Efeu - Die Kulturrundschau

Keinerlei Neigung zum System

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.03.2018. Die Leipziger Buchmesse ist zu Ende gegangen, die Feuilletons diskutieren, ob die rechten Verlage zu viel oder zu wenig Aufmerksamkeit erhielten. Außerdem trauern sie um den verstorbenen Autor Michael Rutschky. Der Merkur bringt ein Video-Gespräch mit ihm.  Eine kolossale Sprachsprengung erlebt die Nachtkritik mit Rainald Goetz' "Krieg"-Trilogie am Berliner Ensemble.  Der Tagesspiegel lauscht bei der MaerzMusik einem Schlitten im Schnee. Die Welt spürt in den Bildern des Malers Patrick Angus die soziale Kälte der schwulen Subkultur. 
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.03.2018 finden Sie hier

Literatur

Der Schriftsteller, Essayist und Fotograf Michael Rutschky ist tot - die Feuilletons tragen Trauer. Ihm verdanken wir den Begriff "Soziotop" erklärt Dirk Knipphals, der in der taz Rutschkys Merkur-Essays als "gedankenschnelle Stücke" lobt, "in denen sich eine Aufmerksamkeit für die Gegenwart mit einer immensen Belesenheit verband." Rutschky studierte zwar bei Adorno, verfiel später aber weder den K-Gruppen, noch der SPD, denn "für eine akademische wie für eine Laufbahn in der Politik ging Rutschky das Entscheidende ab: Er zeigte keinerlei Neigung zum System", betont Willi Winkler in der SZ.

Er war ein einzigartiger Netzwerker, der das intellektuelle und literarische Leben in Deutschland entscheidend geprägt habe, schreibt Harry Nutt in der Berliner Zeitung und würdigt ebenfalls Rutschkys Welt-Neugier. Doch zu den "Scharmützeln" der Gegenwart, in die sich "Großintellektuelle" zu stürzen pflegen, hielt Rutschky Distanz, erklärt Christian Schröder im Tagesspiegel: "Er war einfach ein leidenschaftlicher Beobachter des Zeitgeistes, besonders dann, wenn es ins Slaptickhafte verrutschte." Seine Disziplin war das "soziologisch fundierte Erzählen, das sich den 'Sensationen des Gewöhnlichen' widmete", hält Thomas Schmid in seinem Welt-Blog fest. "Wenn er überhaupt prahlte, dann allenfalls mit seinem unerschütterlichen Understatement." Zahlreiche weitere Reaktionen zum Tode Rutschkys finden sich auf Twitter.

Einen seiner letzten Auftritte hatte Michael Rutschky Ende vergangenen Jahres in der Videogesprächsreihe "Zweites Lesen" des Merkur. Mit Christian Demand und Ekkehard Knörer sprach er über Hans Magnus Enzensbergers 1958 veröffentlichten, aus Anlass des Gesprächs online frei zugänglich gestellten Text "Vergebliche Brandung der Ferne. Eine Theorie des Tourismus".



Die Leipziger Buchmesse ist zu Ende gegangen, die Feuilletons ziehen Bilanz. Im Mittelpunkt stehen die Stände dreier Kleinverleger, die sich dem rechten Spektrum zurechnen lassen und denen viel zu viel Aufmerksamkeit gewidmet wird, wie Gerrit Bartels im Tagesspiegel meint, nicht ohne freilich selbst den Verlagen damit Aufmerksamkeit zu widmen. Er ärgert sich über "zwar tapfere, aber nicht besonders effektive, vornehmlich der Opferstilisierung der Rechten dienende linke Protestaktionen" und wünscht sich für die Zukunft "mehr Coolness". Auch Gustav Seibt kommt in der SZ zu dem Schluss, dass der rechte Verleger Götz Kubitschek derzeit "ein Aufmerksamkeitskapital" bewirtschaftet, "das so gut wie ausschließlich aus der Frage stammt, wie man mit ihm umgehen solle, kaum hingegen aus der eigenen Produktion". Thekla Dannenberg schreibt im Blog Literary Field, dass von den rechten Verlage kaum intellektueller Schwung ausgehe. Sie hat nur alte Fliegergeneräle vom Krieg erzählen gehört. In der taz berichten Ulrich Gutmair und Marlene Gürgen von der Veranstaltung.

In der FAZ macht Tilman Spreckelsen seinen Kollegen indessen vor, wie man dem Krawallkalkül der Anti-Demokraten nicht auf den Leim geht: Unaufgeregt und sachlich resümiert er, was die Leipziger Buchmesse an ihren vier Tagen an Reizen jenseits kleiner Stände und vereinzelter Rangeleien noch zu bieten hatte.

