große SZ-Reportage ist Jonathan Fischer nach Kingston gereist, um dort der Geschichte des Reggae nachzuspüren und zu beobachten, wie Bob Marleys Erbe dort heute aufgegriffen und gewahrt wird. Jan Brachmann berichtet in der FAZ vom Festival "Raritäten der Klaviermusik" in Husum: Insbesondere mit dem Pianisten Antonio Pompa-Baldi sollten sich Freunde der Klaviermusik unbedingt näher befassen, schreibt er. Antonia Märzhäuser schreibt im Freitag über den neuen Song von Donald Glover alias Childish Gambino. Für Pitchfork hat Ian Cohen ein Album aus den 90ern der Emo-Band Cap'n Jazz wieder aus dem Regal gefischt. Marianne Zelger-Vogt schreibt in der NZZ einen Nachruf auf die Wagner- und Strauss-Interpretin Inge Borkh. Jan Feddersen (taz), Oliver Polak (Welt) und Edo Reents (FAZ) schreiben zum Tod von Dieter Thomas Heck.

Besprochen werden Tobias Lehmkuhls Nico-Biografie (taz) und Ebony Bones' Album "Nephilim", durch das sich laut FR-Kritiker Stefan Michalzik "eine lastende Atmosphäre des Unheils zieht". Davon lassen wir uns nicht abschrecken:

Archiv: Musik