Gregor Dotzauer hat für den Tagesspiegel derweil die Veranstaltungen des rumänischen Gastlandes besucht. "Während die Organisatoren über den Zuspruch des Publikums und der Medien mehr als zufrieden sind, schütteln die Politiker zu Hause desinteressiert oder verärgert den Kopf", erklärt er. "Sie hatten offenbar erwartet, als Speerspitze eines modernen Europa porträtiert zu werden und bekommen nun von ihren eigenen Schriftstellern ein sehr viel abgründigeres Bild zurückgespiegelt."

Weitere Artikel: Für die FR hat Arno Widmann ein episches Interview mit Roberto Saviano über dessen Mafia-Roman "Der Clan der Kinder" geführt. Paul Wrusch berichtet in der taz von LitCologne. Anlässlich des allgemeinen Laurence-Sterne-Gedenkens (siehe Efeu vom Samstag) hat sich Michael Maar für den Freitag zum Gespräch mit Sterne-Übersetzer Michael Walter getroffen.

Besprochen werden unter anderem Andreas Maiers "Die Universität" (Freitag), Mathieu Sapins Comic "Gérard" über die fünf Jahre, die er an der Seite von Gérard Depardieu verbracht hat (Tagesspiegel), Monika Marons "Munin oder Chaos im Kopf" (Freitag), Serhij Zhadans "Internat" (FR), Jan Weilers "Kühn hat Ärger" (FR), Ilinca Florians "Als wir das Lügen lernten" (Freitag), Gaito Gasdanows "Nächtliche Wege" (Freitag), weitere Neuveröffentlichungen, darunter Haruki Murakamis "Die Ermordung des Commendatore" (Freitag) und neue Hörbücher, darunter eine auf Stasi-Aufnahmen basierende Hörspiel-Collage von Andreas Ammer und FM Einheit (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Arne Rautenberg über Wenzel Hablils "Was ist das Glück?":

"? . . . . . . . . . . . . . . . ?
! . . . . . ? . . . . . . .? ! ! !
..."
Archiv: Literatur

Bühne


"Kolossale Sprachsprengung": Rainald Goetz' "Krieg" am Berliner Ensemble. Foto: Julian Röder

Konkurrenzlos findet Janis El Bira in der Nachtkritik das Berliner Ensemble, wo Robert Borgmann die erste Komplett-Inszenierung von Rainald Goetz' "Krieg"-Trilogie von 1986 auf die Bühne gebracht hat. Grandios sei auch, wie der Schauspieler Aljoscha Stadelmann "das uferlose Wesen des Goetz'schen Schreiben", ähem, herausarbeitet: "Aus seinem Mund purzeln die Stummelsätze, Floskeln und Behelfsvokabeln, denn Goetz' 'Krieg' ist eine kolossale Sprachsprengung. Tiefe Bombenkrater klaffen in diesem Text und drumherum flirren nervös die Zeichen: Revolution, Klassenkampf, deutscher Geist und deutsches Saufen, Heidegger, Stammheim und Stockhausen. Manchmal ballt sich alles zu einer Parole zusammen ('Politische Macht kommt aus dem Lauf der Gewehre'), dann wieder schlingert die Sprache zwischen Trinksprüchen und ratternden Repetitionen. Der junge Rainald Goetz, auch das macht dieser Abend greifbar, stand mitunter auf kuriose Weise ebenso nah bei Konrad Bayer wie bei Thomas Bernhard oder Heiner Müller."

Weiteres: Der Tagesspiegel bringt Thomas Oberenders Laudatio auf die bewundernswerte Sophie Rois, die am Samstag den Gertrud-Eysoldt-Ring erhielt: "Nie, so fühle ich das selbst, würde man Sophie Rois mit einem Hänger hilflos in der Szene verenden sehen. Sie wüsste sich immer zu retten. Notfalls fragt sie laut die Souffleuse." In der FAZ zeigt sich Wiebke Hüster nur noch genervt vom kritischen Minderheiten-Sprech der Tanzplattform in Deutschland".

Besprochen werden Oliver Frljic' AfD-Stück "Gorki, Alternative für Deutschland?" am Berliner Gorki Theater (das Peter Laudenbach in der SZ "noch in der Geste der Selbstkritik narzisstisch" findet), Karin Henkels Abend "Rom" nach Shakespeare und John von Düffel am Deutschen Theater in Berlin ("durchweg spannend, unterhaltsam und irritierend", meint Katrin Bettina Müller in der taz, in der FAZ nennt ihn Simon Strauß einen "absoluten Reinfall"), Katie Mitchells Inszenierung von Martin Crimps Well Made Play "Schlafende Männer" am Hamburger Schauspielhaus (Nachtkritik), Sebastian Baumgartens "Caligula" in Düsseldorf (Nachtkritik), Tracy Letts "Mary Page Marlowe - eine Frau" in Basel (NZZ, FAZ), Susanne Kennedys poppige Theatermesse "Die Selbstmord-Schwestern" an der Volksbühne (Tagesspiegel), Dürrenmatts "Besuch der alten Dame" als Oper von Gottfried von Einem am Theater an der Wien (Standard, FAZ), Stephan Suschkes Heiner-Müller-Inszenierung "Anatomie Titus" in Linz (Standard).
Archiv: Bühne

Kunst



Patrick Angus: "Boys Do Fall in Love". Kunstmuseum Stuttgart

In der Welt feiert Tilman Krause die "Private Show", die das Kunstmuseum Stuttgart dem Maler Patrick Angus widmet, der erstmals die schwule Subkultur zum Gegenstand der klassischen Malerei gemacht hat, ohne sie - wie etwa David Hockney oder Tom of Finland - zu verklären: "Das wollte Patrick Angus dezidiert nicht. Er wollte 'aufrichtige Bilder' malen. Natürlich auch solche von glücklichen intimen Momenten. Aber doch auch andere, die von der Last mit der Lust erzählen. Von der sozialen Kälte, die in der Szene herrschte. Von den vielen Ausgeschlossenen, die nicht über die körperlichen Vorzüge verfügten, die sie zu Objekten der Begierde hätten machen können."
Archiv: Kunst

Film

Dominik Kamalzadeh und Michael Pekler resümieren im Standard die Diagonale in Graz, bei der Christian Froschs Spielfilm "Murer - Anatomie eines Prozesses" und Nikolaus Geyrhalters Dokumentarfilm "Die bauliche Maßnahme" ausgezeichnet wurden. Die beiden Kritiker sprechen von einem "politisch hellhörigen Festival": "Die Frage, wie heimische Filmschaffende auf die Herausforderung einer zunehmend polarisierten Gesellschaft reagieren, stand öfters im Raum."

Besprochen werden der vom ZDF online gestellte Mehrteiler "Ku'damm 59" (FR, FAZ) und die Netflix-Serie "Luke Cage" (Freitag).

Archiv: Film

Musik

Die Berliner MaerzMusik ist auch in diesem Jahr mit Arbeiten des Komponisten Julius Eastman eröffnet worden, berichtet Udo Badelt im Tagesspiegel. Die Interpretationen des Ensembles Apartment House boten einen "Trip ins Reich schillernder Klangfarbenreibungen", erfahren wir. "Als 'Femenine' beginnt, kommen Schellengeräusche vom Synthesizer hinzu, wie sie ein Schlitten im Schnee macht; auf ihrer Basis wiederholt Perkussionist Simon Limbrick die immergleiche Motivfolge am Vibrafon. Pulsierende, hypnotische Musik, bei der die Intervalle schließlich ins Tanzen geraten, aus der Eastman ganze Klangkathedralen errichtet." Hier eine Pitchfork-Besprechung einer Aufnahme der Komposition und im folgenden eine Aufführung in Moskau durch das Kymatic Ensemble:



Weitere Artikel: Karl Fluch schreibt im Standard über die Alltagspoesien des österreichischen Musikers Ludwig Hirsch. Michael Sontheimer erinnert in der Berliner Zeitung an das Rolling-Stones-Konzert 1965 in der Berliner Waldbühne, das in Tumulten endete. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Matthias Hannemann über "Don't Go" von den Hothouse Flowers:



Besprochen werden der Auftakt des Luzerner Osterfestivals mit mit der Sopranistin Julia Lezhneva und La Voce Strumentale unter Dmitry Sinkovsky (NZZ), eine Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste über Freejazz im Westen und dissidente Musik im Ostblock (Berliner Zeitung, mehr dazu im Efeu vom letzten Samstag), ein Konzert des London Philharmonic Orchestras mit Daniil Trifonov (FR), ein Auftritt des Genter B'Rock Orchestras (FR), ein Konzert von Rolando Villazón (NZZ), ein Konzert von Feine Sahne Fischfilet (Tagesspiegel) und die Wiederveröffentlichung von Tim Maias brasilianischem Soul-Album "Disco Club" aus dem Jahr 1978, über die sich taz-Kritiker Ole Schulz sehr freut. Sehr nachvollziehbar, angesichts dieses tollen Soundtracks zu einem kalten Montag-Morgen:


Archiv: Musik